Die Rente könnte sicher sein, auch das Rentenniveau, wenn … Gestaltungsvorschläge angesichts der Baufälligkeit des „Drei-Säulen-Modells“ der Alterssicherung in Deutschland

Bekanntlich fällt es oftmals leichter, eine passgenaue und
ernüchternde Analyse sozialpolitischer Zusammenhänge vorzulegen, als
Lösungsvorschläge zu präsentieren oder wenigstens zur Diskussion zu stellen.
Dieser Aspekt wird manchem durch den Kopf gegangen sein bei der
Auseinandersetzung mit einer neuen Studie, die aufzeigen kann, dass das
„Drei-Säulen-System“ der Alterssicherung in Deutschland erhebliche Baumängel
aufweist: Ingo Schäfer zeigt in seiner Veröffentlichung Die
Illusion von der Lebensstandardsicherung. Eine Analyse der Leistungsfähigkeit
des „Drei-Säulen-Modells“
: „Auch wer heute über alle drei Wege spart, wird
nicht an das einstige Leistungsniveau der gesetzlichen Rente herankommen.“
Das Hauptproblem: Die Renten aus allen drei Säulen steigen nicht so stark wie
die Löhne und verlieren dadurch während des Bezugs massiv an Wert. Höchstens
zum Zeitpunkt des Renteneintritts kann eine idealtypische Umsetzung des
„Drei-Säulen-Modells“ wie von der Bundesregierung behauptet die
„Lebensstandardsicherung“, also das Verhältnis zwischen der Rente und
dem versicherten Einkommen (auch „Versorgungsniveau“ genannt),
zusagen – aber dann hört ja die Geschichte nicht auf und das Problem breitet sich
aus: Über die Jahre wird die Rente gemessen an den Löhnen erheblich an Wert
verlieren und das Verhältnis ständig schlechter, so Ingo Schäfer (vgl. hierzu
den Beitrag Die
Rente ist sicher. Immer weniger wert. Auch wenn man sich idealtypisch verhält
und alle drei Säulen bedient
vom 22.08.2015).

Aber was sollte und könnte
man tun, wenn man denn wollte? Dazu hat nun der Rentenexperte Johannes Steffen
eine interessante Veröffentlichung vorgelegt: Für
eine Rente mit Niveau. Zum Diskurs um das Niveau der Renten und das
Rentenniveau
, so hat er seine Ausarbeitung überschrieben. Darin findet man
nicht nur eine prägnante Zusammenfassung der rentenpolitischen Entwicklung vor
allem seit den „Rentenreformen“ der damaligen rot-grünen Bundesregierung Anfang
des Jahrtausends, sondern er zeigt Wege auf, die man gehen könnte, um das
Kardinalproblem des gesetzlichen Rentenversicherungssystems, also das sinkende
Rentenniveau, in den Griff zu bekommen. Seine besonders hervorzuhebende
Leistung besteht darin, dass die damals politisch beschlossene Absenkung des
allgemeinen Rentenniveaus, die seitdem gleichsam einen unantastbaren Charakter
zugeschrieben bekommen hat, nicht nur infrage gestellt, sondern auch eine
Umkehrung dieses rentenpolitischen Entwicklungspfades gefordert und mit
konkreten Schritten versehen wird.


»Zu Beginn des Jahrhunderts beschloss die rot-grüne
Bundesregierung eine drastische Absenkung des Rentenniveaus. Bis Anfang der
2030er Jahre wird der allgemeine Leistungsstandard der gesetzlichen Rente
demnach um rund 20 Prozent sinken. Staatlich geförderte betriebliche
Altersversorgung sowie private Altersvorsorge sollen die im Solidarsystem politisch
aufgerissene Sicherungslücke schließen.« Genau das ist nicht erreicht worden,
wie auch die Studie von Ingo Schäfer hat aufzeigen können.

Johannes Steffen weist dann auf einen systematischen, in der
allgemeinen Renten-Diskussion allerdings grob vernachlässigten Zusammenhang
hin:
In der Rentenpolitik gewinnen klientelgeleiteter Aktionismus
– dies gilt für große Teile des 
„Rentenpakets“ aus dem Jahr 2014 – und Placebo-Projekte die Oberhand, so
die in der vergangenen Wahlperiode gescheiterte und nun im Koalitionsvertrag
wieder aufgewärmte und mit dem Adjektiv „solidarisch“ drapierte  „Lebensleistungsrente“. Dazu Steffen: »Maßnahmen,
die immer auch als Ablenkungsmanöver vom derweil ungebremst weiter sinkenden
Rentenniveau politisch in Szene gesetzt werden – und Maßnahmen, die zwar das
Niveau der von ihnen begünstigten Renten anheben, die aber unter der geltenden
Anpassungsformel gleichzeitig zu einer Forcierung der Niveauabsenkung für alle
Renten beitragen.«

Das ist der entscheidende und leider sehr schmerzhafte
Punkt: Leistungsverbesserung für einige führen in der Gesamtheit aufgrund der
Mechanik der Rentenanpassungsformel dazu, dass das Kollektiv mit einer
Verschärfung der Rentenniveauabsenkung für alle konfrontiert wird, weil man
eben nicht an die Mechanik der Formel herangegangen ist.

Wie konnte es zu der gewaltigen Rentenniveauabsenkung
überhaupt kommen? Steffen verweist hier auf den fundamentalen Paradigmenwechsel
in der Rentenpolitik Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre und meint:

»Den Wechsel von einer am Leistungsziel orientierten
Einnahmepolitik (das Sicherungsziel
bestimmt die Beitragssatzhöhe
) hin zu einer am Beitragssatz orientierten
Ausgabenpolitik (die Beitragssatzhöhe
bestimmt das Sicherungsziel
).«

Zur Legitimation wurde damals zum einen auf die
demografische Entwicklung verwiesen sowie zum anderen aus der
„Standort“-Debatte der 1990er Jahre auf die angeblich nicht mehr stemmbaren
„Lohnnebenkosten“ für die Arbeitgeber aufgrund der steigenden Beitragssätze.
Hinzu kam damals »eine auf geradezu kindlichem Glauben an die unerschöpfliche
„Ergiebigkeit“ der kapitalmarktabhängigen Altersvorsorge gründende Lobpreisung
des Kapitaldeckungsverfahrens«, das dann in Form der „Riester-Rente“ in das
Alterssicherungssystem als weitere staatlich geförderte Säule eingezogen wurde.

Eine zentrale Folge des angesprochenen Paradigmenwechsels
hin zu einer am Beitragsziel orientierten Ausgabenpolitik: Der Beitragssatzanstieg
zur allgemeinen Rentenversicherung wurde faktisch auf maximal 20 Prozent bis
zum Jahr 2020 und maximal 22 Prozent bis zum Jahr 2030 gedeckelt. Und diese
Deckelung hatte Konsequenzen, denn auf der Ausgabenseite musste es nun
Ausgabenkürzungen geben – und diese nicht einmalig, sondern systematisch. Und
diese Systematik hat man realisiert über eine neue Rentenanpassungsformel, über
die dann die drastische Senkung des Rentenniveaus um rund ein Fünftel bis zu
Beginn der 2030er Jahre modelliert worden ist.
Nun ist es mittlerweile immer stärker bewusst geworden, dass
die Absenkung des Rentenniveaus im Zusammenspiel mit unterdurchschnittlichen
Einkommen (man denke hier an die vielen Niedriglöhner) und unvollständigen
Erwerbsbiografien aufgrund von Arbeitslosigkeit oder durch andere Gründe
bedingte Ausstiege aus der Beitragszahlung aus Erwerbsarbeit dazu führen muss,
dass es für bestimmte Personengruppen erhebliche Sicherungslücken im Alter
geben wird, die dazu führen werden, dass die Betroffenen auf ergänzende Leistungen
aus dem Grundsicherungssystem für Ältere angewiesen sind bzw. mit steigender
Tendenz sein werden. Darauf hat die Politik zu reagieren versucht, allerdings
wenig systematisch, wie Steffen argumentiert:

»So konzentrieren sich die wenig systematischen Ansätze von
CDU/CSU, SPD und GRÜNEN denn auch in der Hauptsache auf Maßnahmen und/oder
Instrumente, die eine Erhöhung von Anwartschaften im Einzelfall – Summe der
(persönlichen) Entgeltpunkte – zum Ergebnis haben (Anhebung des Niveaus der
Renten). Dieser Ansatz war schon für das zunächst gescheiterte Konzept der
sogenannten Lebensleistungsrente aus der vergangenen Wahlperiode kennzeichnend
und es findet seinen Niederschlag auch in dem von der großen Koalition für die
laufende Legislaturperiode angekündigten Vorhaben einer  „solidarischen Lebensleistungsrente“. So
sollen langjährig Versicherte mit 35 (bis 2023) bzw. 40 Versicherungsjahren und
nach Einkommensprüfung eine Aufwertung ihrer Pflichtbeitragszeiten erfahren,
sofern sie ansonsten – und bei (ab 2024) kontinuierlich betriebener privater
Vorsorge – im Alter auf weniger als 30 Entgeltpunkte kommen. Wird dieses Ziel
im Einzelfall verfehlt, so soll bei vorliegender sozialhilferechtlicher
Bedürftigkeit ein weiterer Zuschlag bis zu einer Gesamtsumme von 30
Entgeltpunkten gewährt werden. – Ähnlich der Ansatz der GRÜNEN in ihrem Konzept
einer Garantierente, die Versicherten bei Vorliegen von 30 und mehr
Versicherungsjahren mindestens 30 Entgeltpunkte garantieren soll.«

Beide Vorstöße kommen lobenswert daher, geht es doch darum,
den Bezug von bedürftigkeitsabhängigen Grundsicherungsleistungen nach
langjähriger Zugehörigkeit zum Pflichtversicherungssystem zu verhindern bzw. zu
reduzieren. Wer kann schon etwas dagegen haben? Aber:

»All diese Maßnahmen führen zweifelsohne zu einer
Verbesserung des Niveaus der Renten. Eine Wirkung, die im Übrigen allen
Maßnahmen zukommt, die die Guthaben auf den Versichertenkonten erhöhen. Vom
Niveau der (einzelnen) Renten streng zu unterscheiden ist das Rentenniveau und
dessen Entwicklung.«

Anders ausgedrückt: Die eine gut gemeinte Maßnahme wird
zumindest teilweise sofort wieder kompensiert durch die negativen Wirkungen,
die sich aus einer anderen Mechanik im Rentensystem ergeben, denn beim »Rentenniveau
… geht es nicht um den Umfang der Anwartschaften, also die Summe der
(persönlichen) Entgeltpunkte, sondern um deren Wert oder Bewertung.
Ausschlaggebend für den Wert der Anwartschaften ist die Höhe des aktuellen
Rentenwerts (AR). Infolge der politisch vorgegebenen Abkoppelung der Renten von
der Lohnentwicklung verlieren die Rentenanwartschaften (Entgeltpunkte) aber
kontinuierlich an Wert – immer verglichen mit dem jeweiligen Stand der Löhne.
Dieser Prozess der Entwertung von Anwartschaften wird von keiner der
aufgeführten Maßnahmen verzögert und erst recht nicht gestoppt; auch die
genannten Leistungsverbesserungen selbst sind daher von der Rentenniveausenkung
betroffen und verlieren im Laufe der Zeit kontinuierlich an Wert.«

Das alles wäre schon schlimm genug, aber es gibt noch einen
zweiten Hammer zu berücksichtigen:

»Im Zusammenhang mit der geltenden Anpassungsformel führen
sämtliche Leistungsverbesserungen ihrerseits zu einer Beschleunigung des
Wertverlustes der bereits berenteten wie auch aller noch nicht berenteten,
selbst der in Zukunft erst noch zu erwerbenden Anwartschaften.«

Es ist ein bitterer Zusammenhang, den Steffen aufzeigen
muss:

»Ein steigendes Niveau einzelner Renten führt unter der
geltenden Anpassungsformel zwingend zu einer (zusätzlichen) Verminderung des
Rentenniveaus für alle. Daher würden auch jene Maßnahmen, die der
Rentenversicherung derzeit beispielsweise zur Vermeidung steigender Altersarmut
politisch angedient werden, mit einer Dämpfung der Rentenanpassung und damit
einer zusätzlichen Senkung des Rentenniveaus für alle erkauft.«

Im weiteren Verlauf seiner Ausarbeitung belegt er diesen
allgemeinen Aspekt detailliert.
Bleibt die Frage: Was tun? Steffen plädiert für einen
rentenpolitischen „Reset“. Gemeint ist damit: Anhebung des Rentenniveaus auf
den Status quo ante. Es geht ihm also um eine sozialpolitische Rückbesinnung
auf die lebensstandardsichernde gesetzliche Rente.

Die Zielvorgabe eines lebensstandardsichernden Rentenniveaus
und dessen Stabilisierung im Zeitablauf erfordert eine neue
Rentenanpassungsformel. Hierbei sind unterschiedliche Wege möglich, je nachdem,
ob die Zielvorgabe Ausgangs- oder Endpunkt des Verfahrens ist (vgl. dazu
ausführlicher Steffen 2015: 22 ff.). Er präsentiert uns zwei Modifikationen der
Rentenanpassungsformel, mit denen man den einen Weg – „Die Renten folgen den
Löhnen“ – wie auch den anderen Weg – „das Leistungsziel dient als Vorgabe für
die Anpassungshöhe“ – beschreiten könnte.

Könnte, wenn man denn wollte.

Die Rente ist sicher. Immer weniger wert. Auch wenn man sich idealtypisch verhält und alle drei Säulen bedient

„Die Rente ist sicher“. Dieser legendäre Satz des damaligen Bundesrentenministers Norbert Blüm (CDU) in den 1980er Jahren hat mittlerweile Bonmot-Charakter, nachdem man die umlagefinanzierte Gesetzliche Rentenversicherung in ihrer öffentlichen Wahrnehmung sturmreif geschossen hat. Und die heutige Bundesregierung würde das so schlich auch nicht mehr sagen, tut es aber etwas weniger schlicht dennoch: So belehrt sie uns, dass eine zukunftseste Altersvorsorge auf drei Säulen ruhen müsse: der gesetzlichen Rente, der privaten und betrieblichen Vorsorge. Werden die drei Säulen genutzt, würde das Gesamtversorgungsniveau in fast allen Fällen langfristig ansteigen – trotz sinkendem Niveau der gesetzlichen Rente. Mit dem „Drei-Säulen-Modell“ sei also ein gleichwertiges oder gar höheres Gesamtversorgungsniveau möglich, als dies zuvor alleine die gesetzliche Rentenversicherung geleistet hat. Entspannt euch, so also die zusammengefasste Botschaft der Bundesregierung, hier zitiert nach dem ergänzenden Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht aus dem Jahr 2012. Aber stimmt das überhaupt? Auch dann, wenn sich die Betroffenen idealtypisch verhalten, also tatsächlich das tun, was die Bundesregierung von ihnen erwartet, also die mit den Rentenniveauabsenkungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung seit der Jahrtausendwende unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung einhergehenden Sicherungslücken durch private und betriebliche Altersvorsorge kompensiert?

Genau das ist die Fragestellung einer neuen Studie von Ingo Schäfer von der Arbeitnehmerkammer Bremen, die man im Original hier abrufen kann:

Ingo Schäfer: Die Illusion von der Lebensstandardsicherung. Eine Analyse der Leistungsfähigkeit des „Drei-Säulen-Modells“ (= Schriftenreihe der Arbeitnehmerkammer Bremen 01/2015). Bremen 2015

»Für seine Berechnungen ist Ingo Schäfer einen neuen Weg gegangen. Während bisher vor allem analysiert wurde, wie teuer die private Altersvorsorge ist und wie viel Rendite sie abwirft, oder dass zu wenige Menschen für das Alter vorsorgen, fragt sich der Experte: Funktioniert das Drei-Säulen-Modell denn überhaupt im idealtypischen Fall? Der idealtypische Fall ist eine Person, die immer durchschnittlich verdient, nie arbeitslos wird und auf allen Vorsorgewegen spart – also gesetzlich, privat und betrieblich, so Schäfer. Von dieser Voraussetzung geht auch die Bundesregierung seit den frühen 2000er Jahren bei ihren Modellrechnungen zum sogenannten „Gesamtversorgungsniveau in der Alterssicherung“ aus«, kann man der Mitteilung der Arbeitnehmerkammer Private Vorsorge kann Rentenlücke nicht schließen. Drei-Säulen-Modell in der Kritik vom 20.08.2015 anlässlich der Veröffentlichung der Studie entnehmen.

Schäfers Resümee ist frustrierend: „Auch wer heute über alle drei Wege spart, wird nicht an das einstige Leistungsniveau der gesetzlichen Rente herankommen.“
Das Hauptproblem: Die Renten aus allen drei Säulen steigen nicht so stark wie die Löhne und verlieren dadurch während des Bezugs massiv an Wert.

Höchstens zum Zeitpunkt des Renteneintritts kann eine idealtypische Umsetzung des „Drei-Säulen-Modells“ wie von der Bundesregierung behauptet die „Lebensstandardsicherung“, also das Verhältnis zwischen der Rente und dem versicherten Einkommen (auch „Versorgungsniveau“ genannt), zusagen – aber dann hört ja die Geschichte nicht auf und das Problem breitet sich aus: Über die Jahre wird die Rente gemessen an den Löhnen erheblich an Wert verlieren und das Verhältnis ständig schlechter, so Ingo Schäfer.

Es handelt sich um ein strukturelles Problem, denn in der gesetzlichen Rente sinkt politisch gewollt das Rentenniveau und die privaten Vorsorgeprodukte steigen während der Bezugsjahre kaum.
„Dadurch sinkt das Versorgungsniveau Jahr für Jahr während des gesamten Rentenbezugs. Gegenüber der Netto-Lohnentwicklung summiert sich dies auf einen Verlust von gut zehn Prozent bezogen auf einen Zeitraum von zwanzig Jahren“, rechnet Ingo Schäfer vor.

Als weitere Restriktion weist Schäfer wie auch viele Kritiker beispielsweise der gerne betriebenen „Rendite“-Berechnungen der privaten versus der gesetzlichen Rente auf den folgenden Tatbestand hin, der den meisten Bürgern nicht bewusst ist:
»Zusätzlich wird die Absicherung bei Erwerbsminderung und im Todesfall (für die Hinterbliebenen) massiv geschwächt. Beide Risiken sind im Gegensatz zur gesetzlichen Rente bei den Privatversicherungen in der Regel gar nicht oder nicht gleichwertig mit abgedeckt.«

Die Rentenniveauabsenkungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung wurden Anfang des Jahrtausends von Riester & Co. damit begründet, dass man den ansonsten unaufhaltsamen Anstieg des Beitragssatzes in seiner umlagefinanzierten Form (und damit der „Lohnnebenkosten“) nicht stoppen kann, wodurch die Arbeitgeber „gezwungen“ seien, Arbeitsplätze abzubauen. Auch hier ist der Befund ernüchternd:

»Anfang der 2000er Jahre gab es Berechnungen, dass der Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung ohne Leistungskürzungen auf 24 bis 26 Prozent ansteigen dürfte. Wirtschaftsnahe Forscher gingen sogar von 28 bis 29 Prozent aus. „Wenn man jetzt das Regierungsmodell von 22 Prozent Beitragssatz zur gesetzlichen Rente im Jahr 2030 plus vier Prozent Riester und zwei bis drei Prozent zusätzlicher Vorsorge nimmt, bewegen wir uns also am oberen Rand dessen, was einst vorhergesagt wurde“, so Ingo Schäfer. Dabei werde nicht berücksichtigt, dass dieser Beitragssatz im „Drei-Säulen-Modell“ bei weitem nicht ausreicht, um eine Lebensstandardsicherung wie früher die gesetzliche Rente zu gewähren und alle drei Risiken (Alter, Erwerbsminderung und Tod) abzusichern.«

Auf diese Zusammenhänge ist auch schon früher und an anderer Stelle deutlich hingewiesen worden, für einen systematischen Zugang sei hier auf die Arbeiten von Winfried Schmähl verwiesen, beispielsweise:

Winfried Schmähl: Warum ein Abschied von der „neuen deutschen Alterssicherungspolitik“ notwendig ist (= ZeS-Arbeitspapier Nr. 01/2011). Bremen: Zentrum für Sozialpolitik, 2015.

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass die Studie von Schäfer gerade von der Fallkonstellation einer idealtypischen Umsetzung des „Drei-Säulen-Modells“ ausgeht, aber aus der Debatte über Sinn und vor allem Unsinn der „Riester-Rente“ ist vielen in Erinnerung, dass gerade die unteren Einkommensgruppen gar nicht oder weit unterdurchschnittlich trotz staatlicher Förderung privat vorsorgen. Und auch eine betriebliche zusätzlichen Altersvorsorge ist bei denen, die gerade am meisten der Kompensation der abgesenkten Rentenleistungen aus der ersten Säule bedürfen, eher selten bis gar nicht gegeben. Im Ergebnis sind die bewusst produzierten Sicherungslücken noch weitaus dramatischer – und die geringer ausfallenden „Lebensstandardsicherung“ mag für viele ein Problem sein, für viele andere wird die – ceteris paribus – sichere Perspektive auf Altersarmut und Grundsicherungsrenten das größere Problem darstellen.

Einerseits eine massive Kritik an der abschlagsfreien „Rente ab 63“ und andererseits eine höchstrichterlich bestätigte Zwangsverrentung ab 63, die dazu führt, dass die zumeist armen Schlucker lebenslang noch ärmer bleiben werden

Man muss sich das mal klar machen: Da nehmen viele Menschen, die 45 Beitragsjahre nachweisen können, derzeit die von der Bundesregierung geschaffene abschlagsfreie „Rente ab 63“ in Anspruch. Und das wird an vielen Stellen bitter beklagt, ein „Aderlass“ für die deutsche Wirtschaft sei das, eine zusätzliche „Besserstellung“ der „glücklichsten“ Rentner-Generation, die es bislang gab und die es so nicht wieder geben wird. Gleichzeitig wird aber der Pfad in Richtung auf die „Rente ab 67“ keineswegs grundsätzlich verlassen, sondern die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters schreitet weiter voran, so dass die 67 für den Geburtsjahrgang 1964 gelten werden. Und man beklagt von interessierter Seite, dass die vorübergehende Ermöglichung einer abschlagsfreien Rente bereits ab dem 63. Lebensjahr – unter bestimmten, restriktiven Voraussetzungen – die beobachtbare Verlängerung des tatsächlichen Renteneintrittsalters nach oben nunmehr aufhält und bei den Arbeitnehmern falsche Erwartungen geweckt werden. Das gesetzliche Renteneintrittsalter gewinnt seine besondere Bedeutung dadurch, dass es auch die Grenze definiert, deren Unterschreitung beim Renteneintritt, der weiterhin auch vor dieser Grenze möglich ist, zu teilweise erheblichen lebenslangen Abschlägen bei den ausgezahlten Renten führt. Insofern ist es ja auch verständlich, dass viele Arbeitnehmer versuchen müssen, so lange wie nur irgendwie möglich durchzuhalten, damit sie dem Damoklesschwert der Abschläge von den zugleich im Sinkflug befindlichen Renten vor allem seit der Rentenreform der rot-grünen Bundesregierung Anfang des neuen Jahrtausends zu entgehen. Wenn dann die Bundesregierung eine Option anbietet, auch ohne Abschläge in den Rentenbezug zu wechseln, dann darf man sich nicht wirklich wundern, wenn das auch viele machen, die die Voraussetzungen erfüllen (vgl. dazu auch den Beitrag Und tschüss!? Zur Inanspruchnahme der „Rente ab 63“ und ihren Arbeitsmarktauswirkungen vom 7. August 2015).

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Einige Solo-Selbständige in Deutschland proben den Aufstand gegen die Rentenversicherung und andere möchten gerne rein

Also früher war die Welt irgendwie noch einfacher – jedenfalls aus der heutigen Perspektive, die natürlich immer auch eine verzerrte sein muss. Da gab es die große Masse der abhängig Beschäftigten, in Arbeiter und Angestellte sortiert und auf der anderen Seite der Medaille die Selbständigen. Bei den Selbständigen hatte man zum einen die vielen kleinen Kümmerexistenzen, die mit ihrem Laden mehr schlecht als recht über die Runden gekommen sind. Zum anderen die „normalen“ Selbständigen, die ein Unternehmen betrieben, in dem wiederum andere Menschen eine abhängige Beschäftigung gefunden haben. Und weil man normalerweise davon ausgehen konnte, dass so ein Selbständiger – von manchen politischen Kräften auch Kapitalist genannt – genügend Einkommen aus der Verwertung der Arbeitskraft seiner Arbeiter und Angestellten ziehen konnte, wurde unterstellt, dass hier keine „soziale Schutzbedürftigkeit“ gegeben sei, die eine Einbeziehung in die gesetzliche Sozialversicherung, die ja eine Arbeitnehmerversicherung ist, begründen könnte. Also hat man folgerichtig argumentiert, dass diese Selbständigen alleine in der Lage sind, für ihre Absicherung im Krankheitsfall zu sorgen und für eine eigene Alterssicherung beispielsweise in Form einer Lebensversicherung oder anderer Modelle vorzusorgen.

Es gab dann im Laufe der Zeit eine gewisse notwendige „Übergriffigkeit“ seitens der Sozialpolitik, die auch selbständige Existenzen wie Handwerker unter bestimmten Bedingungen unter das weite Dach der sozialen Sicherung zog, weil man hier eine offensichtliche „Schutzbedürftigkeit“ erkannt hat. Aber die meisten Selbständigen blieben weiter außerhalb des Systems und auf eigene Strategien der Absicherung angewiesen, was sie natürlich auch von einer entsprechenden Beitragszahlung befreit hat.

Nun gibt es seit vielen Jahren einen Trend, der quer zu der klassischen Vorstellung von einem Selbständigen mit einem Unternehmen und mehreren Beschäftigten liegt – gemeint ist der Trend hin zu den Solo-Selbständige, also Selbständige, die nur über sich selbst verfügen und keine weiteren Mitarbeiter beschäftigen. Und da gibt es – wie immer im Leben – echte Erfolgsgeschichten, aber auch viel Schatten.

So veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin 2013 einen Beitrag von Karl Brenke unter der Überschrift Allein tätige Selbständige: starkes Beschäftigungswachstum, oft nur geringe Einkommen:

»In den vergangenen beiden Jahrzehnten ist die Zahl der Selbständigen in Deutschland kräftig gestiegen. Dies ist fast ausschließlich auf die Entwicklung bei allein tätigen Selbständigen (Solo-Selbständigen) zurückzuführen. Besonders stark hat sich dabei die Zahl selbständiger Frauen erhöht. Auch wenn ein Teil der Solo-Selbständigen hohe Einkünfte erzielt, liegt das mittlere Einkommen dieser Erwerbstätigengruppe unter dem der Arbeitnehmer. Viele kommen über Einkünfte, wie sie Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beziehen, nicht hinaus. Der Anteil der Geringverdiener unter den Solo-Selbständigen ist zwar seit Mitte der letzten Dekade gesunken, er liegt aber immer noch bei knapp einem Drittel oder etwa 800 000 Personen.«

Schon hier gibt es Hinweise, dass für einen Teil dieser überaus heterogenen Gruppe der Solo-Selbständigen eine offensichtliche Schutzbedürftigkeit konstatiert werden muss, die dann nicht annähernd adäquat bearbeitet wird, wenn man sie zusammenwürfelt mit den anderen, die es auch gibt und die gut leben (und vorsorgen) können von ihrer Selbständigkeit. Das Problem ist eben die doch sehr große Streuung zwischen oben und unten (vgl. dazu auch den Beitrag Diesseits und jenseits der Kümmerexistenz. Arme und reiche (Solo)Selbständige, die vielen dazwischen und die Frage, was sich denn wie lohnt vom 11. Februar 2015).

Die Frage der individuellen Schutzbedürftigkeit einer selbständigen Existenz ist das eine. Das vermischt sich aber mit einem weiteren Problem, das unter dem Begriff der „Scheinselbständigkeit“ bekannt und kritisch diskutiert wird. Dahinter verbirgt sich ein recht einfaches Grundproblem: Wenn die gesamte Architektur des Systems der sozialen Sicherung in Form der verpflichtenden Sozialversicherung am Tatbestand der abhängigen Beschäftigung aufgehängt wird, mit den daraus resultierenden Abgabenfolgen für die Arbeitgeber (neben den weiteren Pflichten, die aus einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis resultieren, wie beispielsweise Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kündigungsschutzbestimmungen usw.), dann leuchtet es unmittelbar ein, dass aus der Tatsache, dass Selbständige auf eigenes Risiko arbeiten (müssen) und keine solche Bindungswirkung beim Arbeitgeber entfalten, da sie immer nur als Auftragnehmer tätig sind und sein können, die auf Rechnung arbeiten (müssen), ein gewisser Anreiz entsteht, bisher von eigenen Mitarbeitern durchgeführte Arbeiten zu substituieren durch selbständige Auftragnehmer.

Ein klassisches Beispiel aus der Vergangenheit waren dann solche Fälle wie die aus der Unternehmens-Logistik, wo bislang angestellte Fahrer von Lastkraftwagen „outgesourct“ wurden und sich selbständig machen „durften“, in dem sie den LKW gekauft und als selbstständige Fahrer betrieben haben – und dann das gleiche gemacht haben wir vorher, allerdings in einem ganz anderen Beschäftigungsstatus und für die Auftraggeber zu deutlich besseren Konditionen, hat man sich doch der „Last“ der eigenen Beschäftigten entledigt. Zugleich waren alle unternehmerischen Risiken ausgelagert auf den Solo-Selbständigen und oftmals befand sich dieser in der überaus unangenehmen Situation, dass er nur einen Auftraggeber hatte bzw. hat, den solche Fälle gibt es auch heute, so dass er diesem Auftraggeber natürlich auch bedingungslos ausgeliefert war und ist.

Der Gesetzgeber hat versucht, diese höchst problematische Entwicklung einzudämmen, in dem er den Tatbestand der „Scheinselbständigkeit“ mit für den Auftraggeber empfindlichen Sanktionen belegt hat – also eigentlich. Denn wie immer tobt sich der Teufel aus im Detail und das ist hier die Frage, wann denn der Tatbestand der „Scheinselbständigkeit“ erfüllt ist, aus der dann beispielsweise die teure Folge einer Nachzahlung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge resultieren kann.
Dazu schauen wir bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) nach, die versucht, uns das zu erläutern, denn die prüft ja auch in der Praxis, ob eine Scheinselbständigkeit vorliegt oder nicht. Als Merkmale für eine Scheinselbstständigkeit werden uns diese Kriterien serviert:

– die uneingeschränkte Verpflichtung, allen Weisungen des Auftraggebers Folge zu leisten
– die Verpflichtung, bestimmte Arbeitszeiten einzuhalten
– die Verpflichtung, dem Auftraggeber regelmäßig in kurzen Abständen detaillierte Berichte zukommen zu lassen
– die Verpflichtung, in den Räumen des Auftraggebers oder an von ihm bestimmten Orten zu arbeiten
– die Verpflichtung, bestimmte Hard- und Software zu benutzen, sofern damit insbesondere Kontrollmöglichkeiten des Auftraggebers verbunden sind,

denn, so die DRV, derartige »Verpflichtungen eröffnen dem Auftraggeber Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten, denen sich ein echter Selbstständiger nicht unterwerfen muss.«

Diese Kriterien hören sich klarer an als sie erscheinen. Und genau hier setzt eine aktuelle Protestbewegung an, die sich gegen eine Subsumtion unter einer derart verstandene „Schein“-Selbständigkeit wehrt, denn man sieht sich auch bei Erfüllung einiger dieser Kriterien dennoch als selbständig bzw. als freiberuflich tätig an.

Und wie immer in Deutschland gibt es einen eigenen Verband für diese Angelegenheiten: Der Verband der Gründer und Selbstständigen (VGSD). Und dieser Verband hat eine Petition ins Leben gerufen, die mittlerweile von mehr als 10.000 Personen unterzeichnet worden ist. Über diese Petition

»fordert (der Verband) einen „Schluss der Hexenjagd“ der Deutschen Rentenversicherung gegen vermeintlich „Scheinselbstständige“. „Auch wer fair bezahlt wird und gut fürs Alter vorsorgt, dem unterstellt die Deutsche Rentenversicherung (DRV) mittlerweile Scheinselbstständigkeit“, so Verbandsgründer Andreas Lutz, Diplom-Kaufmann und Solo-Selbstständiger in München. Der Verband fordert „klare Kriterien“ für Selbstständigkeit, die sich auch an den Arbeitsbedingungen seiner Klientel, vor allem Wissensarbeitern, orientieren müssten«, berichtet Barbara Dribbusch in ihrem Artikel Solisten gegen die Sozialgesetze.

Das Problem sind die zitierten Kriterien, die für eine Schein-Selbständigkeit sprechen (sollen). »Viele selbstständige Softwareentwickler, Coaches und Datenkaufleute, die für ein bestimmtes Projekt und einen bestimmten Zeitraum von einer Firma eingekauft werden, erfüllen diese Kriterien, ohne sich allerdings als „Scheinselbstständige“ brandmarken lassen zu wollen.« Dribbusch zitiert in ihrem Artikel als Beispiel den selbständigen IT-Berater Alexander Kriegisch.

Er »arbeitet als Projektmanagement-Coach in Firmen vor Ort, sein Tageshonorar liegt bei 1.000 Euro und höher. Als er mit vielen anderen Freiberuflern an einem Auftrag der Telekom arbeitete, ließ das Bonner Unternehmen die Auftragsverhältnisse durch Juristen prüfen – und kam zu dem Schluss, dass die Selbstständigen in den Augen der Deutschen Rentenversicherung als „Scheinselbstständige“ gelten könnten, was hohe Nachzahlungen von Sozialversicherungsbeiträgen nach sich gezogen hätte.
In der Folge verloren einige der Leute den Auftrag, andere wiederum mussten sich über eine Zeitarbeitsfirma zu schlechteren Konditionen anstellen lassen, um dann wieder für die Telekom arbeiten zu können. Kriegisch verließ das Projekt. „Ich wollte kein Scheinangestellter sein“, sagt er.«

Aber es ist nicht nur die IT-Branche, aus der diese Probleme berichtet werden. Selbst in der Pflege wird man damit konfrontiert, wie Barbara Dribbusch an einem Beispiel berichtet:

»Auch Marten Wiersma, Krankenpfleger mit Intensivpflegeausbildung und 61 Jahre alt, möchte lieber als Freiberufler in Kliniken eingesetzt werden und nicht festangestellt sein, erst recht nicht bei einer Zeitarbeitsfirma. Als Freiberufler käme er auf 8.000 Euro Bruttohonorar im Monat, als Angestellter einer Zeitarbeitsfirma hingegen nur auf 4.000 Euro brutto, berichtet Wiersma.
Der Krankenpfleger arbeitete unter anderem auch an einer Klinik in Duisburg als Selbstständiger. In einer Betriebsprüfung wurde dort Scheinselbstständigkeit festgestellt, die Klinik trennte sich von den Leuten. Es sei daraufhin schwieriger geworden, als Freiberufler zu arbeiten, erzählt Wiersma.«

Aber wo die Sonne ist (oder angeblich scheint), da gibt es auch Schatten: »Im schlecht zahlenden Kulturbereich etwa arbeiten viele selbstständige Publizisten, Lektoren und Musiktherapeuten auf Honorarbasis und sehnen eine Festanstellung mit Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall herbei – während die Situation der hochbezahlten Spezialisten im wirtschaftsnahen IT-Bereich ganz anders ist.«

Oder man denke – gerade vor dem aktuellen und absehbar anhaltenden Hintergrund der massiven Zuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland – an die Situation der ebenfalls meistens als selbständige Existenzen arbeitenden Lehrkräfte für Integrations- und Sprachkurse, die mit Hungerhonoraren abgegolten werden.

Das Thema bewegt die Politik mal wieder. Thomas Öchsner berichtet in seinem Artikel Rente für alle über aktuelle Vorstöße des Sozialflügels der CDU: »Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA) will eine Pflicht zur betrieblichen Altersvorsorge einführen. Dies geht aus dem Entwurf der CDA für ihr neues Grundsatzprogramm hervor, das die Parteigruppe im November bei ihrer Bundestagung verabschieden will.« Und die CDA bleibt nicht stehen beim Thema betriebliche Altersvorsorge, sondern erweitert das:

»Für Selbständige will der Arbeitnehmerflügel der CDU daher eine „verpflichtende Basisabsicherung“ in der Rentenversicherung einführen, „damit niemand im Alter der Grundsicherung und damit dem Steuerzahler anheimfällt“. Die frühere Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen war mit ähnlichen Plänen gescheitert. Damals gab es einen Proteststurm von Selbständigen, die sich gegen ein solche „Zwangsabsicherung“ wehrten.«

Das ist das Dilemma: Die Freiberufler und Solo-Selbständigen, die genügend verdienen, können sich tatsächlich selbst absichern und viele tun das natürlich auch. Aber die Hungerleider unter diesem Dach können das gar nicht, auch wenn sie es wollten. Und wenn man jetzt eine Zwangsabsicherung für die angesprochene Basisabsicherung in der Rentenversicherung einführen würde, dann bedeutet das natürlich: Beitragszahlung. Aber genau auf den Verzicht auf eine solche basiert das heutige Geschäftsmodell vieler armer Schlucker, die als Solo-Selbständige versuchen, den Kopf über dem Wasser zu halten. Denn nur dann können sie Aufträge und damit Einnahmen generieren, von denen sie die laufenden Ausgaben halbwegs bestreiten können – aber eben nicht die zusätzlichen Ausgaben, die mit einer entsprechenden Absicherung, ob sie nun privat oder eben gesetzlich erfolgt, verbunden wären. Also werden die aus purer Not Amok laufen müssen, während die anderen, auf der Sonnenseite der Selbständigkeit befindlichen Personen ebenfalls Sturm laufen, weil es ihre persönlichen Einnahmen belasten würde.

Wie erwähnt, bereits Ursula von der Leyen (CDU) ist als Arbeitsministerin an dieser Frage gescheitert. Wir dürfen mit Interesse verfolgen, ob die durch Mindestlohn und Rentenpaket schon reichlich angeschossene gegenwärtige Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) noch Kraft und Ideen haben wird, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen. Wetten würde ich darauf nicht, obgleich der Klärungsbedarf mehr als auf der Hand liegt.

Diesseits und jenseits der Grundsicherung im Alter: Die Legende von der massenhaften Rentner-Armut. Das ist (nicht) richtig

Das Statistische Bundesamt hat neue Zahlen zur  Inanspruchnahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung veröffentlicht: »Neben den rund 512.000 Empfängerinnen und Empfängern von Grundsicherung im Rentenalter gab es im März 2015 deutschlandweit rund 483.000 Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung wegen dauerhaft voller Erwerbsminderung«, berichten uns die Statistiker. Hier interessiert besonders der Blick auf die älteren Menschen. Immer mehr Menschen sind auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger dieser Leistung bei Bedürftigkeit ist auf über eine halbe Million Betroffene am Jahresende 2014 angestiegen. 61 Prozent der Bezieher sind Frauen. Am stärksten betroffen vom Grundsicherungsbezug sind Frauen im Rentenalter in Westdeutschland – eine Folge der Konstruktionsprinzipien der klassischen gesetzlichen Rentenversicherung mit ihrer Orientierung am Modell einer möglichst lange und ohne Unterbrechungen absolvierten Erwerbsarbeit mit Beitragszahlungen und die in Vollzeit. Bei vielen westdeutschen Frauen „rächt“ sich aus dieser Systemlogik der in früheren Jahren übliche sehr lange Ausstieg aus der Erwerbsarbeit und wenn dann wieder eine aufgenommen wurde, dann zumeist in Teilzeit oder gar geringfügiger Beschäftigung, oft gekoppelt mit einer sehr niedrigen Vergütung mit entsprechend niedrigen bis gar keinen (bei der geringfügigen Beschäftigung) Rentenansprüchen.

Die Abbildung verdeutlicht, dass in den Jahren seit Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 die Zahl der Empfänger/innen angestiegen ist auf nunmehr eine halbe Million Menschen. Die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes weist zwar für März 2015 als aktuelle Zahl  511.915 Menschen über 65 Jahre im Grundsicherungsbezug aus, ein Wert, der dem vom Ende 2014 entspricht, der in der Abbildung als letzter Wert ausgewiesen wurde – allerdings erwähnen die Statistiker, dass die aktuelle Zahl für März 2015 mit einem Erhebungsfehler verunreinigt ist:

»Die Grundsicherungsstatistik nach dem SGB XII wurde mit dem 1. Berichtsquartal 2015 neu konzipiert. Die Zahl der Empfänger/innen bezieht sich dabei immer auf den letzten Monat des Berichtsquartals. Bei der erstmaligen Erhebung kam es zur Untererfassung in verschiedenen Ländern. Für Deutschland insgesamt beträgt die Untererfassung im März 2015 schätzungsweise 10 000 bis 15 000 Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung gemäß SGB XII, der größte Teil davon in Berlin (schätzungsweise 10 000 Leistungsberechtigte).«

Interessant ist vor dem Hintergrund der seit Jahren ansteigenden Zahl an Grundsicherungsempfänger/innen im Alter dann der Artikel Die Legende von der massenhaften Rentner-Armut von Karl Doemens. Das sitzt erst einmal. Offensichtlich hat sich Herr Doemens aufgeregt. Dazu erfahren wir von ihm:

»Auf die Empörungswelle ist Verlass. Kaum lagen am Donnerstag die neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes über die Entwicklung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vor, meldeten sich die üblichen Bedenkenträger zu Wort: „Es rollt eine Lawine der Altersarmut auf uns zu“, schlug Ulrich Schneider, der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, routiniert Alarm. Und Ulrike Mascher, die Chefin des Sozialverbandes SdK, sprach von „alarmierenden“ Nachrichten für die Senioren. Mit diesem Tenor griffen auch die Nachrichtenagenturen die Meldung auf. Spiegel Online und viele Tageszeitungen am Freitag folgten. „Immer mehr alte Menschen auf Grundsicherung angewiesen“, lautet der beunruhigende Tenor.«

Doemens meint sicher nicht SdK, wie im Artikel notiert, sondern eigentlich den VdK. Der hat am gleichen Tag eine Pressemitteilung veröffentlicht unter der Überschrift VdK: Armut nimmt weiter zu.  Genau hier setzt Doemens Widerspruch an. Er bezieht sich dabei auf den vom Statistischen Bundesamt ebenfalls ausgewiesenen relativen Wert, also den Anteil der Bezieher staatlicher Hilfe an der Gesamtheit der Senioren:

»2013 betrug er 3,0 Prozent. 2014 waren es 2,9 Prozent. Der Anteil der Armen ist also nicht etwa gestiegen, sondern leicht gesunken! … Den Rentnern geht es im Schnitt unverändert – vielleicht sogar ein bisschen besser.«

Nehmt das, ihr „Armutslobbyisten“! Wobei Doemens selbst einen anderen Schmäh-Begriff präferiert: „Senioren-Lobby“. Aber seine Argumentation ist erst einmal durchaus gewichtig:

»… entblößt  eine weitere Zahl endgültig die Einseitigkeit der Senioren-Lobby. Niemand hat sich nämlich die Mühe gemacht, die Quote der Senioren-Stütze-Empfänger mit dem Anteil  der Hilfsbedürftigen im Rest der Gesellschaft zu vergleichen. Auch das kann man auf der Homepage des Statistischen Bundesamtes leicht tun: „7,38 Millionen Empfänger von Mindestsicherung“, meldete das Amt im Dezember 2014. Demnach beziehen 9,1 Prozent der Gesamtbevölkerung Hartz IV, Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter oder Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder der Kriegsopferfürsorge. Alleine sechs Millionen Frauen und Männer sind auf Hartz IV und eine weitere Million auf Sozialhilfe angewiesen. Mit anderen Worten: Im Schnitt benötigt jeder elfte Deutsche staatliche Unterstützung. Bei den Senioren ist es jeder Vierunddreißigste.«

Sein Punkt: »2,9 Prozent bei den Senioren, aber 9,1 Prozent der Gesamtbevölkerung – das lässt vermuten, wo die wirklichen Probleme liegen.«

Ihm ist zuzustimmen, dass diese Daten prima facie offensichtlich nicht geeignet sind, Altersarmut als irgendwie relevantes Problem herauszustellen, insofern könnte man sich seinem Vorwurf, hier werde seitens der Sozialverbände völlig überzogen, anschließend.

Aber wie immer lohnt es sich, vorher noch einmal genauer hinzuschauen.

Zum einen wäre das Problem der „verdeckten Armut“ zu berücksichtigen (vgl. dazu bereits meinen Blog-Beitrag aus dem November 2014: Sie wächst und wird weiter wachsen – die Altersarmut. Neue bedrückende Zahlen am Anfang einer bitteren Wegstrecke). Die Verteilungsforscherin Irene Becker hat dazu 2012 einen Beitrag publiziert, in dem sie die Ergebnisse einer Untersuchung vorgestellt hat, die der Frage nachgegangen ist, wie sich die verdeckte Armut unter Älteren seit der 2003 erfolgten Einführung der „Grundsicherung im Alter“ entwickelt hat (vgl. Irene Becker: Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter. In: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 2, 2012, S. 123-148). Die Ergebnisse ihrer Studie bezogen sich auf das Jahr 2007: Von gut einer Million Menschen ab 65 Jahren, denen damals Grundsicherung zustand, bezogen nur 340.000 tatsächlich Leistungen. Die „Quote der Nichtinanspruchnahme“, so der technische Begriff für die Dunkelziffer der Armut, betrug 68 Prozent.

Nun haben sich die Verhältnisse – möglicherweise – seit damals geändert. Wir wissen darüber aber nichts genaues und es ist durchaus plausibel, immer noch von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer auszugehen, gerade bei den älteren Menschen, bei denen beispielsweise Scham-Faktoren hinsichtlich der Inanspruchnahme einer bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Hinzuweisen wäre auch auf den Tatbestand, dass die EInkommens- und vor allem die Vermögensanrechnung im SGB XII, wo die Grundsicherung im Alter normiert ist, restriktiver erfolgt als im SGB II, also im „normalen“ Hartz IV-System.

Auf alle Fälle sollte nicht vergessen werden, dass die – auch jetzt wieder – in der öffentlichen Wahrnehmung stehende Zahl an Grundsicherungsempfängern bei den Älteren nur als eine Untergrenze für das weite Feld der „Altersarmut“ anzusehen ist.

Dazu muss man einen vertiefenden Blick werfen auf das, was man eigentlich unter „Altersarmut“ versteht (vgl. beispielsweise die Infoplattform „Altersarmut“ des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mit einer hilfreichen Materialsammlung zu diesem Themenfeld).
Ein Zusammenfassung der Diskussion über die Messung von „Altersarmut“ findet sich auch in der von Johannes Geyer vom DIW verfassten und im April 2015 veröffentlichten Publikation Grundsicherungsbezug und Armutsrisikoquote als Indikatoren von Altersarmut. Darin finden sich interessante Hinweise.

Ein zentrales Argument von Doemens ist ja der Hinweis auf die mit 2,9 Prozent deutlich niedrigere Quote an Grundsicherungsempfänger/innen als die 9,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Hier erweitert Geyer den Horizont und kommt zu einer interessanten Annäherung:

»Betrachtet man die Armutsrisikoquote – nach dieser gelten Personen als armutsgefährdet, wenn ihr bedarfsgewichtetes verfügbares Einkommen weniger als 60% des Medianeinkommens beträgt, mehr dazu unten – ergibt sich auf der Basis der Europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) für das Jahr 2013, dass 14,9% aller Personen ab 65 Jahren als armutsgefährdet galten, in der jüngeren Bevölkerung lag der Wert mit 16,4% nur unwesentlich höher. Bei den Älteren liegt die Armutsrisikoquote also fünfmal so hoch wie die Grundsicherungsquote.«

Fazit: Man sollte sich nicht darauf begrenzen (lassen), die offizielle Zahl und Quote der Empfänger/innen von Grundsicherung im Alter nach dem SGB XII als Indikator für „Altersarmut“ zu verwenden, dass verkürzt die tatsächlich davon betroffene Grundgesamtheit ganz erheblich.
Vor allem sollt man sich aber immer auch darüber bewusst sein, dass zwar derzeit auf der Ebene der Zahlen kein gravierendes Problem mit (Einkommens)Altersarmut bestehen mag, sich dies aber ohne tiefgreifende Reformen des sozialen Sicherungssystems in den vor uns liegenden Jahren mit Sicherheit erheblich ändern wird, denn heute profitieren wir immer noch von der – ansonsten von den interessierten Kreisen gerne geschmähten – gesetzlichen Rentenversicherung und ihrem Erfolg, was die Absicherung angeht. Aber das lässt sich aus der Vergangenheit eben nicht einfach fortschreiben in die Zukunft. Denn, so Johannes Geyer in der 2014 veröffentlichten Publikation Zukünftige Altersarmut:

»Das Einkommen im Alter hängt von der Erwerbshistorie, den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und vom Haushaltskontext ab. Die langfristige Abschätzung von Einkommensrisiken im Alter ist schwierig. Bereits heute zeichnen sich allerdings bestimmte Risikogruppen ab. Langzeitarbeitslosigkeit oder Niedriglohnbeschäftigung, die schon in der Erwerbsphase ein Armutsrisiko darstellen, wirken kumuliert im Ruhestand fort. Zugleich werden die Einkommen aus der GRV nicht mehr ausreichen, um das Einkommensniveau im Ruhestand zu erhalten.« (S. 8)

»Millionen heutiger und künftiger Rentnerinnen und Rentner bezahlen für den zur Jahrhundertwende vorgenommenen Paradigmenwechsel in der Alterssicherung mit einem stetig sinkenden Versorgungsniveau«, so der ausgewiesene Rentenexperte Johannes Steffen im November des vergangenen Jahres vor dem Hintergrund des damals veröffentlichten Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung (»Drei-Säulen-Modell« der Alterssicherung ist gescheitert. Trotz geförderter Privatvorsorge keine Lebensstandardsicherung).

Ceteris paribus – also ohne fundamentale Reformen der sozialen Sicherungssysteme – werden wir in den vor uns liegenden Jahren noch eine Rentner-Armut zu sehen bekommen, deren Zwangsläufigkeit angesichts der politisch gewollten und gemachten Ausrichtung der Systeme die „Jetzt-Betrachter“ scheinbar nicht erkennen können (oder wollen). Ceteris paribus bedeutet bekanntlich „unter sonst gleich bleibenden Bedingungen“. Das nun wieder verweist darauf, dass wir es mit Sozialpolitik zu tun haben und die ist nun mal nicht „alternativlos“, wie manche gerne behaupten (müssen), um vom eigenen Nichtstun abzulenken. Sondern politische Entscheidungen können so oder anders ausfallen. Diese grundsätzliche Option lässt hoffen, dass wir dann nicht das zu sehen bekommen, was c.p. ansonsten zu erwarten wäre.