Tödliche Ungleichheit: Männlich, arbeitslos, zwischen 30 und 59 Jahre alt. Dann ist das Sterberisiko acht Mal höher als das von Männern am oberen Ende

Viele kennen die Jubelmeldungen über eine stetig steigende Lebenserwartung. Und weil wir angeblich alle immer älter werden, kommen sofort interessierte Kreise ans Tageslicht, die uns verkaufen wollen, dass vor diesem Hintergrund einer weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters zum einen unumgänglich sei, zum anderen aber auch unproblematisch, siehe gleichzeitig die steigende Lebenserwartung. Das wurde und muss äußerst kritisch bewertet werden, denn hier wird wie so oft mit Durchschnittswerten operiert, die möglicherweise mehr verdecken als sie uns weiterhelfen. Denn schaut man sich beispielsweise die Streuung der Lebenserwartungswerte an, dann wird schnell erkennbar, dass es eine erhebliche und zugleich sozial höchst selektive Spannbreite gibt. Vereinfacht gesagt: Arm stirbt (deutlich) früher und Wohlstand bzw. Reichtum führen natürlich nicht für alle, aber eben für viele auf der (materiellen) Sonnenseite des Lebens zu einem deutlich längeren Leben.

»Diese Grafik zeigt das Sterberisiko unter den Einflussfaktoren Einkommensniveau und Bildungsstand für Männer und Frauen in Ost- und Westdeutschland. Dabei ergeben sich 20 unterschiedliche Einkommens- und Bildungsgruppen, die alle zum Referenzwert 1, der Gruppe mit der höchsten Bildung und dem höchsten Einkommen ins Verhältnis gesetzt werden. In Ostdeutschland zählen 14 Prozent der Männer zur Gruppe mit dem niedrigsten Einkommen und der niedrigsten Bildung. Im Vergleich zur Gruppe Männer mit dem höchsten Einkommen und der höchsten Bildung, haben sie ein achtfaches Risiko zu sterben.« Quelle: MPIDR, 08.10.2019

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Langzeitarbeitslose und ihr Stigma im Bewerbungsprozess bei Arbeitgebern. Diesseits und jenseits persönlicher Vermittlungshemmnisse

Von oben betrachtet lesen sich die frohen Botschaften vom Arbeitsmarkt beispielsweise so: »Der Arbeitsmarkt entwickelte sich 2018 weiter sehr gut. Die Erwerbstätigkeit hat wegen des Aufbaus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung kräftig zugenommen. Durchschnittlich 44,8 Millionen Menschen gingen im Jahr 2018 einer Erwerbstätigkeit nach – darunter hatten 32,9 Millionen ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. Noch nie seit der Wiedervereinigung Deutschlands hatten so viele Menschen eine bezahlte Arbeit. Ohne Zuwanderung und einer gestiegenen Erwerbsneigung wären diese Zuwächse jedoch nicht machbar gewesen. Die nicht realisierte Arbeitskräftenachfrage (hier in Form gemeldeter Arbeitsstellen) erreichte 2018 – mit rund 800.000 – ebenfalls einen Höchstwert … Für Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung werden die niedrigsten Stände seit der Wiedervereinigung ausgewiesen.« So beginnt dieser Bericht der Bundesagentur für Arbeit:

➔ Bundesagentur für Arbeit (2019): Arbeitsmarktsituation von langzeitarbeitslosen Menschen, Nürnberg, Juni 2019

Vor diesem allgemeinen Hintergrund wird man annehmen können und dürfen, dass auch die besondere Problemgruppe der langzeitarbeitslosen Menschen ebenfalls erkennbar profitiert haben von der guten Arbeitsmarktentwicklung. Und offensichtlich zeigt ein erster Blick auf die Daten genau das:

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Eine Wahlnachlese: Wie war das eigentlich mit den „Abgehängten“ und den Nichtwählern?

Der 3. Oktober wurde als Tag der Deutschen Einheit im Einigungsvertrag 1990 zum gesetzlichen Feiertag in Deutschland bestimmt. Nach einem durch die Bundesländer rollierenden System fanden die offiziellen Feierlichkeiten in diesem Jahr in Mainz statt. Wenige Tage nach der Bundestagswahl vom 24. September 2017. Deren „tektonischen Verwerfungen“ dominieren bis heute die Berichterstattung in den Medien – und die Gedanken derjenigen, die sich überlegen, was auf uns zukommen wird in der neuen Legislaturperiode. Derzeit sieht alles danach aus, dass es auf eine „Jamaika“-Koalition hinauslaufen wird, also ein Regierungsbündnis von Union, FDP und Grünen. Soweit man das derzeit absehen kann, wird es noch so einige Wochen dauern, bis die Akteure sich auf einen Koalitionsvertrag verständigen und es wird – gerade hinsichtlich sozialpolitischer Themen – nicht einfach werden, sich auf ein gemeinsames Programm zu verständigen.

Während die beiden Parteien der bisher regierenden Großen Koalition schmerzhafte, „historische“ Verluste eingefahren haben, die bei der Sozialdemokratie zu dem noch am Wahlabend angekündigten Gang in die parlamentarische Opposition und bei der Union zu (bislang) keiner irgendwie erkennbaren Reaktion geführt haben, dreht sich selbst nach der Wahl vieles um die AfD, die mit 12,6 Prozent einen fulminanten Einzug in den Deutschen Bundestag eingefahren hat. Auch im Vorfeld (und damit sicher für das eine oder andere Prozent verantwortlich) kreiste die Debatte in den Medien oft (und einseitig) um die AfD und „ihre“ Themen, vor allem um die Flüchtlingsthematik. 

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Aus dem Schattenreich des deutschen „Jobwunders“. Langzeitarbeitslose als Gegenstand von Sonntagsreden und die Realität des Haushalts

Man hat sich fast schon daran gewöhnt, an die Jubelmeldungen vom deutschen Arbeitsmarkt. Rekordwerte bei der Zahl der Beschäftigten („so hoch wie nie“), Rekordwerte bei den offiziellen Arbeitslosenzahlen („sie niedrig wie nie“) und überhaupt scheinen Arbeitslose in Zeiten eines (scheinbaren) und in den Medien immer öfter verhandelten Fachkräftemangels irgendwie auf der Flucht zu sein. Problem gelöst.

Nun weiß jeder, der sich mit dem realen Arbeitsmarkt beschäftigt, dass es „die“ Arbeitslosen nicht gibt, sondern wir mit ganz unterschiedlichen Menschen und Schicksalen konfrontiert sind. Bei aller damit verbundenen Unübersichtlichkeit kann man rückblickend auf alle Fälle festhalten, dass besonders eine (in sich erneut überaus heterogene) Personengruppe von der insgesamt guten Arbeitsmarktlage nicht oder nur wenig hat profitieren können – die Langzeitarbeitslosen.
Für viele der Betroffenen wird es immer schwieriger, irgendeinen Zugang zu finden – selbst die Förderung der Hartz IV-Empfänger wurde in den vergangenen Jahren quantitativ massiv nach unten gefahren und zugleich wurde das Förderrecht derart restriktiv ausgestaltet, dass man kaum noch sinnvolle Maßnahmen machen kann, selbst wenn man das wollte. Erschwerend kommt hinzu, dass die Mittel für die Arbeitsmarktförderung der Hartz IV-Empfänger (der sogenannte „Eingliederungstitel“) mit den Mitteln für die Verwaltungsausgaben der Jobcenter gegenseitig deckungsfähig sind, man kann als von einem Topf in den anderen umschichten.

Es wird jetzt viele nicht verwundern, dass man das auch gemacht hat in den vergangenen Jahren und sogar in einem immer größeren Umfang. Allerdings nur in die eine Richtung, also von den Eingliederungsmitteln hin zu den Verwaltungsausgaben der Jobcenter, die strukturell unterfinanziert waren und sind.

Die Eingliederungsmittel für die Hartz IV-Empfänger wurden und werden im Ergebnis von zwei Seiten in die Mangel genommen: Seit 2011 bis vor kurzem gab es eine massive Absenkung der dafür zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel und von denen wurde dann ein immer größer werdender Brocken von den Jobcentern für deren Verwaltungskosten entnommen. 766 Millionen Euro Umschichtung: Jobcenter stopfen Löcher im Verwaltungshaushalt mit Fördergeldern – so ist beispielsweise ein Beitrag von O-Ton Arbeitsmarkt aus dem Juli 2017 überschrieben: »Mit rund 766 Millionen Euro wurden 18 Prozent des Eingliederungsetats nicht für den ursprünglichen Zweck genutzt – fast jeder fünfte Euro … 2011 waren es noch 49 Millionen beziehungsweise knapp ein Prozent der Mittel für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen.« Vgl. dazu auch den Beitrag Jobcenter: Die Notschlachtung eines Sparschweins für das Auffüllen eines anderen? Wieder ein skandalöser Rekord bei den Umschichtungen von Fördermitteln hin zu den Verwaltungsausgaben vom 27. Februar 2017.

Aber in Zukunft soll ja alles besser werden. Es stehen ja Bundestagswahlen ins Haus. So finden wir in dem bescheiden als „Regierungsprogramm“ titulierten Wahlprogramm von CDU/CSU „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ unter der hoffnungsvollen Überschrift „Langzeitarbeitslosen helfen“ auf S. 12 diese Ausführungen:

  • CDU und CSU wollen eine Chance auf Arbeit für jeden Menschen in Deutschland. Denn Arbeit dient der Selbstverwirklichung des Einzelnen und schafft Lebensqualität. Wir finden uns mit der hohen Zahl von Langzeitarbeitslosen nicht ab. Wir werden ihre Qualifizierung, Vermittlung und Re-Integration in den Arbeitsmarkt deutlich verbessern.
  • Langzeitarbeitslosen, die aufgrund der besonderen Umstände auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Chance haben, werden wir verstärkt die Möglichkeit geben, sinnvolle und gesellschaftlich wertige Tätigkeiten auszuüben. Das ist ein starker Beitrag für den Zusammenhalt in unserem Land.
  • Wir werden finanzielle Mittel bereitstellen, damit jungen Menschen, deren Eltern von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind, in ganz Deutschland der Weg in Ausbildung und Arbeit geebnet wird.

Das hört sich doch gut an – bleibt aber ausreichend im Nebulösen, damit man daraus nicht wirklich handfeste und mit konkreten Ausgaben verbundene Ableitungen machen kann.

Und die SPD hat ihr Wahlprogramm immerhin unter diese Überschrift gestellt: Zeit für mehr Gerechtigkeit. Unser Regierungsprogramm für Deutschland. Da muss doch auch was für die Abgehängten am Arbeitsmarkt dabei sein. Und wir werden auf S. 27 fündig:

»Trotz der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt gibt es noch viele Menschen, die über einen längeren Zeitraum arbeitslos sind. Gerade sie brauchen individuelle und passgenaue Unterstützung, um durch Teilhabe am Arbeitsleben auch (wieder) gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen. Die Rahmenbedingungen in den Jobcentern und deren personelle und finanzielle Ausstattung wollen wir daher so verbessern, dass diese individuelle Unterstützung auch geleistet und eine hohe Beratungs- und Förderqualität sichergestellt werden können. Dabei werden wir die Interessen der Arbeitslosen stärker berücksichtigen und ihre Rechte stärken.

Wir wollen Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren und werden deshalb öffentlich geförderte Beschäftigung ausbauen und einen dauerhaften, sozialen Arbeitsmarkt schaffen.

Das Bundesprogramm „Soziale Teilhabe“ werden wir als Regelleistung in das Sozialgesetzbuch II übernehmen. Mit dem sozialen Arbeitsmarkt schaffen wir neue Perspektiven für Langzeitarbeitslose, die auf absehbare Zeit keine realistischen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Das ist auch von hoher Bedeutung für Regionen, die in besonderem Maße von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind.«

Flankenschutz gibt es dafür sogar von der Bundesagentur für Arbeit, die mit Detlef Scheele seit einiger Zeit einen neuen Chef hat. »Die Blaupause steht, spätestens bis zum Jahresende sollen erste Projekte anlaufen: Nach nicht einmal einem halben Jahr im Amt demonstriert der neue Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit Entschlossenheit im Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit. Detlef Scheele macht sich ein Problem zur Chefsache, das seit Jahren bleischwer auf den Schultern des BA-Vorstands lastet. Er will in kleinem Maßstab demonstrieren, dass mit der notwendigen Entschiedenheit und ausreichend Geld beim Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit weitaus mehr möglich ist als es bisher den Anschein hatte«, kann man diesem Artikel entnehmen: Blaupause gegen die Langzeitarbeitslosigkeit. Darin findet man auch diesen Passus:

»Testweise sollen Langzeitarbeitslose in einigen Regionen außerdem intensiver betreut werden. Betroffene müssten häufiger damit rechnen, zu Gesprächen eingeladen zu werden. Dabei sollen eingehend Talente analysiert und spezifische Fördermaßnahmen angeboten werden.

Sollte auch das nicht fruchten, plant Scheele einen sozialen Arbeitsmarkt: Für schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose will die Bundesagentur öffentlich geförderte Jobs anbieten – vor allem dort, wo sich Bundesländer an der Finanzierung der Stellen beteiligen. Das sei aber nur für wenige Betroffene geplant, stellt Scheele klar.«

Damit jetzt keiner auf falsche Gedanken kommt, relativiert er seinen Ansatz gleich höchstselbst: „Wir haben Mittel im SGB II (Grundsicherung), aber die reichen nicht für größere Sprünge. Wir können aber im kleinen Rahmen zeigen, was man tun könnte, wenn man mehr Geld hätte. Wir werden deshalb in einigen ausgewählten Regionen starten. Da werden die Bäume nicht in den Himmel wachsen“, macht der BA-Chef deutlich. An anderer Stelle – Neue Regierung bei Hartz-IV-Finanzen gefordert – plädiert Scheele für mehr Geld, allerdings ohne eine konkrete Hausnummer zu nennen und fast schon devot daherkommend.

Wieder zurück und mit Blick auf die Positionierungen von Union und SPD in ihren Wahlprogrammen: Es heißt bekanntlich „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“ und diese Lebensweisheit ist im vorliegenden Fall besonders angezeigt. An anderer Stelle habe ich mit Blick auf das Thema Arbeitsmarktpolitik in den Wahlprogrammen der Parteien mit partiellen Ausnahmen von einer generellen „arbeitsmarktpolitischen Müdigkeit“ gesprochen, die man hinsichtlich der anstehenden Bundestagswahl (vgl. dazu Sell, S. (2017): Arbeitsmarktpolitik in den Wahlprogrammen der Parteien. Eine Bestandsaufnahme vor der Bundestagswahl 2017, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 26/2017, S. 18-24). Und mit Blick auf die beiden großen Parteien lässt sich durchaus bilanzieren, dass die Vorschläge derart allgemein gehalten bzw. im Fall der SPD auf einen bereits als Modellprogramm installierten Förderansatz begrenzt sind, dass man nicht wirklich viel erwarten sollte. Sonntagsreden sind das eine, die Wirklichkeit das andere.

Und dazu passt dann wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge (in diesem Fall der Langzeitarbeitslosen) dieser Bericht von Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung: Regierung will weniger Geld für Langzeitarbeitslose ausgeben: »Union und SPD kündigen in ihren Wahlprogrammen an, mehr für Langzeitarbeitslose tun zu wollen. Im Bundeshaushalt findet sich davon wenig wieder. Der Etat für 2018 sieht für die sogenannten „Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“ sogar weniger Geld vor als bislang.«

Die Wirklichkeit wird hier abgebildet über einen Blick in den mehr als 1000 Seiten starken Entwurf für den Bundeshaushalt für 2018, den die Bundesregierung Ende Juni beschlossen hat – mit dem ernüchternden Befund, dass nicht mehr, sondern weniger Geld für die Förderung von Jobsuchenden im Hartz-IV-System vorgesehen ist, worauf Brigitte Pothmer, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, hinweist.

»2017 waren 4,443 Milliarden Euro innerhalb des Hartz-IV-Systems für „Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“ vorgesehen. 2018 plant Schäuble mit 4,185 Milliarden Euro, also genau 258 Millionen Euro weniger. Bei den Verwaltungskosten für die staatliche Grundsicherung (Hartz IV) sind 2018 noch 4,55 Milliarden Euro vorgesehen. 2016 wurden aber etwa 5,13 Milliarden Euro ausgegeben. In den vergangenen Jahren wurden deshalb stets Hunderte Millionen aus dem Topf für die Förderung und Qualifizierung von Arbeitslosen herausgenommen, um steigende Ausgaben in den Jobcentern für Personal, Gebäude oder Energie auszugleichen. Für Pothmer ist klar: Bleibt es bei diesen Etatansätzen, müssen die Jobcenter wieder Geld umschichten.«

Ausführlich und überaus detailliert hat darüber am 09.08.2017 Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) berichtet: Bundeshaushalt 2018: „aktive Arbeitsmarktpolitik“ und „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (Entwurf). Dort sind die Haushaltsdaten detailliert aufgeführt, die Abbildung am Anfang dieses Beitrags basiert auf dieser Zahlengrundlage.

In dem Artikel von Thomas Öchsner wird aber auch auf Differenzen innerhalb der Bundesregierung hingewiesen: »Geplant wurde das alles … gegen den Willen von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Wäre es nach ihr gegangen, hätte Schäuble für die Arbeitsförderung und die Verwaltungskosten im Hartz-IV-System etwa eine Milliarde Euro mehr an Mitteln veranschlagen müssen, heißt es im Bundesarbeitsministerium. Mit dieser Forderung konnte sie sich aber bei Schäuble und Kanzlerin Angela Merkel nicht durchsetzen. Auch Nahles hält die Arbeit der Jobcenter für „strukturell unterfinanziert“.«

Jobcenter: Die Notschlachtung eines Sparschweins für das Auffüllen eines anderen? Wieder ein skandalöser Rekord bei den Umschichtungen von Fördermitteln hin zu den Verwaltungsausgaben

Die Überschrift des Artikels muss man tatsächlich wörtlich nehmen: Jobcenter verheizen Fördergeld für Arbeitslose. »Viel Geld für eigenes Personal statt für die Arbeitslosen: Dass die Jobcenter in den Fördertopf greifen, hat fast schon Tradition. Im vergangenen Jahr waren es 764 Millionen Euro mehr als geplant.«

Und weiter kann man dem Bericht entnehmen: Die mehr als 400 Jobcenter in Deutschland haben im vergangenen Jahr 5,1 Milliarden Euro an Bundesmitteln für ihre Personal- und Verwaltungskosten ausgegeben. Das waren 764 Millionen Euro mehr, als dafür im Bundeshaushalt eigentlich vorgesehen waren. Der zusätzliche Bedarf wurde von den Jobcentern dadurch gedeckt, dass sie weniger Geld für die Förderung von Langzeitarbeitslosen ausgaben als im Bundeshaushalt vorgesehen. Nun wird sich der eine oder andere Frage, wie das sein kann, dass die Jobcenter, um ihre Verwaltungsausgaben zu decken, einfach so in einen ganz anderen Topf greifen und dort Gelder entnehmen können, die doch für ein ganz anderes Anliegen bestimmt sind. „Gegenseitige Deckungsfähigkeit“ nennt man haushaltsrechtlich das, was so ein Vorgehen ermöglicht. Weniger geschwollen könnte man das auch als Fördergeldklau bezeichnen.

Seit Jahren nutzen die Jobcenter stetig steigende Summen der Eingliederungsmittel, mit denen eigentlich arbeitsmarktpolitische Maßnahmen für Menschen im Hartz IV-System finanziert werden sollen, um ihre Verwaltungskosten zu decken. Und Jahr für Jahr – die Abbildung am Anfang des Beitrags verdeutlicht die Größenordnung der Geldbeträge, um die es hier geht – muss erneut ein jeweils historischer Höchststand bei den Umschichtungen vermeldet werden.

Der neue Wert von 764 Mio. Euro geht zurück auf eine Schriftliche Frage der grünen Bundestagsabgeordneten Brigitte Pothmer an die Bundesregierung und die Antwort des BMAS. Darin wird ausgeführt, dass den Jobcentern zur Finanzierung ihres Personals, der Büromieten und der Heizung, also den Verwaltungskosten, für das vergangene Jahr 4,366 Mrd. Euro im Haushalt zur Verfügung gestellt wurden. Die Hartz IV-Verwalter haben aber tatsächlich 5,313 Mrd. Euro dafür ausgegeben. Offensichtlich war der Finanzbedarf der Jobcenter deutlich – nämlich um 764 Mio. Euro – höher als das, was man für sie im Haushalt angesetzt hat. Nun könnte der unbedarfte Beobachter auf die naheliegende Idee kommen, dass man – wenn man sich verschätzt hat bei der Planung – die fehlenden Mittel eben zusätzlich zur Verfügung stellen muss. Nicht aber in diesem Fall, das Bundesarbeitsministerium schreibt in der Antwort lapidar: „Die Mehrausgaben wurden aus dem Titel „Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“ (Eingliederungstitel) gedeckt.

Also schauen wir uns einmal an, was denn dafür zur Verfügung stand und was tatsächlich verausgabt wurde: Im Eingliederungstitel wurden 2016 einschließlich von nicht verausgabten Mitteln in Höhe von 350 Mio. Euro aus dem Vorjahr 4,496 Mrd. Euro für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ausgewiesen. Tatsächlich ausgegeben aber wurden im vergangenen Jahr nur 3,368 Mrd. Euro. Aus der offensichtlichen Differenz zwischen Soll und Ist hat man nun wie beschrieben 764 Mio. Euro in den Verwaltungskostentopf umgepflanzt und es bleiben dann immer noch 363 Mio. Euro nicht verausgabte Mittel übrig, die nun in das nächste Haushaltsjahr, also das laufende Jahr 2017, übertragen werden.

Zur Einordnung dieser Zahlen muss man wissen, dass die Mittel für Eingliederungsleistungen im Hartz IV-System im Jahr 2010 bei 6,4 Mrd. Euro lagen und dann bis zum Jahr 2013 auf 3,3 Mrd. Euro gleichsam halbiert worden sind – die umfangreichste Kürzung in der Geschichte der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Und wir reden hier „nur“ über die zur Verfügung gestellten Mittel, noch gar nicht über die Frage, was man denn überhaupt mit dem Geld machen kann und vor allem, was man tatsächlich fördert. Wenn man diesen Aspekt berücksichtigt, müsste man der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, dass parallel das Förderrecht im SGB II in mehreren gesetzgeberischen Schritten deutlich restriktiver ausgestaltet wurde, vor allem im Bereich der für einen nicht kleinen Teil der Hartz IV-Empfänger so wichtigen öffentlich geförderten Beschäftigung, von länger laufenden und mit einem Berufsabschluss versehenen Qualifizierungsmaßnahmen ganz zu schweigen. das hat dazu geführt, dass nicht nur deutlich weniger Mittel zur Verfügung stehen, sondern auch das, was dann noch gemacht wird (werden kann), oftmals mehr als fragwürdige Maßnahmen sind, die dem Muster „quick and dirty“ folgen.

Man könnte an dieser Stelle dieses Fazit zu Protokoll geben:

»Der eigentliche Skandal ist der beklagenswerte Tatbestand einer mittlerweile doppelt skelettösen Unterfinanzierung – sowohl des Budgets für arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen wie auch der Jobcenter an sich. Und das in Zeiten, in denen viele Jobcenter bereits „Land unter“ gemeldet haben bevor die nächste große – wie nennt man das heute? – „Herausforderung“ auf sie zukommt, also die Betreuung und Versorgung mehrere hunderttausend Flüchtlinge.«

Das stammt übrigens aus einem Blog-Beitrag vom 30. Januar 2016: Skelettöse Umverteilung: Aus dem Topf der völlig unterfinanzierten Eingliederungsmittel die auch unterfinanzierten Verwaltungskosten der Jobcenter mitfinanzieren.

Nun könnte mit Blick auf die hier interessierenden Umschichtungen der eine oder andere einwenden, dass die Mittel, die man aus dem Eingliederungstopf für die Arbeitslosen entnommen hat, ja nicht nur der Büromiete der Jobcenter zugute kommt, sondern dass damit auch – so die verteidigende Argumentation vieler Jobcenter – Personal finanziert wird, mit dem man eine bessere Betreuung der Hartz IV-Empfänger organisieren könne, was deren Perspektiven erhöhen würde.

Da muss man dann auch mal genauer hinschauen – und kommt zu so einem Befund: Jobcenter: Umschichten für eine bessere Betreuung? Klingt plausibel, stimmt aber nicht. Jobcenter begründen die enormen Umschichtungen mit höheren Personalkosten für eine intensivere Betreuung der Kunden. Doch die Argumentation hält einer Überprüfung nicht stand.

Wenn die Begründung „Die Betroffenen profitieren von mehr Geld im Verwaltungsetat, denn so finanziere man mehr Personal und damit eine intensivere und bessere persönliche Betreuung“ stimmt, dann muss sich das auf der Ebene der Jobcenter messen lassen, denn wie viele Mittel aus dem Eingliederungstopf umgeschichtet werden, schwankt zwischen den Jobcentern erheblich. Mehr als die Hälfte der Jobcenter haben in der Vergangenheit 10 bis unter 30 Prozent der Eingliederungsmittel umgeschichtet – das geht rauf bis zu 68 Prozent in einzelnen Einrichtungen.

Man kann sich der Prüfaufgabe, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Ausmaß der Umschichtungen und dem für die Betreuung zur Verfügung stehenden Personals nähern, in dem man einen Blick wirft auf die Betreuungsschlüssel der Jobcenter.

»Gut ist die Betreuungsrelation, wenn sie den Zielvorgaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) nach § 44c SGB II entspricht oder darunter liegt. Für Jugendliche unter 25 Jahren ist ein Verhältnis von einem Betreuer zu 75 Personen vorgesehen, bei Über-25-Jährigen soll ein Betreuer für maximal 150 Personen zuständig sein.«

Wenn starke Umschichtungen also tatsächlich zu einer intensiveren Betreuung führen, sollten Jobcenter mit hohen Umschichtungsanteilen Betreuungsschlüssel erreichen, die den Vorgaben der BA entsprechen oder diese übertreffen – oder sich das Verhältnis von Betreuer zu Betreutem dort zumindest verbessert haben. Leuchtet ein. Und wie ist das Ergebnis? Mehr als ernüchternd:

Eine Verbindung zwischen den Umschichtungen und den Betreuungsschlüsseln gibt es nicht. Weder haben die Jobcenter mit besonders hohen Umschichtungen besonders gute, noch die Jobcenter mit geringen Umschichtungsanteilen besonders schlechte Betreuungsrelationen.

Für alle Jobcenter (allerdings nur die Jobcenter in gemeinsamer Einrichtung der Bundesagentur für Arbeit und der Kommunen, denn der Betreuungsschlüssel für die 104 zugelassenen kommunalen Träger liegen nicht vor, was ein eigenes Problem ist, denn die rein kommunalen Jobcenter sind datentechnisch in vielerlei Hinsicht eine black box), gilt, was sich sowohl bei den stärksten und geringsten Umschichtern als auch den Jobcentern mit den besten und schlechtesten Betreuungsquoten beobachten lässt: Es gibt keinen statistisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen der Umleitung von Fördermitteln für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in den Verwaltungsetat und einer intensiveren Betreuung der Menschen im Hartz-IV-System.

Der Grund für die Umschichtungen scheint wohl tatsächlich ein anderer zu sein, den nur wenige Verantwortliche in den Jobcentern aussprechen. Einer von ihnen ist Bodo Vermaßen, stellvertretender Geschäftsführer des Jobcenters Mönchengladbach: „Die vom Bund zugestandenen Mittel für den Verwaltungsaufwand reichen einfach nicht mehr aus“, so wird er in dem Artikel Jobcenter wehrt sich gegen Vorwürfe zitiert. Das Verwaltungsbudget sei seit Jahren nicht an die Entwicklung der Kosten angepasst worden. Der Bund wisse, dass die Jobcenter deshalb zur Umschichtung von Fördermitteln gezwungen seien.

So was nennt man Vorsatz. Auf Kosten der Hartz IV-Empfänger, die am Ende Opfer einer doppelten Kürzung der Eingliederungsmittel werden.



Nachtrag am 01.03.2017: Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarkforschung und Jugendberufshilfe hat eigene Berechnungen die Umschichtungen von den Eingliederungsmitteln zu den Verwaltungsausgaben betreffend vorgelegt und mir zugeleitet. Ich habe seine Ergebnisse in Ergänzung zu der am Anfang dieses Beitrags platzierten Abbildung grafisch aufgearbeitet. 
Zu den Datengrundlagen bei Schröder vgl. auch diese Veröffentlichung des BIAJ vom 6. Februar 2017: Hartz IV: „SGB II-Gesamtverwaltungskosten“ stiegen 2016 auf über 6 Milliarden Euro.
Schröder weist darauf hin, dass es bisher an einer differenzierten, transparenten Darstellung der Gesamtverwaltungskosten (VKFV), analog zu den Ausgaben für Eingliederungsleistungen, mangelt. Aber auch die Umschichtungszahlen, die Schröder berechnet hat, verdeutlichen den massiven Griff in die Kassen zur Gegenfinanzierung der über zu niedrig angesetzte Haushaltsmittel nicht ausreichend gedeckten Verwaltungskosten der Jobcenter.