Solche und andere Rentner. Zur partikularen Privilegierung der kapitalgedeckten Altersvorsorge in der Grundsicherung und den damit verbundenen offenen Fragen

Nein, es soll hier gar nicht um das in den letzten parlamentarischen Zügen der großen Koalition verabschiedete Betriebsrentenstärkungsgesetz insgesamt gehen – vgl. dazu bereits den Beitrag Die halbierte Betriebsrentenreform, eine „kommunikative Herausforderung“ gegenüber den Arbeitnehmern und das von vielen totgesagte Pferd Riester wird erneut gedopt vom 3. Juni 2017. Und es soll also hier auch gar nicht erneut hervorgehoben werden, dass diese „Reform“ wieder einmal eine ist, die vor allem den Versicherungsunternehmen und den Betrieben hilft, weiterhin „Betriebsrenten“ zu verkaufen, die gar keine sind, weil sie auf dem Weg der Entgeltumwandlung von den Arbeitnehmern selbst finanziert werden (müssen).

Nein, in diesem Beitrag soll es um einen scheinbaren Nebenaspekt der gesetzgeberischen Änderungen gehen, der allerdings bei genauerem Hinschauen einige systematische Grundsatzfragen aufwirft. Denn im Kontext des Betriebsrentenstärkungsgesetzes wurde auch das SGB XII hinsichtlich der Grundsicherung für Ältere geändert. Dazu schreibt Johannes Steffen in seiner Übersicht über das neuen Gesetz: »Bei der Hilfe zum Lebensunterhalt sowie der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist ein Betrag von 100 Euro monatlich aus einer zusätzlichen Altersvorsorge zuzüglich 30 vom Hundert des diesen Betrag übersteigenden Einkommens aus einer zusätzlichen Altersvorsorge abzusetzen, höchstens jedoch 50 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 (2017: 204,50 Euro). Zur zusätzlichen Altersvorsorge rechnen bis zum Lebensende und ohne Kapitalwahlrecht monatlich zu zahlende bAV-, private Riester- oder Rürup-Renten unabhängig von einer etwaigen staatlichen Förderung sowie Rentenbeträge, die aus Zeiten einer freiwilligen Versicherung oder einer Versicherungspflicht auf Antrag in der GRV resultieren.« Alles klar?

Man hat also einen neuen Einkommensfreibetrag in das SGB XII eingeführt. Und der ist wahrlich nicht unproblematisch. Der Grundgedanke ist simpel: Wer über eine betriebliche Altersvorsorge oder privat beispielsweise über eine Riester-Rente vorgesorgt hat, der soll im Alter, wenn die gesetzliche Rente unter dem Grundsicherungsbedarf liegt und bei Inanspruchnahme der Leistungen aus dem SGB XII alle anderen Einkommen angerechnet werden (müssen), dahingehend besser gestellt werden, dass 100 bis derzeit 204,50 Euro aus dieser Quelle nicht angerechnet werden.

Astrid Wallrabenstein hat eine Professur für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Sozialrecht an der Universität Frankfurt am Main und ist Geschäftsführende Direktorin des Instituts für europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges). Sie hat sich in der Fachzeitschrift „Soziale Sicherheit“ im Heft 4/2017 mit diesem Beitrag zu Wort gemeldet: „Freibeträge für Betriebs- und Riester-Renten bei der Grundsicherung: Ungewollter Einstieg in steuerfinanzierte Grundrente?“
Sie hat bereits im Vorfeld der gesetzgeberischen Absenkung dieser Neuregelung deutlich kritische Worte gefunden:

»Interessant und problematisch ist dabei die Privilegierung bestimmter zusätzlicher Altersvorsorge gegenüber der gesetzlichen Rente. Der Gesetzentwurf erklärt dies damit, dass sich freiwillige Altersvorsorge »in jedem Fall« lohnen soll. Da man zur Altersvorsorge im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) ohnehin verpflichtet sei, bedürfe es bei ihr keines solchen Anreizes. Anders ausgedrückt: Die Vorsorge in der GRV lohnt sich für bestimmte Personen zwar nicht, aber da sie dazu gezwungen sind, ändert die Einsicht in die (subjektive) Sinnlosigkeit nichts und es besteht kein politischer Handlungsbedarf.«

Ihr Hauptargument gegen die Neuregelung entwickelt sie an einem Fallbeispiel:

»Einer folgt der aktuellen gesetzlichen Intention und akzeptiert GRV-Versicherungspflicht. Er verzichtet auf die Möglichkeit, sich gegen die gesetzliche Rente zu entscheiden, und zahlt aus seinem geringen Arbeitslohn seinen Beitrag. Der andere optiert gegen die gesetzliche Rente, behält dadurch etwas mehr vom Lohn und nutzt diesen Spielraum für eine private Riesterrente.

Im Rentenalter steht der zweite Minijobber besser da. Seine private Rente gilt als freiwillig und bleibt daher bei der Grundsicherung (weitgehend) anrechnungsfrei, während der erste angeblich ohnehin sparen musste und daher im Alter nicht mehr als die Grundsicherung verdient … Für beide setzt der Gesetzgeber unterschiedliche Nudges – »Stupser«, die sie nicht zwingen, aber leiten und ihr Verhalten steuern sollen. Der Stupser für die gesetzliche Rente kostet den Staat praktisch nichts, weder in der Ansparphase noch bei der Auszahlung … Die Stupser für die private bzw. über den Betrieb abgewickelte kapitalgedeckte Vorsorge kostet den Staat jahrzehntelange Zuschüsse in der Ansparphase und zusätzlich jahrzehntelange Subventionen in der Auszahlungsphase.«
Darin erkennt Wallrabenstein eine systematisches Problem, das noch eine Menge Ärger bereiten kann – und zwar als verfassungsrechtliches Problem:

»Die Privilegierung des geringfügig Beschäftigten mit Riesterrente gegenüber dem mit gesetzlicher Rente ist eine Ungleichbehandlung, die nach Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz ohne sachlichen Grund verboten ist.«

Und was folgt daraus? »Entweder müssten auch Minijobber mit gesetzlichen Renten Freibeträge in der Grundsicherung erhalten, was weitere Gleichbehandlungsbegehren anderer gesetzlicher Rentner nach sich ziehen würde. Oder das Bundesverfassungsgericht müsste die Privilegierung für verfassungswidrig erklären und dem Gesetzgeber eine gleichheitsgerechte Neuregelung aufgeben. Konsequenterweise müsste der Gesetzgeber deshalb entweder die Privilegierung der Betriebs- und Riesterrenten wieder abschaffen.«

Der Gesetzgeber könnte natürlich auch hingehen und die gesetzliche Rente der Betriebs- und Riesterrente gleichstellen. »Das bedeutet aber nichts anderes als eine (kleine) steuerfinanzierte Grundrente für den ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung. Die aktuell geplante Änderung muss daher – gewollt oder nicht – als Einstieg in einen grundlegenden Systemwechsel der Grundsicherung gesehen werden«, so Wallrabenstein in ihrem Artikel.

An dieser Stelle kann und muss dann wieder die Bewertung des Rentenexperten Johannes Steffen herangezogen werden, der schon vor längerem ausgeführt hat:

»Bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung handelt es sich um ein subsidiäres Sicherungssystem (Fürsorge), das unabhängig von den Ursachen (Kausalität) einer Notsituation sowie ohne das Erfordernis irgendwelcher Vorleistungen (wie etwa Beitragszahlungen in der Sozialversicherung) Hilfebedürftigkeit im Einzelfall beseitigen will (Finalprinzip). Bevor die Grundsicherung (aufstockende) Leistungen erbringt, kann und muss sie daher im Gegenzug verlangen, dass Hilfesuchende zunächst ihre eigenen Kräfte und Mittel einsetzen, um Hilfebedürftigkeit zu vermeiden, zu vermindern oder zu beseitigen. Dies betrifft bei Älteren und voll Erwerbsgeminderten vor allem den Einsatz grundsätzlich sämtlicher Einkünfte und zumutbar verwertbarer Vermögensteile (Anrechnung). Der voraussetzungslosen Bedarfsdeckung auf der einen Seite entspricht also die Bedürftigkeitsprüfung auf der anderen Seite …

Einkommensfreibeträge in der Fürsorge führen allerdings c. p. zu einem (evtl. deutlichen) Anstieg des leistungsberechtigten Personenkreises, damit zu steigenden öffentlichen Ausgaben und statistisch schließlich auch noch zu einem höheren Ausweis der Grundsicherungsquote …

Davon abgesehen ginge mit einer Privilegierung von Alterseinkommen aus betrieblicher bzw. privater Vorsorge ein tragender Grundsatz der Fürsorge über Bord: Die ausnahmslos final orientierte und von Vorleistungen unabhängige Leistungsbemessung. Ergebnis wäre eine »vorleistungsabhängige Fürsorge«. Mit der Privilegierung ausgewählter, vorleistungsbasierter Einkommen (-steile) in der Grundsicherung käme es wieder – wie in den historischen Anfängen der (staatlichen) Fürsorge – zu einer (sozial- / gesellschaftspolitischen) Unterscheidung zwischen bzw. Separierung in »würdige« und »unwürdige« (Alters-) Arme.«

Wie sieht es aus mit der Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohns? Aus der Welt der Mindestlohnvermeider

Jetzt sind es schon fast zweieinhalb Jahre, seit denen der gesetzliche Mindestlohn für (fast) alle in Kraft ist und man kann genauer hinschauen, wie es denn mit der Umsetzung bestellt ist. Neben der mittlerweile nun wirklich als haltlos erwiesenen Vorhersage einer Jobkiller-Wirkung der anfangs 8,50 Euro pro Stunde wurde immer wieder auf den Tatbestand hingewiesen, dass der Mindestlohn in der vielgestaltigen Praxis von den einen oder anderen schwarzen Schafen in der Unternehmerherde umgangen, dass Arbeitnehmern das, was ihnen eigentlich zusteht, vorenthalten wird. Da passt so ein Artikel: Mit allen Tricks gegen den Mindestlohn. Darin berichtet Kristiana Ludwig, dass die Umgehung des Mindeslohns erstmals Thema im Bericht der Bundesregierung zur Schwarzarbeit ist. Sie bezieht sich auf den 13. Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung, in dem es um die Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung in den Jahren 2013 bis 2016 geht. »Im Transportgewerbe, bei Speditionen, Logistikunternehmen und in der Personenbeförderungsbranche ist Schwarzarbeit nach wie vor stark verbreitet«, heißt es in dem Bericht der Bundesregierung. „Nahezu alle, insbesondere lohnintensive Wirtschaftszweige“ seien von Schwarzarbeit betroffen. Insbesondere seien auch Bauarbeiter, Mitarbeiter von Gaststätten und Hotels, Schausteller, Putzkräfte und die Arbeiter in Schlachtereien häufig illegal beschäftigt. Trotz aller Bemühungen belief sich die Schadenssumme in Verbindung mit Schwarzarbeit im vergangenen Jahr auf insgesamt 875,6 Millionen Euro, heißt es in dem Bericht. Bei der letzten Untersuchung vor vier Jahren waren es noch 799,1 Millionen Euro.

Erstmals wurde in dem Bericht auch der Mindestlohn und seine (Nicht-)Einhaltung thematisiert. Dazu berichtet Kristiana Ludwig:

»Zollbeamte stellten eine ganze Reihe „besonderer Vorgehensweisen“ fest, die Firmen nutzten, um sich um die Zahlung des gesetzlichen Lohns zu drücken. So rechneten sie etwa Kost und Logis in die Bezahlung mit ein, vergüteten Arbeitsstunden mit Einkaufsgutscheinen statt mit Geld oder nutzten Praktikanten-Verträge, um Mitarbeiter billig zu beschäftigen.«

In dem Bericht der Bundesregierung (S. 22) findet man den Hinweis auf folgende besondere Vorgehensweisen zur Vermeidung der Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns, die vom Zoll beobachtet worden sind:
– ungerechtfertigte Anrechnung von Kost und Logis auf den Mindestlohn,
– Verrechnung der Arbeitsstunden mit Konsumeinkäufen, Sachbezügen und Gutscheinen,
– Pauschalvergütung ohne Berücksichtigung des Mindestlohns und der Arbeitszeit,
– ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Ausnahmetatbeständen, z. B. Praktikantenregelung,
– unrichtige Führung von Arbeitszeitkonten,
– Ausweisen von Arbeitszeit als Pausen,
– Nichtvergütung von Rüstzeiten sowie Vor- und Nacharbeiten,
– Nichtvergütung von Leerfahrten im Personentransportgewerbe und
– Verwendung von Abdeck- oder Scheinrechnungen.

Im Heft 5/2017 der Zeitschrift Soziale Sicherheit wird in mehreren Beiträgen eine Zwischenbilanz zum gesetzlichen Mindestlohn gezogen.

„Über zwei Jahre gesetzlicher Mindestlohn. Umsetzung, Wirkungen, Umgehungen und Kontrollen“, so ist der Beitrag von Claudia Falk und Robby Riedel überschrieben: »Die positiven Effekte auf die Verdienst- und Beschäftigtenentwicklung halten an. Doch nach wie vor kommt der Mindestlohn wegen Ausnahmeregelungen und Umgehungen nicht überall an. Umso wichtiger ist es, dass der Staat die Einhaltung der Mindestlohnbestimmungen ausreichend kontrolliert. Doch hier hapert es.«
Zum Thema Umgehungen des Mindestlohns schreiben sie: »Leider werden gerade Minijobber/innen immer wieder um den korrekten Mindestlohn betrogen … Der Klassiker: Zwar erhalten die Minijobber/innen Arbeitsverträge, in denen die Arbeitsstunden zum Lohn passen. In der Realität wird dennoch erwartet, dass die Arbeit im früheren höheren Umfang erledigt wird. Das geschieht dann häufig durch unbezahlte Überstunden. Viele Betroffene trauen sich nicht, sich dagegen zu wehren – aus Angst um ihren noch so kleinen Job.«

Ein interessantes Interview zum Thema Umgehung des Mindestlohns findet man auch in dem Heft: „Praktika werden von Arbeitgebern ausgereizt“: »Dörthe Sund vom Jobcenter Vorpommern-Rügen in Stralsund berichtet, wie der Mindestlohn umgangen wird. Ihre Behörde war bundesweit eine der ersten, die erfolgreich Aufstockerleistungen von einem sittenwidrig zahlenden Arbeitgeber eingeklagt hat.«

Die Jobcenter-Mitarbeiterin berichtet eine ganze Reihe an interessanten Aspekten aus ihrer Praxis:

»Praktika werden von Arbeitgebern ausgereizt; in einem Fall beschäftigte ein Arbeitgeber einen Leistungsbezieher zunächst für sechs Monate als Küchenhilfe, um ihn dann nach einer Unterbrechung von ein paar Monaten in einem Praktikum zur Arbeitserprobung an gleicher Stelle einzusetzen.

Auffällig war, dass Arbeitgeber verschiedenster Branchen die Arbeitsverträge der Arbeitnehmer änderten, indem sie die Arbeitszeit reduzierten, wohl um durch die Einführung des Mindestlohnes keine Lohnsteigerungen zu produzieren.

Neue Arbeitsverträge werden häufig nur als Teilzeitverträge abgeschlossen, dabei werden auch Klauseln zu unentgeltlicher Mehrarbeit in die Verträge aufgenommen. In anderen Fällen ist zu beobachten, dass Stundennachweise nach Abforderung durch das Jobcenter exakt zu den abgerechneten Stunden passen, obwohl die Arbeitnehmer – unsere Kunden – von Überstunden sprechen.

In einem Fall berichtete uns ein Arbeitnehmer aus der Hotel- und Gaststätten-Branche, dass er einen Arbeitsvertrag über 30 Stunden abgeschlossen hatte, diese 30 Stunden wurden auch ordnungsgemäß mit 8,50 Euro entlohnt. Der Arbeitnehmer erzählte aber weiterhin, dass in den Restaurants des Arbeitgebers ein Schwarzbuch zur Mehrarbeit geführt werde. In diesem werden Überstunden vermerkt, die am Ende des Monats durch die Arbeitnehmer zu streichen sind und vom Arbeitgeber mit fünf Euro pro Stunde bar bezahlt werden. Der Kunde konnte uns die Lage des Überstundenbuchs genau beschreiben. Allerdings ist in diesem Fall die Beweislage sehr dünn, laut Arbeitsvertrag und Entgeltbescheinigungen ist die Lohnabrechnung korrekt. Uns liegt nur die Aussage des einen Arbeitnehmers vor, betreten darf ein Mitarbeiter des Jobcenters die Geschäftsräume des Arbeitgebers nicht. Wir haben diesen Fall an die FKS Schwarzarbeit weitergeleitet.«

Es ist klar, dass es immer schwarze Schafe geben wird, die versuchen werden, Regelungen durch illegales Verhalten zu unterlaufen. Aber gerade ein flächendeckender Mindestlohn ist darauf angewiesen, dass sich die meisten Betriebe darauf verlassen können müssen, dass die Regelung auch von den Konkurrenten eingehalten werden, ansonsten verschaffen sich die – gerade in lohnintensiven Branchen – einen erheblichen Wettbewerbsvorteil. Das verweist auf den Aspekt der Kontrollen und der damit verbundenen Risikowahrscheinlichkeit, erwischt und sanktioniert zu werden.

Bereits frühzeitig wurde in diesem Blog darauf hingewiesen, dass die für die Mindestlohnkontrollen zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls personell unterausgestattet ist angesichts der erheblichen zusätzlichen Aufgaben, die das Mindestlohngesetz mit sich gebracht haben, so beispielsweise in den kritischen Beiträgen Flüchtlingsbetreuung sticht Mindestlohn-Kontrolle. Der Zoll muss umverteilen – und es trifft vor allem die Mindestlohn-Kontrolleure vom 12. September 2015 sowie Der gesetzliche Mindestlohn: Wie viel darf, soll oder muss es sein? Und wer schaut eigentlich genau hin, ob er überhaupt gezahlt wird? vom 26. Februar 2016.

Auch in der aktuellen Diskussion wird die Bedeutung engmaschiger Kontrollen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) gerade in kleineren mindestlohnrelevanten Betrieben – etwa in der Gastronomie oder im Einzelhandel – hervorgehoben. Dazu berichten Claudia Falk und Robby Riedel in ihrem Artikel:

»Für stärkere Kontrollen plädierten auch die Vertreter der FKS, die auf einem DGB-Mindestlohnworkshop Ende Februar 2017 über nötige Verbesserungen für die Kontrollen diskutiert hatten. Sie beklagten, dass es zu wenige Stellen für die Kontrolle gibt und zum Teil hohe Fehlbestände, so dass die Kontrolldichte in 2015 und 2016 im Vergleich zu den Vorjahren deutlich zurückgegangen ist. Zudem lautete die Weisung aus dem Bundesfinanzministerium in den ersten Monaten nach der Mindestlohneinführung: »Aufklärung statt Ahndung«. So hatten die Kontrolleure anfangs selbst bei Verstößen zunächst nur Verwarnungen ausgesprochen.«

Und zu den Kontrollen:

»Inzwischen liegen Zahlen für die Kontrollen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit für 2016 vor.21 Sie erstrecken sich allerdings nicht nur auf Verstöße gegen das Mindestlohngesetz und gegen Branchenmindestlöhne, sondern nehmen auch illegale Beschäftigung und Sozialversicherungsbetrug ins Visier. Es ergibt sich ein gemischtes Bild (s. Abbildung 3): Die Zahl der Kontrollen ist in 2016 nach einem schon schwachen Jahr 2015 weiter zurückgegangen. So wurden 2016 insgesamt 40.374 Arbeitgeber geprüft, während es 2015 noch 43.637 waren.« Interessant ist dieser Aspekt: »Besonders stark fiel der Rückgang der Kontrollen 2016 am Bau (– 19 % gegenüber dem Vorjahr) und im Gaststättengewerbe (– 17,2 %) aus. Während in den Baubranchen (hier gelten Branchenmindestlöhne nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz) auch die Zahl der eingeleiteten Ermittlungsverfahren um 10,2 % abnahm, stiegen sie im Gaststättenbereich um 79 %. Offenbar stoßen die Zollbeamten im Gaststättenbereich trotz geringer Kontrolldichte besonders häufig auf Mindestlohnverstöße.«

Bereits in der Vergangenheit wurde hier immer wieder darauf hingewiesen, dass man die Kontrollen auch machen können muss. In diese Wunde streuen Claudia Falk und Robby Riedel eine Menge Salz:  »Da ist es besonders ärgerlich, dass von den 6.865 Planstellen der FKS für 2016 knapp 800 Stellen (13 %) nicht besetzt waren. Zum Teil deshalb, weil 362 Beamte in andere Behörden wie dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oder der Bundespolizei abgeordnet waren. Zudem sind auch die Beamtinnen und Beamten, die für die zusätzlich versprochenen 1.600 Stellen vorgesehen sind, noch immer nicht fertig ausgebildet. Auch für 2017 erwartet das Bundesfinanzministerium 13 % unbesetzte Planstellen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit … Nach Berichten von FKS-Mitarbeitern ist auch die technische Ausstattung mangelhaft. So arbeiteten die FKS-Beschäftigten bei Prüfungen immer noch mit Fragebögen in Papierform, anstatt die Angaben zur rascheren Weiterbearbeitung direkt elektronisch einzugeben und so einen leichteren und schnelleren Austausch mit beteiligten Behörden wie etwa der Deutschen Rentenversicherung zu ermöglichen.«

Und die beiden Autoren machen auch umfangreiche Vorschläge, was man besser bzw. anders machen könnte. Als Gegenmaßnahmen, damit der Mindestlohn überall ankommt und nicht umgangen wird, schlagen Falk und Riedel vor:

  • Die Beweislast bei Mindestlohnansprüchen sollte umgekehrt werden: Nicht der Arbeitnehmer, sondern der Arbeitgeber soll künftig nachweisen müssen, wie lange ein Beschäftigter tatsächlich gearbeitet hat.
  • Der DGB fordert schon lange die Einführung des Verbandsklagerechts – auch für Klagen gegen Mindestlohnverstöße wäre dies sehr hilfreich.
  • Es muss zudem ein Gesetz zum Schutz von Whistleblowern geschaffen werden.
  • Das Gesetz zur Bekämpfung von Schwarzarbeit sollte auf den Einzelhandel sowie das Bäcker- und Fleischereihandwerk ausgedehnt werden. So werden Kontrollen der FKS erleichtert.
  • Für Beschäftigte muss es beim Abschluss neuer Arbeitsverträge mehr Rechte geben. Sie sollen verpflichtend mehr Bedenkzeit erhalten, bevor sie einen Arbeitsvertrag unterschreiben. So können sie sich vorher beraten lassen. Wie nötig das ist, zeigen z.B. die wiederkehrenden Fälle, wo Minijobbern ad hoc neue Arbeitsverträge mit nach unten angepassten Arbeitszeiten zur Unterschrift vorgelegt wurden.
  • Es sollten mehr Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften zur Unterstützung des Zolls eingerichtet werden.
  • Der Prüfdienst der Rentenversicherung sollte aufgestockt werden.
  • Die Stellen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit sollten mittelfristig auf 10.000 aufgestockt werden.
  • Die Kontrollen der FKS sollten sich nicht nur auf die organisierte Kriminalität konzentrieren, sondern verstärkt auch Prüfungen kleinerer, mindestlohnrelevanter Unternehmen – etwa in der Gastronomie und im Einzelhandel – umfassen. Zudem sollten präventive Streifenfahrten erhalten bleiben, um spontan auch Prüfungen in kleineren Betrieben vornehmen zu können.
  • Es darf keine – wie auch immer gearteten – Ausnahmeregelungen für Flüchtlinge vom Mindestlohn geben. Der DGB hat von Anfang an bestehende Ausnahmen und Sonderregeln etwa für Zeitungszusteller/innen, Minderjährige, bestimmte Praktikantengruppen und Langzeitarbeitslose kritisiert. Jede Ausnahme erschwert die effiziente Kontrolle des Gesetzes. 

Gut Ding will Weile haben? Der verbesserte Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende kommt zum 1. Juli 2017

Es ist eine besondere Last dieser Zeiten, dass man in der Sozialpolitik meistens nur von Kürzungen, Begrenzungen, komplizierteren Abläufen berichten kann. Selten bis gar nicht geht es um Verbesserungen. Da muss man doch schon fast in Jubel ausbrechen, wenn man das vermelden kann: »Der Bundestag hat … beschlossen, den Unterhaltsvorschusses für Alleinerziehende zu erhöhen und zu erweitern.« Na endlich, wird der eine oder die andere anmerken. Denn eigentlich sollten die Verbesserungen schon lange in Kraft sein, aber das hat sich wie Kaugummi gezogen. Was man zwei Gründen zuschreiben kann: Zum einen war das Bestandteil der umfassenden Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen und da ging es um ganz andere Hausnummern, als das, was mit dem Unterhaltsvorschuss für das System (nicht für die einzelnen Betroffenen) verbunden ist. Zum anderen haben die Bundesländer als Advokaten der Kommunen erfolgreich auf Zeit gespielt, denn das muss ja auch alles umgesetzt werden in den Niederungen der Praxis, also vor Ort. Gegen die Reform des Unterhaltsvorschusses gab es heftigen Widerstand aus den Reihen der Kommunen und der Bundesländer. Die Akteure hatten sich – nett formuliert – mehrfach verhakt. Es ging um die Finanzierung der Leistungsausweitung sowie um den Aspekt der Abwicklung der Leistung.

Die treuen Leser dieses Blogs werden sich erinnern – das war hier schon mehrfach Thema. So beispielsweise in den Beiträgen Ein Beitrag zur Armutsvermeidung bei Alleinerziehenden und ihren Kindern: Der Unterhaltsvorschuss wird endlich weiterentwickelt. Dennoch bleiben Fragezeichen vom 13. November 2016, Von wegen sanfte Geburt. Der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende steckt fest im föderalen Interessendickicht vom 8. Dezember 2016 oder am 25. Januar 2017 der Beitrag Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende: Die Reform kommt, sie kommt nicht, jetzt soll sie doch kommen. Im Sommer. Das zumindest wird jetzt erfüllt.

Bisher war die Regelung beim Unterhaltsvorschuss so, dass diese Leistung, die Alleinerziehende vom Jugendamt erhalten, wenn der andere Elternteil nicht für die Kinder zahlt oder zahlen kann, auf das 12. Lebensjahr des Kindes als Obergrenze und auf eine maximale Bezugsdauer von 72 Monaten, also sechs Jahre. begrenzt war. Beides Regelungen, die mehr als willkürlich daherkommen, denn was ändert sich nach dem 12. Geburtstag und warum ist nach 72 Monaten Schluss, auch wenn sich dann nichts geändert hat? Finanziert wird diese Ausfallleistung des Staates bislang zu einem Drittel vom Bund, zwei Drittel entfallen auf die Bundesländer, die wiederum die Aufteilung auf Land und Kommune selbst regeln können (vgl. § 8 Unterhaltsvorschussgesetz). Bundesweit wurde von 440.000 Empfängerinnen dieser Leistung berichtet. Man muss zusätzlich wissen, dass der Staat, der die Leistung vergibt, die Möglichkeit hat, sich das Geld zurückzuholen von den eigentlich zahlungspflichtigen Elternteilen, die aber nicht oder zu wenig zahlen.

Aber was genau wird jetzt zum 1. Juli 2017 geändert?

Alleinerziehende, deren Ex-Partner nicht oder unregelmäßig für die gemeinsamen Kinder aufkommen, haben künftig Anspruch auf eine höhere finanzielle staatliche Unterstützung: Der Bundestag beschloss, den Unterhaltsvorschuss zu verbessern.

  • Bislang erhalten die Kinder den Vorschuss vom Jugendamt nur bis zum zwölften Geburtstag und höchstens sechs Jahre lang.Künftig entfällt die Befristung, und der Anspruch gilt bis zum 18. Lebensjahr eines Kindes.
  • Die Neuregelung sieht vor, dass der monatliche Unterhaltsvorschuss nach Abzug des zu zahlenden Kindergelds für Kinder bis fünf Jahre bei 150 Euro liegen, für Kinder bis elf Jahre bei 201 Euro und für Kinder bis 18 Jahre bei 268 Euro.
  • Kinder ab zwölf Jahre erhalten den Vorschuss aber nur, wenn sie nicht auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind oder der alleinerziehende Elternteil zwar Hartz-IV-Leistungen bekommt, aber ein Einkommen von mindestens 600 Euro erzielt.

Bei den Kosten hat sich der Bund verpflichtet, statt wie bislang ein Drittel nunmehr 40 Prozent der Ausgaben für diese Leistung zu finanzieren.

Eine übersichtliche Synopse zur bisherigen und der Neufassung des Unterhaltsvorschussgesetzes (UVG) hat das DIJuF veröffentlicht.

Das hört sich nicht nur gut an, dass ist auch eine von vielen geforderte Verbesserung. Aber wie immer lohnt der Blick auf die Details der Mechanik dieser Geldleistung.

Ein ganz wichtiger Punkt bei der Neuregelung ist die Aufhebung der bisherigen Altersgrenze von zwölf Jahren und die Ausdehnung auf 18 Jahre des Kindes.

Dazu muss man wissen: Ab 12 Jahren besteht der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nur, wenn das Kind keine SGB II-Leistungen bezieht oder durch den Unterhaltsvorschuss die SGB II-Hilfebedürftigkeit vermieden werden kann oder die Alleinerziehenden ein Bruttoeinkommen von monatlich 600 Euro – ohne Abzug der Absetzbeträge nach § 11b SGB II (Grundfrei- bzw. Mindestabzugsbetrag 100 Euro bei Arbeit, bei BAföG und Erwerbstätigenfreibetrag) – haben. Bei der Ermittlung der 600 Euro hat das Kindergeld außer Betracht zu bleiben (so der neue § 1a Nr. 1 und 2 UVG).

Die Jobcenter werden jetzt natürlich die entsprechende Zielgruppe Alleinerziehende nach § 12a SGB II auffordern, den Unterhaltsvorschuss als vorrangige Leistungen zu beantragen. Das ist rechtlich richtig und zulässig, unzulässig ist aber, die SGB II-Leistungen vor Erhalt schon einzustellen. Die fiktive Anrechnung ist immer und in jedem Fall unzulässig.

Richtig ist, die Betreffenden zur Beantragung des Unterhaltsvorschusses aufzufordern, in der Zeit müssen aber SGB II-Leistungen weitergezahlt werden, das Jobcenter kann dann einen Erstattungsanspruch auf den Unterhaltsvorschuss (UV) geltend machen und dann geht der Nachzahlbetrag an das Jobcenter.

Und dann kommt eine wichtiger Hinweis: »Dazu ist zu bedenken, dass es sich hier um mehrere 100.000 derzeit SGB II-Leistungen beziehende Kinder handeln wird, die UV Stellen arbeitstechnisch völlig an dieser Massenbeantragung absaufen werden und sich deren Leistungsauszahlung deshalb deutlich verzögern wird.« (Thomé Newsletter 21/2017 vom 04.06.2017).

Das wir alles Folgen haben. Dazu Florian Mayer in seinem Bericht Ein Segen für Alleinerziehende, eine Last für die Kommunen. Er zitiert das Beispiel der Stadt Stuttgart:

»Die Stadt Stuttgart hat schon mal einen erheblichen Zusatzposten eingeplant. Mit Ausgaben von 14 Millionen Euro rechnet Daniela Hörner vom Jugendamt, bisher sind es jährlich etwa vier Millionen. 2500 Kinder profitieren in Stuttgart von dem staatlichen Unterhalt. „Zehn Mitarbeiter kümmern sich bei uns im Jugendamt allein darum“, sagt sie. Wenn die Gesetzesänderung eintritt, rechnet sie mit einer Verdopplung der Fälle. „Derzeit prüfen wir, ob wir zusätzliches Personal brauchen, gegebenenfalls muss der Gemeinderat dann die Stellen aufstocken.“«

Auch Heinrich Alt, das ehemalige Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit (BA), hat sich in seinem Artikel Vater Staat sorgt für seine Kinder zum Thema Unterhaltsvorschuss geäußert.  Seine Perspektive: »Ein Land, das den Schutz von Ehe und Familie in seine Verfassung geschrieben hat, bestraft getrennt lebende Eltern, wenn sie sich entschließen, einen gemeinsamen Haushalt zu gründen. Wenn beide Elternteile Leistungen der Grundsicherung beziehen, wird der Regelsatz gekürzt und die Zulage für Alleinerziehende gestrichen, im Normalfall ein Verlust von 250 Euro.«
Und diese Leistung ist quantitativ gesehen kein Orchideenthema, denn in gut einer Million Fälle wird kein regelmäßiger Unterhalt in voller Höhe gezahlt. Und Alt weist auf eine andere Problemstelle hin:

»Von den Unterhaltsberechtigten beziehen drei Viertel Unterhaltsvorschuss und Leistungen der Grundsicherung gleichzeitig. Das bedeutet: In 300 000 Fällen wird Unterhaltsvorschuss beantragt, vom Jugendamt bewilligt – und dann vom Jobcenter in voller Höhe auf die Leistungen der Grundsicherung angerechnet. Ein riesiger, nach dem 1. Juli weiter wachsender Verwaltungsaufwand für Kommunen und Jobcenter, der zu nichts anderem führt als zu enttäuschten und frustrierten Müttern.«

Diesen Aspekt hatten im vergangenen Jahr auch die kommunalen Spitzenverbände hervorgehoben:

»Eine aktuelle Studie des Statistischen Bundesamtes hat ergeben, dass 87 Prozent der derzeitigen Leistungsbezieher von Unterhaltsvorschuss auch SGB II-Leistungen (Hartz IV) und SGB XII-Leistungen erhalten. Diese Leistungen werden von den Jobcentern und den Unterhaltsvorschuss-Stellen miteinander verrechnet.

Die Familien, die gleichzeitig Hartz IV beziehen, haben durch die Verrechnung keinerlei finanzielle Vorteile, wenn sie Unterhaltsvorschuss erhalten. Es wäre aus Sicht der Kommunen dann nur transparent und ehrlich, in diesen Fällen Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz gar nicht vorzusehen.«

Aber auch hier muss man genau hinschauen, was ich in meinem Beitrag aus dem Dezember 2016 bereits getan habe:

»Denn es gibt solche und andere Hartz IV-Empfänger/innen unter den Alleinerziehenden. In vielen Fällen- darauf hatte ich auch schon hingewiesen in meinen Beitrag vom 13.11.2016 – wäre auch ein ausgeweiteter Unterhaltsvorschuss nur ein durchlaufender Posten, gleichsam von der rechten in die linke Tasche. Denn tatsächlich wird die Leistung angerechnet auf den Hartz IV-Bedarf und den SGB II-Leistungen. Aber es gibt auch Alleinerziehende, die beispielsweise als Aufstocker im Hartz IV-System sind, die also nur eine anteilige zusätzliche Leistung aus dem SGB II bekommen. Und bei einigen von denen könnte ein verbesserter Unterhaltsvorschuss dazu führen, dass sie aus dem Hartz IV-Bezug insgesamt rausrutschen.«

Konkreter: Die geplante Ausweitung des Unterhaltsvorschusses für Trennungskinder wird nach Berechnungen der Bundesregierung mehr als ein Drittel der Alleinerziehenden, die derzeit Aufstockerleistungen aus Hartz IV erhalten, vollständig aus dem Sozialleistungsbezug herausführen, kann man einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen entnehmen. Durch den Ausbau des Unterhaltsvorschusses würden 260.000 zusätzliche Kinder erreicht; 226.000 von ihnen seien derzeit auf Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch II angewiesen, heißt es darin. Der Unterhaltsvorschuss bietet für etwa 35 Prozent der SGB-II-beziehenden Alleinerziehenden, die erwerbstätig sind und somit die SGB-II-Leistung aufstocken, die Perspektive, das SGB II zu verlassen.

Aber Heinrich Alt nimmt in seinem Artikel einen anderen Punkt ins Visier, der sich aus dem Namen „Unterhaltsvorschuss“ ableiten lässt, denn der Vorschuss wird gewährt, weil der eigentlich zahlungspflichtige Elternteil nicht zahlen kann oder aus welchen Gründen auch immer nicht zahlen will. Bei denen, die zahlen könnten, es aber nicht tun, kann sich der Staat den Vorschuss im Prinzip wieder zurückholen. Und das steht im Mittelpunkt seiner Überlegungen:

»Im vergangenen Jahr wurden 23 Prozent der vom Staat gezahlten Unterhaltsleistungen wieder eingetrieben, wobei die Unterschiede erheblich sind. Während Bayern 36 Prozent erreicht, schafft Bremen lediglich 14 Prozent. Lässt sich die Spreizung aus Länderebene vielleicht noch erklären mit Unterschieden in der Wirtschaftskraft, gibt es dafür auf kommunaler Ebene (zehn bis 50 Prozent) keine Gründe mehr. Väter in kleinen Kommunen sind vom Rückgriff weitgehend verschont, in Großstädten seltener.«

Eine Auswertung des Zusammenhangs zwischen der Rückholquote und der Quote der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im Grundsicherungssystem in den Bundesländern, die Paul M. Schröder vom BIAJ am 21.08.2016 veröffentlicht hat, belegt den Zusammenhang zwischen der Rückholquote und der SGB II-Intensität: Unterhaltsvorschuss: Rückgriffquoten (Rückholquoten) im Verhältnis zu den ELB-Quoten (SGB II) – Ländervergleich. Diesen Aspekt erkennt auch Heinrich Alt an, er hebt die Unterschiede bei der Rückholintensität zwischen den kleinen und den großen Kommunen hervor. Wobei sich das sicher nicht nur, aber in einem ganz erheblichen Maß durch den unterschiedlichen „Professionalisierungsgrad“ in den Kommunen erklären lässt, denn in den großen Kommunen hat man schlichtweg mehr Möglichkeiten, spezialisiertes Personal für diese Aufgabe einzusetzen. Und dieses strukturelle Problem wird durch die mit der Leistungsausweitung zum Juli dieses Jahres verbundene Ausweitung der Arbeitsmenge nur zur Bearbeitung der zusätzlichen Fälle sicher nicht kleiner, sondern eher größer.

Heinrich Alt stellt in seinem Artikel selbst einige wichtige Fragen, die zeigen, dass man über bestimmte fundamentale Informationen in diesem Feld derzeit gar nicht verfügt: » Wie viele Väter sind tatsächlich nicht leistungsfähig? Wie viele Forderungen verjähren, werden nicht rechtskonform bearbeitet oder wegen Auslandsbezug überhaupt nicht verfolgt? Wie hoch ist der Prozentsatz der unbekannten Väter? Wie viele Väter zahlen nicht, obwohl sie es könnten, weil die Mutter ihnen die Kinder entzieht?«

Trotz dieser Wissenslücken macht er dann aber zwei heftige „Lösungsvorschläge“:

»Würde ein drohender Führerscheinentzug die Zahlungsmoral eher verbessern als eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, die mancherorts schon nicht mehr entgegengenommen wird? Das Strafrecht wird in Deutschland zur Lösung des Problems jedenfalls so gut wie nicht genutzt.«

Und mit Blick auf das Eintreiben der Gelder:

»Geeignete Inkasso-Unternehmen sollten, wie anderswo beim Staat schon länger üblich, entweder als Verwaltungshelfer oder durch den Ankauf von Forderungspaketen das Forderungsmanagement der Länder und Kommunen ergänzen.«

Die Auslagerung der Forderungsrealisierung auf private, gewinnorientierte Inkasso-Unternehmen ist in der BA bereits erprobt worden, als Herr Alt dort auf der Vorstandsebene Verantwortung hatte. Ob das ein sinnvoller Weg ist, darüber lässt sich zu Recht streiten und viele werden diesen Ansatz verständlicherweise ablehnen.

Aber er hat noch einen dritten Vorschlag, gleichsam typisch für jemanden, der sein Leben in der Massenverwaltung verbracht hat und über den man diskutieren kann: »Angesichts der extremen Unterschieden von Kommune zu Kommune erscheint eine Zentralisierung auf Landesebene – wie in Bayern – unausweichlich zu sein, gerade auch im Interesse der Jugendämter.« Aber auch in Bayern, so muss man an dieser Stelle anfügen, werden fast 70 Prozent der Unterhaltsvorschussmittel eben nicht zurückgeholt und es ist auch angesichts der ganz unterschiedlichen Gründe nicht zu erwarten, dass man diese Quote deutlich wird steigern können.

So ist das eben, wenn man sich mit Instrumenten beschäftigen muss, die Hilfskrücken bei der Bearbeitung eines anders gelagerten Problems darstellen. Diese Charakterisierung wird auch relevant beim Fazit zum reformierten Unterhaltsvorschussgesetz: Eine Verbesserung ist das, vor allem durch den Wegfall der mehr als willkürlichen Begrenzungen im bisherigen System, also der Alters- und der Bezugsdauerbegrenzung. Dadurch bekommt man ein e echte Leistungsausweitung hin. Nicht zu viel und in vielen Fällen gar nichts sollten sich diejenigen erhoffen, die im SGB II-Bezug sind. Und für die Beschäftigung in unserem Land ist das Gesetz eine gute Sache, die Verwaltung braucht mehr Personal. Wenn es das denn gibt und wenn man Leute findet, die das dann auch machen können.

Zur Entwicklung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung. Die Kernzone mit Flächentarifverträgen und Betriebsräten ist weiter unter Druck

Dass es für Arbeitnehmer handfeste Vorteile hat, wenn sie in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten (können), hat sich mittlerweile herumgesprochen. Mit Blick auf die zurückliegenden Jahren kann man sagen, dass die Löhne in den tarifgebundenen Unternehmen immer stärker angestiegen sind als in den nicht-tarifgebundenen Betrieben. Zudem profitieren sie von den vielen anderen Regelungen, die man in den Tarifverträgen findet.

Zugleich ist es aber auch kein Geheimnis, dass die Tarifbindung der Unternehmen und der Beschäftigten seit Jahren auf dem Sinkflug ist. Nicht umsonst diskutiert man gerade in diesen Tagen intensiver über staatliche Regulierung in Form der Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, was allerdings derzeit leichter gefordert als umgesetzt werden kann (vgl. dazu und konkret am Beispiel des Einzelhandels den Beitrag Tarifbindung mit Schwindsucht und die Allgemeinverbindlichkeit als möglicher Rettungsanker, der aber in der Luft hängt vom 9. Mai 2017). Dieser Prozess einer abnehmenden Tarifbindung hat seit Mitte der 1990er Jahre kräftig an Fahrt gewonnen und scheint in der letzten Zeit zumindest zum Stillstand gekommen zu sein. Auf den ersten Blick.

Hier lohnt ein genauerer Blick auf die Daten. Und die werden alljährlich veröffentlicht. Die neuesten Daten finden sich in dem Beitrag Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung: Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2016 von Peter Ellguth und Susanne Kohaut im Heft 4/2017 der WSI-Mitteilungen. Eine kompakte Übersicht zur Tarifbindung der Beschäftigten 2016 hat das IAB veröffentlicht, wo die beiden Wissenschaftler tätig sind.

Die von Ellguth und Kohaut präsentierten Ergebnisse für 2016 basieren auf Angaben von rund 15.300 Betrieben in West- und Ostdeutschland im IAB-Betriebspanel. Aufgrund des Aufbaus der Zufallsstichprobe sind die Ergebnisse repräsentativ für die rund 2,1 Mio. Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Insgesamt sind in diesen Betrieben etwa 38,9 Mio. Personen beschäftigt.

Hinsichtlich der Tarifbindung muss man zweierlei unterscheiden – zum einen die der Beschäftigten und die der Betriebe, zum anderen nicht nur die Unterscheidung zwischen Branchen- oder Flächentarifvertrag und den Firmentarifverträgen, sondern zu berücksichtigen wäre auch der Aspekt, dass sich ein Teil der nicht tarifgebundenen Unternehmen an den Tarifverträgen orientiert.

Bei der Tarifbindung der Betriebe zeigt sich, dass sich hochgerechnet rund 29 Prozent der westdeutschen, aber nur 19 Prozent der ostdeutschen Betriebe an Branchentarifverträge binden. Haus- oder Firmentarifverträge gelten für 2 Prozent der Betriebe in den alten und etwa 3 Prozent der Betriebe in den neuen Bundesländern. 68 Prozent der westdeutschen und sogar 79 Prozent der ostdeutschen Betriebe, sind nicht tarifgebunden. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass etwa 40 Prozent der nicht tarifgebundenen Betriebe in Westdeutschland und 39 Prozent in Ostdeutschland angeben, sich in ihren Einzelarbeitsverträgen an bestehenden Branchentarifen zu orientieren. Allerdings sagt das noch nicht aus, in welchem Ausmaß und bei welchen Punkten man sich an die bestehenden Tarifverträge anlehnt.

Dazu schreiben Ellguth/Kohaut (2017: 279): »Im Jahr 2011 wurden die betreffenden Betriebe ausführlicher dazu befragt, ob sie sich bei den Löhnen und auch bei anderen Regelungen – etwa bei den finanziellen Zusatzleistungen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld, den Arbeitszeiten oder der Dauer des Jahresurlaubs – nach dem Branchentarif richten … Die Befragung hat gezeigt, dass dies bezogen auf die nicht tarifgebundenen Betriebe rund 19 % im Westen und 25 % im Osten waren. Nur in diesen Betrieben dürfen die Beschäftigten Arbeitsbedingungen vorfinden, die mit denen in branchentarifgebundenen Betrieben weitgehend vergleichbar sind.«



Tarifbindung der Beschäftigten: 2016 haben rund 51 Prozent der westdeutschen und etwa 36 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in einem Betrieb gearbeitet, der einem Branchentarifvertrag unterliegt. Firmentarifverträge gelten für 8 Prozent der westdeutschen und 11 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten. Für rund 42 Prozent der westdeutschen und 53 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmer gibt es keinen Tarifvertrag. Dass es bei den Beschäftigten anders aussieht als bei der Tarifbindung der Unternehmen, erklärt sich aus dem Gefälle der (Nicht-)Tarifbindung in Abhängigkeit von der Betriebsgröße. Während von den Kleinbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten 75 Prozent keinen Tarifvertrag haben, sind des bei den großen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten lediglich 14 Prozent. Von den Kleinbetrieben gibt es quantitativ gesehen viele, von den Großbetrieben anteilig nur wenig – aber hinsichtlich der Zahl der (betroffenen) Arbeitnehmer sieht es umgekehrt aus.

Aber es gibt nicht nur die tarifvertragliche Ebene.

»Zwei Säulen tragen das deutsche System der Arbeitsbeziehungen: die Tarifautonomie und die betriebliche Mitarbeitervertretung durch Betriebs- und Personalräte. Überbetriebliche Verbands- oder Flächentarifverträge spielen eine wesentliche Rolle bei der Regelung von Arbeitsbedingungen und bei der Lohnfindung. Sie werden meist für Regionen und Branchen ausgehandelt und sorgen dort für einheitliche Wettbewerbsbedingungen bei den Arbeitskosten. Für den einzelnen Betrieb ergibt sich daraus eine gesicherte Planungs- und Kalkulationsgrundlage. Zudem herrscht Betriebsfrieden während der Laufzeit der Verträge. Der Verhandlungs- und Koordinationsaufwand bei Tarifverhandlungen liegt bei den Verbänden, was die Betriebe zusätzlich entlastet.

Löhne und Arbeitsbedingungen können jedoch nicht nur auf Branchenebene über (Flächen-)Tarifverträge, sondern auch auf Betriebs- oder Unternehmensebene (Firmentarifverträge) oder in individuellen Arbeitsverträgen geregelt werden. Individuelle Arbeitsverträge werden vor allem in kleineren Betrieben geschlossen.« (Ellguth/Kohaut 2017: 278)

Der Blick auf die betriebliche Ebene ist auch deshalb notwendig, weil das bundesdeutsche System der Interessenvertretung mit seiner dualen Struktur von sektoral ausgehandelten Tarifverträgen und betrieblicher Interessenregulierung seit Mitte der 1980er Jahre durch eine Verlagerung von Regelungskompetenzen von der überbetrieblichen auf die betriebliche Ebene gekennzeichnet ist.

Bei den Betrieben ab fünf Beschäftigten finden sich sowohl in West- wie auch in Ostdeutschland 9 Prozent der Betriebe mit einem Betriebsrat. In 17 bzw. 11 Prozent der Betriebe (West bzw. Ost) gibt es andere Mitarbeitervertretungen. Hinsichtlich der Beschäftigten sieht es größenmäßig wieder anders aus, hier arbeiten in Westdeutschland 43 Prozent in einem Betreib mit Betriebsrat und weitere 20 Prozent in einem Betrieb mit einer anderen Mitarbeitervertretung, im Osten sind es 34 und 13 Prozent der Beschäftigten. Für das Jahr 2015 wurde  in der Gesamtschau der vergangenen 20 Jahre ein Tiefstand des auf Beschäftigte bezogenen Deckungsgrads bei der betrieblichen Interessenvertretung festgestellt, dieser Sinkflug ist 2016 zum Stillstand gekommen.

Auch hier zeigen sich die bereits angesprochenen Betriebsgrößenunterschiede: Nur jeder 19. Kleinbetrieb (bis 50 Beschäftigte) in Westdeutschland und jeder 17. in Ostdeutschland verfügt über einen Betriebsrat. Unter den Großbetrieben (über 500 Beschäftigte) ist die Existenz eines Betriebsrats dagegen die Regel und erreicht Anteilswerte von 82 Prozent in West- und gar 95 Prozent in Ostdeutschland.

Nur eine Minderheit der in der Privatwirtschaft  (ab fünf Beschäftigte) beschäftigten Arbeitnehmer ist in Betrieben tätig, die zur Kernzone des dualen Systems der Interessenvertretung zu zählen sind, wo also sowohl ein Branchentarifvertrag Anwendung findet und ein Betriebsrat vorhanden ist. Diese Zone umfasst nur etwas mehr als ein Viertel (27 Prozent) der Beschäftigten in Westdeutschland und nur noch 14 Prozent in Ostdeutschland.

Seit 1996 ist die Kernzone des dualen Systems in beiden Landesteilen deutlich geschrumpft – und zwar um 14 Prozentpunkte im Westen (und 15 Prozentpunkte im Osten). Parallel dazu sind die weißen Flecken in der Tarif- und Mitbestimmungslandschaft gewachsen, so dass immer mehr Unternehmen sowohl keine Tarifbindung wie auch keine betriebliche Interessenvertretung haben. Ein weiteres in den vergangenen Jahren gewachsenes Segment umfasst Betriebe, die nicht (mehr) an einen Branchentarif gebunden sind, aber über einen Betriebsrat verfügen.

Ellguth/Kohaut (2017: 289) bilanzieren diese Entwicklungen so: »Insgesamt wird deutlich, dass sich die institutionelle Basis der Interessenvertretung in Deutschland nach wie vor auf dem Rückzug befindet.«

Die „Pflegemafia“ aus dem Osten reloaded: Organisierte Kriminalität, Geschäfte an und mit alten Menschen und die nicht-triviale Frage: Was tun?

Gerade in der Presse sollte man mit Sorgfalt die Worte wägen und benutzen. Dieser Satz gehört nicht dazu: »Rund 230 überwiegend russische Pflegedienste stehen im Verdacht, ein System für Abrechnungsbetrug aufgebaut zu haben.« Da wird sich der eine oder andere fragen – wieso „russische“ Pflegedienste? Was haben die in Deutschland verloren? Und stimmt das überhaupt?
Der Satz stammt aus diesem Artikel von Anette Dowideit: Hunderte Pflegedienste unter Betrugsverdacht. Und darin schreibt sie, dass das mit den „russischen Pflegediensten“ aus dem Abschlussbericht von Sonderermittlern des BKA und LKA aus Nordrhein-Westfalen hervor gehe, der ihr und dem Bayerischen Rundfunk vorliegt. Der BR veröffentlichte zeitgleich unter der Überschrift Sonderermittler vermuten bundesweites Netzwerk. Dort findet man dann diese Typisierung: »Rund 230 russisch-eurasische ambulante Pflegedienste stehen nach Erkenntnissen deutscher Ermittlungsbehörden im Verdacht, ein bundesweites System zum Abrechnungsbetrug aufgebaut zu haben.« „Russisch-eurasische“ Pflegedienste – das wird ja immer bunter. Natürlich kommen da bei nicht wenigen Lesern unangenehme Assoziationen zur „Russenmafia“ auf. Und die Berichterstattung liefert einiges Futter für diese Einordnung: »Bei einigen der 230 Unternehmen, die dem Betrugsnetzwerk angehören sollen, gehen die Ermittler zudem von Verbindungen zur Organisierten Kriminalität aus. So zum Beispiel wegen der Einrichtung von Scheinfirmen im In-und Ausland, wegen des Verdachts der Geldwäsche oder enger Verflechtungen zur Glücksspielbranche. Unter ehemaligen Firmenbetreibern sollen außerdem auch Personen sein, die von den Behörden in anderem Zusammenhang als Auftragsmörder verdächtigt werden.« Geldwäsche bis hin zu Auftragskillern? Und dann die armen Pflegebedürftigen, die von solchen Gestalten ausgenommen werden?

Nun hat sich die Autorin das nicht ausgedacht, sondern sie zitiert in ihrem Artikel aus einem Abschlussbericht „Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen durch russische Pflegedienste“, den das nordrhein-westfälische LKA gemeinsam mit dem BKA und anderen Länderbehörden erstellt hat. Also doch „russische“ Pflegedienste?

In einem weiteren Artikel von Anette Dowideit unter der Überschrift Die Verbindungen der Pflegemafia zu Auftragsmorden, Geldwäsche und Schutzgeldzahlungen findet man dann zum einen nur einen Hinweis aus der Präsentation des LKA NRW bei der Senatsverwaltung in Berlin, dass »offenbar Verbindungen zu Auftragsmord und in einem Fall zur Terrorgruppe „Islamischer Staat“ nachgewiesen« wurden, aber das bleibt dann so im Raum stehen. Zum anderen aber kann man dem Artikel entnehmen: »Die mutmaßlichen Täter kommen vor allem aus der Ukraine.« Eine Folie der LKA-Präsentation ist überschrieben mit: „Auffällig ist die hohe Anzahl von Firmenverantwortlichen mit einem Migrationshintergrund aus der Ukraine (i.d.R. deutsche Staatsangehörige).“

Also was jetzt – Russen oder Ukrainer? Irgendwie Osteuropäer oder Deutsche (oder eben beides)? Und selbst wenn das Netzwerk der Pflegedienste gesteuert wurde von Osteuropäern, um mal einen Kompromiss zu finden, haben die mit ihren Pflegediensten in Deutschland agiert und dabei – das taucht auch in den aktuellen Bereichen immer wieder auf – auf Ärzte und Apotheker zurückgegriffen. »Oft arbeiten dabei ein, zwei korrupte Ärzte mit Pflegedienstleitern und nur angeblich betreuten Senioren zusammen«, so heißt es in diesem Artikel Die „Pflegemafia“ wird zum Politikum von Hannes Heine.

Nun wird sich der eine oder andere treue Leser dieses Blogs daran erinnern – war das nicht alles schon mal Thema? Genau. Vor etwas mehr als einem Jahr, am 18. April 2016, wurde hier dieser Beitrag publiziert: Eine russische Pflegemafia inmitten unseres Landes? Über milliardenschwere Betrugsvorwürfe gegen Pflegedienste und politische Reflexe. Und der Beitrag damals beginnt so: Wenn Artikel so anfangen, dann deutet alles auf einen ganz großen Skandal hin: »Sie kommen meist aus Russland, sie sind professionell – und raffiniert. Über Kirchengemeinden suchen sie Kontakt zu Angehörigen von Pflegebedürftigen – und beginnen ihr düsteres, lukratives Business.« Und wer war Autor des erwähnten Artikels? Genau, Anette Dowideit, damals zusammen mit Dirk Banse.
Die beiden wurden so zitiert: »Ambulante Pflege ist ein lukrativer Markt, auf dem sich viele dubiose Anbieter tummeln. Seit Jahren gibt es Berichte über osteuropäische Firmen, die Kranken- und Pflegekassen abzocken, indem sie Senioren als Pflegefälle ausgeben, die in Wahrheit noch rüstig sind.« Und dann kommen bereits fast alle Fallkonstellationen, die auch jetzt wieder durch die Medienwelt getrieben werden. Heute noch angereichert um die Ermittlungserkenntnis, dass es möglicherweise ein bundesweit agierendes Netzwerk der betrügenden Firmen gibt.

Und bereits im Bundeslagebild Organisierte Kriminalität 2015, das im Oktober 2016 vom Bundeskriminalamt veröffentlicht worden ist, findet man dieses Fallbeispiel zur Organisierten Kriminalität im Wirtschaftsleben:

»In einem OK-Verfahren wegen bandenmäßigen Betrugs standen fünf deutsche Staatsangehörige mit russischem Migrationshintergrund im Fokus der Ermittlungen. Seit dem Jahr 2011 betrieben die Beschuldigten einen ambulanten Pflegedienst, um das deutsche Pflegesystem zur eigenen Gewinnmaximierung auszunutzen. Im Zuge der Ermittlungen und Durchsuchungsmaßnahmen wurden zahlreiche Beweismittel sichergestellt sowie umfangreiche Erkenntnisse zur bundesweiten Vorgehensweise der Täter gewonnen.

Nicht oder nur zum Teil erbrachte Pflegeleistungen wurden bei den Kostenträgern (Kranken- und Pflegekassen, Sozialämter) abgerechnet. Zur Verschleierung der Betrugshandlungen führten die Mitarbeiter des Pflegedienstes die Pflegedokumentation gemäß den Vorgaben der Rahmenverträge nur unzureichend durch oder nutzten zwei unterschiedliche Dienst‐ bzw. Tourenpläne – den ersten für Abrechnungszwecke, den zweiten für tatsächlich durchgeführte Leistungen.

Um die Anforderungen der Rahmenverträge zu erfüllen, machten die Pflegedienst‐Verantwortlichen gegenüber den Kostenträgern zudem falsche Angaben zum tatsächlich eingesetzten Pflegepersonal bzw. zu deren jährlichen Weiterbildungen. In diesem Zusammenhang wurden Zertifikate für einschlägige Aus- und Weiterbildungen gefälscht, so dass Mitarbeiter mit häuslicher Krankenpflege betraut werden konnten, obwohl die entsprechenden Qualifikationen dafür nicht vorlagen. Weiterhin wurden einige Pflegepatienten in die Betrugshandlungen teilweise eingebunden. Einerseits wurde ihnen Bargeld übergeben oder in Vorbereitung auf das Gespräch zur Pflegeeinstufung auf sie eingewirkt, andererseits wurden einige Mitarbeiter bewusst vom Pflegedienst eingestellt, um die Pflege der eigenen Angehörigen zu übernehmen. Schließlich konnte nachgewiesen werden, dass der überwiegende Teil der Gesellschafter des Pflegedienstes geschäftliche Verbindungen zu anderen Pflegediensten unterhielt.

Kurzbewertung:
Das Ermittlungsverfahren hat gezeigt, welch hohes Schadenspotenzial vom Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen ausgeht. Alleine in diesem Ermittlungsverfahren ist den Kranken- und Pflegekassen sowie den Sozialämtern ein Schaden in Höhe von 1,4 Millionen Euro entstanden.«

Im Grunde war das also alles schon bekannt und wir werden jetzt mit ersten Ergebnissen einer seit Jahren laufenden Ermittlungsarbeit konfrontiert, die man als herkulische Aufgabe verstehen muss, denn es gilt ja, die Betrügereien im Detail nachzuweisen. Und das ist oftmals deshalb so schwierig bis unmöglich, weil hier nicht (nur) eine kriminelle Organisation andere schädigt, sondern wir im Regelfall mit einem Netzwerk mehrere unterschiedlicher Beteiligter konfrontiert sind. In nicht unerheblichem Maße funktionieren diese Betrugsmodelle nur dann, wenn auch die Betroffenen mit von der Partie sind, was man durch direkte Rückflüsse an die „Pflegebedürftigen“ oder Beteiligung der Angehörigen an den enormen „Gewinnmitnahmen“ der kriminellen Pflegedienste aus dem bestehenden System erreicht. Aber immer muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Pflegedienste  gemeinsame Sache mit Patienten und mit Ärzten machen und Leistungen abrechnen, die es nicht gab – zum Schaden aller Versicherten.

Und hier kommen wir zu einem Grundsatzproblem: Angesichts der demografisch bedingten Zunahme an pflegebedürftigen Menschen sowie der enormen Geldmittel, die allein aus der Pflegeversicherung (über 29 Mrd. Euro im Jahr 2015, hinzu kommen die privaten Pflegeausgaben sowie die „Hilfe zur Pflege“-Leistungen im Rahmen der Sozialhilfe) fließen, ist klar, dass wir es hier mit einem richtig großen Topf zu tun haben, aus dem sich auch kriminelle Akteure bedienen wollen – vor allem, wenn sie erkennen, dass das System Anreize setzt, den Weg der Falschabrechnung einzuschlagen, denn die Gewinnmaximierungsspielräume sind hier sehr hoch bei gleichzeitig sehr niedrigem Entdeckungsrisiko.

Wir haben es also mit zwei problematischen Dimensionen zu tun:

  • Zum einen gibt es – das legen die aktuellen Ermittlungsergebnisse nahe – einen kleinen, aber hochgradig kriminellen Kern an Pflegediensten (derzeit geht es beispielsweise um 230 von gut 14.000 Pflegediensten, was nicht heißen soll, dass die wirkliche Zahl nicht weitaus höher liegen kann, aber dennoch nur einen kleinen Teil der Dienste insgesamt berührt), die oftmals eingebettet in relativ stark geschlossene Gruppen wie den Zuwanderern aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion agieren und dort komplexe Netzwerke „auf Gegenseitigkeit“ formieren können, die es überaus schwierig machen, konkrete Verfehlungen nachzuweisen.
  • Auf der anderen Seite haben wir es aber auch mit einem veritablen Systemproblem zu tun. Wenn man die Pflege in eine Minutenpflege zerlegt und diese dann zur Grundlage der Abrechnungsfähigkeit macht, dann ist es realitätsfern anzunehmen, dass die damit immer auch einhergehenden „Spielräume“ bei der Dokumentation der (angeblich) erbrachten Leistungen nicht auch mehr oder weniger stark in Anspruch nimmt, so dass wir mit einem Kontinuum fließender Übergänge zwischen partiellen Mitnahmeeffekten bis hin zu einem betrügerische Geschäftsmodell konfrontiert sind.

Bleibt wie so oft die Frage: Was tun? Und wie so oft muss an dieser Stelle voran gestellt werden: Auch wenn man sich eine andere Antwort wünschen würde, es gibt hier keine wirklich befriedigende Auflösung der angesprochenen Probleme.

Natürlich muss der harte Kern der kriminellen Akteure auf dem dafür vorgesehenen Weg der Strafverfolgung und über eine Erhöhung des Kontrolldrucks auf „auffällige“ Pflegedienste bekämpft werden. Das kann gelingen, in dem man – wie jetzt auch wieder gefordert – Schwerpunktstaatsanwaltschaften einrichtet, die in der Lage sind, das „Haifischbecken“ Gesundheit und Pflege zu durchdringen und die über den erforderlichen Spezialisierungsgrad verfügen. Und man muss an dieser Stelle dann schon die Frage aufwerfen, warum es keine genaue Kontrolle bei der Gründung bzw. der Geschäftsaufnahme gibt, die eine genaue Prüfung – und wenn Zweifel vorhanden sind – auch konkrete Inaugenscheinnahme vor Ort mit sich bringt. Eine engmaschige Begleitung könnte hier sicher eine abschreckende Wirkung entfalten.

Weitaus schwieriger wird es, wenn wir uns von den kriminellen Ausformungen im engeren Sinne entfernen und in die Regelsysteme eintauchen. Auch die würden davon betroffen sein, wenn Vorschläge verwirklicht werden, wie man sie in diesem Artikel über Reaktionen auf die jüngsten Veröffentlichungen lesen kann: Elektronische Abrechnung im Kampf gegen Pflegemafia gefordert, so ist ein Artikel von lse Schlingensiepen und Matthias Wallenfels überschrieben.

»Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz Eugen Brysch fordert Konsequenzen aus dem am Dienstag bekannt gewordenen Pflegebetrugsskandal, bei dem mafiöse Strukturen eine zentrale Rolle spielen. „Es wird höchste Zeit, dass die Pflegeleistungen elektronisch abgerechnet werden“, sagt er. Die Zettelwirtschaft aus dem vergangenen Jahrhundert müsse ein Ende haben.

Brysch geht noch einen Schritt weiter: „Ebenso ist eine einheitliche lebenslange Patientennummer notwendig.“ Vergleichbar der Steuernummer sollte sie jeder bei der Geburt erhalten und wird damit eindeutig identifizierbar. Mit der Patientennummer könnten Schummeleien von Pflegediensten, aber auch von Ärzten, Apothekern und Patienten schneller zu Tage treten, so Brysch … Handlungsbedarf erkennt er auch beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). „Wenn Identitäten der Antragsteller nicht überprüft werden, ist es nicht verwunderlich, dass eine Person mehrfach unter wechselnden Namen Pflegeleistungen erhält“, kritisiert er.«

Der Vorsitzende des Pflegerats NRW, Ludger Risse, wird in dem Artikel mit diesen Worten zitiert: »Die MDK-Prüfungen bei ambulanten Pflegediensten sind bereits sehr umfangreich und binden eine Menge Kapazitäten … „Ich wundere mich, dass ein Betrug in solchem Ausmaß überhaupt möglich ist“ …  Seiner Meinung nach müssen die Kontrollen nicht grundsätzlich schärfer werden, sondern gezielter die Lücken im System ins Visier nehmen.«
Gerade weil private Anbieter sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich die Pflege vor allem als Instrument der Gewinnmaximierung sehen, müsse man genau hinschauen.

Aber die Bundesregierung wiegelt ab: »Keinen weiteren Gesetzgebungsbedarf zur Pflegebetrugsprävention sieht der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Karl Josef Laumann (CDU). Er verweist auf die Kontrollbefugnisse des MDK, die mit dem Pflegestärkungsgesetz III ausgeweitet wurden. Bei den Pflegebetrugsfällen, die jetzt ans Licht gekommen sind, handele es sich noch um Altlasten. Alles, was jetzt bekannt werde, sei auch dem geschuldet, dass die Kontrollmöglichkeiten ausgeweitet wurden.«

Die Bundesregierung versucht, den Ball flach zu halten. Unabhängig davon plädiert Philipp Neumann in seinem Artikel Ambulante Pflege nicht unter Generalverdacht stellen: »Dass die Pflege ein attraktives Geschäftsfeld ist und damit auch für Kriminelle interessant, kann nicht überraschen. Der Markt für Gesundheitsleistungen wächst enorm. Wir leben länger und sind länger mobil. Es gibt auf diesem Markt also immer mehr Geld zu verdienen; auch ohne kriminelle Absichten ist das ein Milliardengeschäft.« Aber er weist auch auf ein Dilemma hin:

»Ambulante Pflegedienste lassen sich schwerer kontrollieren als Pflegeheime. Ein Heim ist ein halb öffentlicher Ort, amtliche Prüfungen sind dort eher und öfter möglich als in privaten Wohnungen. Die eigenen vier Wände aber sind unverletzlich. Kontrolleure können nicht unangemeldet vor der Tür stehen und sich Einlass verschaffen. Ambulante Pflege ist deshalb – trotz aller existierender Kontrollen – vor allem Vertrauenssache … Schwierig wird es, wenn alle Beteiligten unter einer Decke stecken. Nur weil im vorliegenden Fall auch wirklich alle mitgemacht haben, konnte der Betrug überhaupt funktionieren … Mehr Ermittler, Schwerpunktstaatsanwaltschaften und überhaupt Stellen, bei denen Betrug gemeldet werden kann, sind sicher hilfreich. Grundsätzlich aber besteht kein Anlass, das System der ambulanten Pflege unter Generalverdacht zu stellen. Ein Restrisiko, dass dabei etwas schiefgeht, müssen wir in Kauf nehmen.«

Das mag für den einen oder anderen resignativ daherkommen, aber eine wirklich eindeutige Alternative ist nicht zu erkennen. Man könnte natürlich an dieser Problematik andockend eine Grundsatzfrage aufwerfen wie die, ob es in der Pflege alter Menschen wirklich sinnvoll ist, gewinnorientierte Unternehmen zuzulassen oder ob gemeinnützige oder kommunale Anbieter möglicherweise besser wären, strukturell gegen die Anreize aus dem System zu wirken. So eine Debatte kann man führen, aber auch hier wird man nicht zu einfachen Antworten kommen können.