Am ausgestreckten Arm … Die Bundesregierung und der Nicht-Zuschlag für Menschen in der Grundsicherung. Die bleiben beim Sozialschutz-Paket II weiter außen vor

Es ist in diesen Wochen wirklich nicht einfach für die Politik. Auf der einen Seite hat sie – das muss man auch mal sagen – am Anfang der Corona-Krise wirklich schnell Hilfsmaßnahmen auf den Weg gebracht, gigantische Rettungsprogramme aufgelegt und die Ausrichtung des Gesundheitswesens, vor allem der Krankenhäuser, auf eine erwartete Vielzahl an COVID-19-Patienten auch finanziell zu stützen versucht innerhalb eines auf betriebswirtschaftliche Effizienz getrimmten und für solche Sondersituationen nun überhaupt nicht geeigneten Fallpauschalensystems. Und wo man der Schnelligkeit halber große Schneisen in den Wald schlägt, da kann es nicht ausbleiben, dass es zahlreiche umbeackerte Teile gibt und einige hinten runtergefallen sind. Die sich dann natürlich zu Wort melden und auch gerettet oder wenigstens ein wenig aufgefangen werden möchten. Und auch viele von denen, die durchaus ein paar Monate durchhalten können, wollen an die große Wassertränke der staatlichen Mittel.

Mein derzeitiges Prachtstück aus der Kuriositätenkammer der Subventionssuchenden ist das deutsche Bestattungswesen: »Auch die deutschen Sarghersteller fordern Geld vom Staat«, kann man dieser Meldung entnehmen: Deutsches Bestattungsgewerbe fordert Staatshilfe. Hoppla, wird da selbst der gutmütigste Rettungsapostel ausrufen: Gestorben wird immer, die Zahl der Todesfälle geht doch nicht wegen Corona zurück, eher das Gegenteil wird immer wieder behauptet (vgl. für die Zahlenfetischisten dazu die vom Statistischen Bundesamt zur Verfügung gestellte und laufend aktualisierte Sonderauswertung zu Sterbefallzahlen des Jahres 2020). So ist das. Aber die Meldung klärt uns sogleich auf über die Intentionen der Bestatter: »Ihr Geschäft leidet zwar gar nicht unter der Coronakrise – aber sie ärgert der lästige Wettbewerb mit Firmen aus Osteuropa.«

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Den Finnen geht beim (angeblichen) „Experiment“ zum „bedingungslosen Grundeinkommen“ (vorsätzlich) die Puste aus und in Deutschland wird dem ganzen Ansatz ein „Sozialstaat 4.0“ entgegengestellt

In diesen Tagen wird man im Kontext der merkwürdigen Debatte über eine „Abschaffung von Hartz IV“ (vgl. dazu beispielsweise Die abgehobene und letztendlich verlogene Hartz IV-Debatte vom 8. April 2018) immer wieder auf die Vision eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ angesprochen, mit dem man dann doch das bestehende Grundsicherungssystem ablösen könne. Unabhängig von der eigenen Positionierung bei der Frage, wie man zu der grundsätzlichen Idee bis hin zu einer möglichen (?) Umsetzung steht, wurde man gleichzeitig mit solchen Meldungen konfrontiert: Finnland stellt bedingungsloses Grundeinkommen für Arbeitslose ein: »Fans des bedingungslosen Grundeinkommens hatten große Hoffnung in den Versuch gesetzt. Doch nun lässt die Regierung das Experiment auslaufen«, berichtet Jakob Schulz in seinem Artikel. Der Beitrag bezieht sich sich auf diese Meldung aus dem britischen „Guardian“: Finland to end basic income trial after two years: »Government rejects request for funds to expand scheme and plans stricter benefits rules.« Nun wird der eine oder andere schon an dieser Stelle die Stirn runzeln und sich fragen – „stricter benefits rules“? Was hat das noch mit der Bedingungslosigkeit beim Grundeinkommen zu tun, die ja der entscheidende Unterschied ist zu allen anderen heute dominierenden Formen einer eben nicht-bedingungslosen Absicherung? 

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Mal keine Obergrenzen – oder doch? Die Ambivalenz der Diskussion über Personaluntergrenzen für die Pflegekräfte in Krankenhäusern

Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hatte am 1.10.2015 in Berlin die Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ einberufen. Die Experten aus den Koalitionsfraktionen und den Bundesländern sollten sich mit der Frage einer sachgerechten Berücksichtigung des Pflegebedarfs im Vergütungssystem der Krankenhäuser befassen, so die Ankündigung des Ministeriums im Jahr 2015.

Die Kommission sollte »prüfen, ob im DRG-System oder über ausdifferenzierte Zusatzentgelte ein erhöhter Pflegebedarf von demenzerkrankten, pflegebedürftigen oder behinderten Patientinnen und Patienten und der allgemeine Pflegebedarf in Krankenhäusern sachgerecht abgebildet werden. Abhängig vom Prüfergebnis sollen Vorschläge unterbreitet werden, wie die sachgerechte Abbildung von Pflegebedarf im DRG-System oder über ausdifferenzierte Zusatzentgelte erfolgen kann. Zudem wird sich die Kommission der Frage widmen, auf welche Weise die tatsächliche Verwendung der nach Ablauf des Pflegestellen-Förderprogramms zur Verfügung gestellten Finanzmittel für die Finanzierung von Pflegepersonal sichergestellt werden kann.« So die Mitteilung Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ des Bundesgesundheitsministeriums vom 1. Oktober 2015.
Und am 7. März 2017 wurde dann seitens des Ministeriums darüber informiert: Stärkung der Pflege im Krankenhaus. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, Koalitionsfraktionen und Länder verständigen sich auf die Einführung von Personaluntergrenzen: »In Krankenhausbereichen, in denen dies aus Gründen der Patientensicherheit besonders notwendig ist, sollen künftig Pflegepersonaluntergrenzen festgelegt werden, die nicht unterschritten werden dürfen« – wie beispielsweise auf Intensivstationen oder im Nachtdienst.
Der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle vielleicht etwas irritiert zur Kenntnis nehmen müssen, dass eine Expertenkommission eingesetzt wurde, die sich mit der Finanzierung der Pflege innerhalb des bestehenden Vergütungssystems für die Krankenhäuser auseinandersetzen sollte – und herausgekommen ist u.a. die Forderung nach Pflegepersonaluntergrenzen. Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Die Kommission hat argumentiert, Pflegepersonaluntergrenzen seien notwendig, um den allgemeinen Pflegebedarf überhaupt abbilden zu können.

Die Vorschläge der Expertenkommission (vgl. dazu im Original: Schlussfolgerungen
aus den Beratungen der Expertinnen- und Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ vom 7. März 2017) wurden im April 2017 von der Bundesregierung in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) unter Beteiligung der Privaten Krankenversicherung (PKV) wurden damit beauftragt, Personaluntergrenzen in sogenannten pflegesensitiven Bereichen verbindlich festzulegen. Hierbei werden Intensivstationen sowie die Besetzung des Nachtdienstes mit einbezogen. Die konkreten Regelungen, die auf Empfehlungen einer Expertenkommission zurückgehen, sollen bis zum 30. Juni 2018 vereinbart und zum 1. Januar 2019 umgesetzt werden.

Das war schon auf den Weg gebracht – und dann kam die Bundestagswahl 2017 und der sich hinziehende Findungsprozess der neuen (alten) Koalition. Und im Koalitionsvertrag 2018 zwischen CDU/CSU und SPD tauchen dann hinsichtlich der hier interessierenden Thematik interessante Erweiterungen dessen, was schon im vergangenen Jahren auf den Weg gebracht wurde, auf. Die beiden zentralen Absichtserklärungen lauten:

»Den Auftrag an Kassen und Krankenhäuser, Personaluntergrenzen für pflegeintensive Bereiche festzulegen, werden wir dergestalt erweitern, dass in Krankenhäusern derartige Untergrenzen nicht nur für pflegeintensive Bereiche, sondern für alle bettenführenden Abteilungen eingeführt werden.«

»Künftig sollen Pflegepersonalkosten besser und unabhängig von Fallpauschalen vergütet werden. Die Krankenhausvergütung wird auf eine Kombination von Fallpauschalen und einer Pflegepersonalkostenvergütung umgestellt. Die Pflegepersonalkostenvergütung berücksichtigt die Aufwendungen für den krankenhausindividuellen Pflegepersonalbedarf. Die DRG-Berechnungen werden um die Pflegepersonalkosten bereinigt.«

 Hinsichtlich der ursprünglichen Festlegung auf die Aushandlung von Pflegepersonaluntergrenzen für „pflegesensitive“ Bereiche (und das übrigens hier nur als pikante Fußnote: ausschließlich von den Kostenträgern, also den Krankenversicherungen, gemeinsam mit den Krankenhäusern) ist nun also eine Generalisierung des Ansatzes auf alle „bettanführenden“ Abteilungen vorgesehen.
Das ist eine nur konsequente Erweiterung des ursprünglichen Ansatzes, denn die Kommission hatte ja damit argumentiert, man brauche solche Personaluntergrenzen, um den „allgemeinen Pflegebedarf“ abbilden zu können – nur dann hätte man die Fragwürdigkeit der dann vorgenommenen Begrenzung auf „pflegesensitive“ Bereiche in den Krankenhäusern erkennen und gleich so vorgehen müssen, denn auch die anderen Bereiche sind pflegesensitiv und unabhängig davon hat selbst die Kommission gesehen, auf welches dünnes Eis sie sich begibt, wenn sie verbindliche Personaluntergrenzen nur für einige ausgewählte Bereiche fordert.

Denn in den Schlussfolgerungen der Kommission vom 7. März 2017 findet man diesen Passus:

»Bei der Vereinbarung der Personaluntergrenzen ist dafür Sorge zu tragen, dass Substitutionseffekte vermieden werden; Übergangsvorschriften sowie etwaige zwingend gebotene Ausnahmevorschriften können berücksichtigt werden. Die Krankenhäuser weisen ihre Pflegepersonalausstattung durch Bestätigung eines Wirtschaftsprüfers nach. Die Personaluntergrenzen sind mit angemessenen Sanktionen für den Fall zu verbinden, dass ein Krankenhaus die vorgegebenen Personaluntergrenzen nicht einhält. Dazu gehören hausbezogene finanzielle Abschläge … .«

Was hier mit „Substitutionseffekten“ umschrieben wird, meint nichts anderes, als dass die Kliniken hingehen, und die Einhaltung der Untergrenzen in den „pflegeintensiven“ Bereichen durch eine Reduzierung bei den anderen, nicht entsprechend regulierten Bereichen zu kompensieren versuchen. Eine mehr als naheliegende Managementstrategie.

Vor diesem Hintergrund und unabhängig von anderen durchaus wichtigen Kritikpunkten an dem ganzen Ansatz ist also die Formulierung im Koalitionsvertrag nur folgerichtig.

Und vor diesem Hintergrund muss man dann so eine alarmistische Meldung zur Kenntnis nehmen: Empörung über Scheinlösung. ver.di kritisiert unzureichende Lösung bei Pflegeuntergrenzen. In diesem Artikel wird über eine öffentliche Anhörung der Gewerkschaft berichtet:
»Seit Monaten verhandeln die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) im Auftrag der Bundesregierung über Untergrenzen für sogenannte pflegesensitive Bereiche der Krankenhäuser. »Aber was genau verhandeln DKG und GKV eigentlich? Das wissen nur sehr wenige Menschen«, so die Leiterin des ver.di-Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen«, Sylvia Bühler.

Die in der Überschrift des Artikels erwähnte Empörung wird verständlicher, wenn man sich die Ausführungen von Georg Baum, seines Zeichens Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) anschaut:

»Laut Baum sollen für lediglich sechs Bereiche Personaluntergrenzen festgelegt werden. DKG und GKV seien darin übereingekommen, dass ein Drittel der Mindestbesetzung aus Hilfskräften statt aus examinierten Pflegekräften bestehen könne. Die Krankenhausträger wollen zudem, dass die Mindestbesetzung nicht in jeder Schicht, sondern nur im Durchschnitt eines Quartals eingehalten werden müssen und Kliniken erst dann Sanktionen zu befürchten haben, wenn die Vorgaben drei Jahre in Folge nicht eingehalten werden.«

Das wäre aus Sicht der Arbeitgeber (und der Kostenträger) sicher verständlich – aus fachlicher Sicht hingegen ein übler Witz. Der Präsident der rheinland-pfälzischen Landespflegekammer, Markus Mai, bezeichnete die Ankündigungen zutreffend als „groben Unfug“ und „Bankrotterklärung“.

Und man sollte diese Darstellung der Verständigung zwischen Kostenträgern und Arbeitgebern auch mitnehmen in das neue koalitionsvertragsbedingte Setting einer Ausweitung des Auftrags, Pflegepersonaluntergrenzen für alle bettanführenden Abteilungen zu definieren. Denn diese Zielvorstellung würde sich sicher nicht verändern.

Auch Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerats (DPR), äußerte sich „irritiert“ über die Ausführungen der Krankenhausseite, wies aber mit Blick auf den Koalitionsvertrag darauf hin, dass die Diskussion im Grunde bereits von der Politik überholt worden ist. Zwischenzeitlich hat der Spitzenverband der GKV mit Nachruck zurückgewiesen, dass es eine Einigung mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft geben würde, kann man diesem Artikel entnehmen: Personaluntergrenzen in der Pflege: Viel Aufregung um unabgestimmtes Konzept. Aber offensichtlich zeichnet sich etwas ab, was Kritiker schon vorhergesagt haben. Experten für mehr Pflegepersonal, so ist eine Meldung des Parlaments über eine Anhörung im Gesundheitsausschuss am 17.05.2017 überschrieben. Und dort findet man diesen Hinweis: »Der Einzelsachverständige Michael Simon von der Hochschule in Hannover monierte in seiner schriftlichen Stellungnahme, einige Vorschriften seien ungenau formuliert, was zu Fehlsteuerungen führen könnte. So müsse der Begriff Pflegepersonaluntergrenzen eindeutiger definiert werden. Es sei zudem wichtig, die Personalvorgaben pro Schicht zu benennen. Ferner müsse verhindert werden, dass in hohem Maß oder sogar überwiegend Pflegehilfskräfte herangezogen werden, also solche mit niedrigerer Qualifikation.«

Man wird also weiter abwarten müssen, was der Gang der Dinge bringen wird. Unabhängig von der Folgerichtigkeit, den Auftrag der Festlegung von Personaluntergrenzen auf alle Pflegebereiche auszuweiten, bleibt ein „schlechtes Gefühl“, ein „schaler Beigeschmack“ bei dem an sich und auf den ersten Blick vernünftig daherkommenden Anliegen, eine Untergrenze für Pflegepersonal festzuzurren. Denn das kann einer diese gut gemeinten Schüsse sein, die nach hinten losgehen. Gleichsam eine Art „friendly fire“, unter dass die Pflege gesetzt wird. Dazu bereits mein Beitrag vom 18. Mai 2017: Pflegekräfte ziemlich allein gelassen. In der Krankenhaus-Realität und im internationalen Vergleich:

»Um bei allen Argumenten für Personaluntergrenzen gleich Wasser in den Wein zu gießen:  Es besteht die Gefahr, dass viele Krankenhäuser die Kennzahlen nicht als Unter-, sondern als Obergrenze verstehen.«

Man denke hier nur an die empirisch beobachtbaren Effekte einer Orientierung auf die Untergrenze beim Thema gesetzlicher Mindestlohn.

Wenn, dann bräuchte man nicht Mindestpersonalschlüssel, sondern Personalschlüssel einer guten pflegerischen Praxis und die müssten ermöglicht werden.

Und abschließend der Schwenk zu der zweiten Komponente im Koalitionsvertrag, die bei Krankenhausmanagern noch mehr Unruhe ausgelöst hat als die Ausweitung der Personaluntergrenzen für die Pflege – die Infragestellung des gesamten bisherigen Vergütungssystems in der Krankenhauslandschaft auf der Basis von Fallpauschalen, die auf Diagnosen und Prozeduren basieren, nicht aber auf der Frage, mit welchem Personal und vor allem in welchem Mischungsverhältnis man die Arbeit erledigt: Pflegepersonalkosten sollen besser und unabhängig von Fallpauschalen vergütet werden. Die Krankenhausvergütung wird auf eine Kombination von Fallpauschalen und einer Pflegepersonalkostenvergütung umgestellt. Das ist bzw. wäre ein echter Hammer. Denn es würde das Geschäft einer durchökonomisierten Krankenhauslandschaft erheblich erschweren.

Um das nachzuvollziehen, sei an dieser Stelle nur auf zwei Beispiele aus dem heutigen Alltag in einem fallpauschalierenden System hingeweisen.

In dem bereits zitierten Artikel über die öffentliche Anhörung der Gewerkschaft ver.di zu den geplanten Personaluntergrenzen findet man diesen Passus:

Selbst jetzt in der Grippezeit, wenn etliche Kolleg/innen krankheitsbedingt ausfallen, würden planbare Operationen nicht verschoben, berichtete Christine Lachner vom Urban-Krankenhaus in Berlin. »Denn im System der Fallpauschalen müssen die Kliniken Geld verdienen und das heißt: möglichst viele OPs.« Das könnten nur verbindliche, schichtbezogene Vorgaben verhindern, ist die Krankenpflegerin überzeugt. Sie verwies darauf, dass nicht nur in der Pflege Personal fehlt. »Früher hatten wir auf der Intensivstation zwei Reinigungskräfte im Frühdienst und eine im Spätdienst – heute kommt eine für sechs Stunden. Wir hatten auch mal einen Physiotherapeuten. Jetzt ist mal einer für zwei Stunden da, wenn man Glück hat.«

Was man in diesem Zitat erkennen kann neben der Anklage die Arbeitsbedingungen betreffend ist der Kern der betriebswirtschaftlichen Zwangsläufigkeit in einem Krankenhaus unter den Bedingungen der Fallpauschalierung: Man muss sich fokussieren auf die Erlösquellen – und das sind beispielsweise Operationen, die eine Menge Geld bringen können, wenn man sie effizient abwickeln kann. Und wenn man bei bestimmten Leistungen in die Menge gehen kann, weil deren Deckungsbeiträge um ein Vielfaches größer sind als bei seltenen oder nur sporadisch auftauchenden Maßnahmen.

Man kann die hier angedeutet Ökonomisierungseffekte eines Vergütungssystems auch wesentlich konkreter illustrieren – vgl. dazu als ein Beispiel von vielen den Beitrag Herzkatheter: Gier am Aortenbogen: »Um ein neues Herzkatheter-Labor rechtfertigen zu können, sollte der Herzkathetertisch möglichst oft belegt sein. In einer Klinik in NRW gefährden Ärzte deshalb Patienten mit kardiologischen Untersuchungen weit abseits der Leitlinien.« Der Artikel basiert auf den Aussagen eines Arztes aus der hier beispielhaft examinierten Klinik in Nordrhein-Westfalen:

„Fielen Schlagwörter wie Thoraxschmerzen oder Angina pectoris, hat es keine 24 Stunden gedauert, bis ein Patient für mich ohne Indikation auf dem Herzkathetertisch lag“ … Linksherzkatheter-Untersuchungen seien auf der Tagesordnung gewesen, selbst bei Patienten zwischen Ende 80 und Anfang 90 mit augenscheinlich leichten Beschwerden …  „Bislang gab es im Haus zwei Herzkatheter-Labore. Das große Ziel vom Chef war ein drittes Labor.“ Ohne entsprechende Zahlen spiele die Verwaltung nicht mit. „Um Quoten zu erfüllen, wurden Indikationen deshalb sehr großzügig gestellt.“ … „Ich habe öfter erlebt, dass Patienten im hohen Alter katheterisiert wurden, sich ein bypasspflichtiger Befund ergab und sie dann zur OP geschickt wurden“, berichtet der Arzt. „Bei Freunden oder Bekannten hätten wir das nie zugelassen.“ Fendt weiter: „Wir haben erfahren, dass es Verträge oder zumindest Absprachen zwischen Kliniken gibt, dass pro Quartal eine gewisse Zahl an Patienten zur Bypass-OP vorbeigeschickt wurden.“ Denn sein Haus habe keine eigene Herzchirurgie.«

Und der Arzt, der hier die Journalisten mit Infos versorgt hat, geht auch explizit auf die innere Logik der Fallpauschalen ein:

„Viele Krankenhäuser haben heute Programme mit einem symbolhaften Ampelsystem.“ Liegt der Patient zu kurz, warnt eine rote Farbe vor frühzeitigen Entlassungen. Möchte er aber noch eine Nacht bleiben, weil seine Angehörigen ihn vielleicht erst nach dem Wochenende abholen, warnt das System ebenfalls, dass die Klinik so ein Minus macht. „In der Kardiologie hat unser Chefarzt jeden Morgen alle Daten durchgeklickt und teilweise Patienten hinausgeworfen. Sie kamen dann nach ein paar Tagen wieder, weil sie alleine nicht zurechtgekommen sind.“

Nun kann man das als eine Einzelmeinung und damit übertrieben und nicht relevant abtun, einer dieser bedauerlichen Einzelfälle eben. Dann sei auf diesen Beitrag verwiesen, der das Gegenteil beweist oder plausibel macht: Öko­nomi­sierung patientenbezogener Entscheidungen im Krankenhaus. Eine qualitative Studie zu den Wahrnehmungen von Ärzten und Geschäftsführern, so ist der Artikel von Karl-Heinz Wehkamp und Heinz Naegler:

»Krankenhäuser müssen zur Sicherung ihrer Existenz Gewinne erwirtschaften. Der Anstieg der Fallzahlen und des Case-Mix-Indexes lassen vermuten, dass Aufnahme, Behandlung und Entlassung von Patienten nicht allein von medizinischen, sondern – um Gewinne erwirtschaften zu können – auch von wirtschaftlichen Gesichtspunkten beeinflusst, das heißt ökonomisiert, werden. Die vorliegende Studie untersucht, ob Ärzte und Geschäftsführer eine solche Entwicklung im beruflichen Alltag auch beobachten.«

Aus den Befunden der Studie kann und muss man mitnehmen: »Geschäftsführer verwiesen auf die erforderliche Gewinnorientierung und betonten, dass sie den gesetzlichen Vorgaben entsprechend keinen direkten Einfluss auf ärztliche Entscheidungen nähmen, jedoch mittelbar das Handeln des Arztes beeinflusst werden könne. Ärzte berichteten von dem wachsenden Druck, betriebswirtschaftliche Interessen bei patientenbezogenen Entscheidungen zu berücksichtigen, was zu Unter-, Über- und Fehlversorgung der Patienten, aber auch zu ethischen Konflikten, Stresssituationen und Frustration führe.«

Wozu das dann wieder vor Ort und im Alltag der Betroffenen führt, kann man beispielsweise diesem, Artikel entnehmen: „Insgesamt ethisch nicht mehr tragbar“: »Ein saarländischer Krankenhaus-Arzt schildert den Alltag auf den Stationen – und klagt über Pflegenotstand und Bürokratie-Wahn.« Daraus dieses Zitat:

Wenn Markus Hardt das deutsche Gesundheitswesen des Jahres 2018 in einem Bild darstellen müsste, dann sähe es so aus: „Am Rand stehen Patienten, Pflegekraft und Arzt, umringt von zahlreichen Kontrolleuren, EDV-Kräften, Codierern, Case-Managern, Qualitätsbeauftragten und so weiter, die alle zunehmend Ansprüche stellen und die Zeit für das Patientenwohl rauben.“

Und das hat seine Ursachen – und die liegen nicht nur, aber eben auch in dem bestehenden Vergütungssystem für die Krankenhäuser:

»Das Gesundheitssystem, so sieht es Hardt, wurde den Gesetzen der freien Wirtschaft unterworfen – mit planwirtschaftlichen Elementen. „Der Patient und seine Krankheiten wurden zur Ware und einem Wirtschaftsfaktor“, so Hardt. „Das Gesundheitssystem sollte aber immer billiger werden, gleiche Leistungen wurden immer geringer bezahlt. Beim Personal, das meist direkt am Menschen arbeitet und bis zu 70 Prozent der Gesamtkosten ausmacht, wurde zuerst gespart. Das war sicher der falsche Weg.“

Ohne dass mehr Personal zur Verfügung stehe, sei ein „zeitraubendes Finanzierungssystem“ samt Kontrollen und Qualitätsdokumentationen aufgebaut worden. Der Mediziner spricht von „teils menschenverachtend wirkenden Anfragen, von sich verselbständigenden Prüfungsroutinen“. Entscheidungen fielen an irgendwelchen Schreibtischen, ohne Rücksicht auf die individuellen Erfordernisse des einzelnen Patienten. „Der Formalismus ist plötzlich entscheidend.“ … Er bekräftigt, dass es einen „Notstand“ in der Pflege gibt. Weil beim System der Fallpauschalen die Schraube jedes Jahr enger gezogen werde, bleibe den Kliniken gar nichts anderes übrig, als immer mehr Patienten zu behandeln. Das sei eine enorme Belastung für das Personal. „Ich habe das gleiche Personal, aber viel höhere Fallzahlen – das kann nicht gutgehen.“«

Aber man sollte sich unvoreingenommen die innere Logik dieses Systems vor Augen führen: Investitionen lohnen sich vor allem in die Bereiche und dann die Personen, in und über die man die besten Erlöse im bestehenden Vergütungssystem realisieren kann. Und dass sind bezogen auf die Personen eben nicht die Pflegekräfte, sondern die Ärzte – deshalb auch die Expansion der Ärztebeschäftigung in den Kliniken, wenn auch das nur ein Grund unter mehreren ist (so spielen beispielsweise auch arbeitszeitgesetzliche Änderungen eine Rolle).

Hier nun sehen wir die unangenehme Ambivalenz des Themas Pflegepersonaluntergrenzen: Auf der einen Seite sind sie notwendig, um die die im System begründete strategische Benachteiligung der Profession Pflege zu verhindern und – im idealen Fall – eine halbwegs erträgliche Mindestbesetzung abzusichern. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass im Alltag dann die Unter- zu Obergrenzen werden und sich die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte dadurch nicht wirklich verbessern lassen.

Unabhängig davon ist die Ankündigung der neuen Großen Koalition, die Pflege aus dem bisherigen Fallpauschalensystem herauszunehmen, von gleichsam revolutionärer Dimension. Und die bereitet vielen Krankenhausmanagern eine Menge Kopfzerbrechen. Aber sie haben durchaus Verbündete. Vor wenigen Tagen fand das 17. Nationale DRG-Forum statt. Dort tauchten auch die beiden wichtigsten CDU-Gesundheitspolitiker auf – der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Erwin Rüddel, der Vorsitzende im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages. Und die brachten den gestressten Managern zumindest ein wenig Hoffnung mit, wie man diesem Artikel entnehmen kann: CDU uneins über Zukunft der Fallpauschalen:

Spahn hatte sich zum System der Fallpauschalen bekannt und gesagt, es sei ein schwieriger „Spagat“, die Pflege gesondert zu finanzieren und zugleich die Krankenhäuser nicht aus ihrer betriebswirtschaftlichen Leistung zu entlassen. Rüddel hatte gesagt: „Das, was im Koalitionsvertrag steht, wird nicht immer eins zu eins umgesetzt.“

Den Hinweis von Rüddel sollte man durchaus als das verstehen, was es ist – eine Beruhigungspille und zugleich die Ankündigung, dass man in dem anstehenden parlamentarischen Prozess eine Menge aufhalten, verzögern und letztendlich auch verändern kann.

Und zum Schluss eine trockene Zahl, die zugleich die Größenordnung verdeutlichen kann, um die es hier geht: Die AOK beziffert die Mittel für die Pflege im DRG-System auf 18 Milliarden Euro. Das nun sind wahrlich keine Peanuts.