Immer mehr Arbeitslose rutschen in die Langzeitarbeitslosigkeit – und das gibt Anlass zur Sorge

Das sind Meldungen, die man nur politisch verstehen kann: Der Bundesarbeitsminister wird mit den Worten zitiert, „die Pandemie hat den deutschen Arbeitsmarkt erschüttert. Aber das große Beben ist ausgeblieben.“ Und dann geht es weiter auf der positiven Rutschbahn: »Ein Jahr lang bestimmt die Corona-Krise nun schon, was in Deutschland geht und was nicht. Auch auf dem Arbeitsmarkt hinterlässt das Spuren. Arbeitsminister Heil und Arbeitsagentur-Chef Scheele zeigen sich trotzdem zufrieden.« Dabei stellen sie vor allem ab auf den massiven Einsatz des Instrumentariums der Kurzarbeit, mit der ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit habe verhindert werden können: „Wir sehen, dass sich Kurzarbeit nicht in Arbeitslosigkeit niederschlägt, wenn sie ausläuft. Sondern wir sehen, dass die Unternehmen die Arbeitszeit wieder hochfahren“, so der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele. Der zeichnet sich immer wieder aus durch positive Beschreibungen des Arbeitsmarktes, die in Berlin sicher gerne vernommen werden. Aber auch Scheele kann eine offene Wunde nicht unter den Teppich kehren, so offensichtlich ist die: Die Langzeitarbeitslosen. „Das sind wirklich die Verlierer und Opfer und Leidtragenden dieser Krise“, so wird der Mann aus Nürnberg zitiert. Da lohnt ein Blick auf die nackten Zahlen:

Im Februar 2021 stieg die Zahl der Langzeitarbeitslosen auf mehr als eine Million, zum ersten Mal seit 2015. Es geht hier um Menschen, die länger als ein Jahr vergeblich auf Jobsuche sind. Gegenüber dem Vorjahresmonat – kurz vor dem Ausbruch der Corona-Krise 2020 – ist das ein Anstieg um mehr als 41 Prozent. Und natürlich hat dieser Anstieg mit den Folgen der Corona-Krise zu tun. Während viele Menschen, die vor Corona ihre Erwerbsarbeit verloren haben, in den vergangenen Jahren mehr oder weniger schnell eine neue Arbeit finden konnten, ist aber in zahlreichen, darunter vielen arbeitsintensiven Branchen seit dem Frühjahr des vergangenen Jahres angesichts der erheblichen Unsicherheiten, wie es nun wirtschaftlich weitergehen wird, eine besondere Zurückhaltung bei der Einstellung neuer Arbeitnehmer zu beobachten und auch verständlich. Während viele Betroffene vor Corona sicher in der Zeit, in der sie Anspruch hatten auf Arbeitslosengeld I aus der Arbeitslosenversicherung nach SGB III, wieder einen neuen Job gefunden haben, wachsen nun immer mehr Menschen in den Langzeitbezug hinein, weil die Zugangshürden zu neuer Beschäftigung derzeit außergewöhnlich hoch sind. Das zeigt auch ein Blick, wo der sowieso schon überdurchschnittlich hohe Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit besonders hoch war – nämlich im SGB III, also der Arbeitslosenversicherung:

»Es trifft Menschen quer durch alle Altersgruppen. Besonders stark fällt die Steigerung bei den Jüngeren aus: In der Gruppe der unter 25-jährigen verdoppelte sich die Zahl gegenüber dem Vorjahr, bei den 25- bis 35-jährigen lag das Plus bei knapp 55 Prozent. Nicht nur Personen ohne Berufsausbildung rutschen in die Langzeitarbeitslosigkeit, auch bei Akademikern gibt es einen spürbaren Anstieg (plus 63 Prozent)«, kann man diesem Artikel von Cordula Eubel entnehmen: Warum steigende Langzeitarbeitslosigkeit in der Krise zum Problem wird. Und das sei erst der Anfang, meint Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): „Im April und Mai werden die ersten Corona-Langzeitarbeitslosen in der Statistik auftauchen“, sagt er. Also diejenigen, die seit Krisenbeginn arbeitslos geworden sind. Allein im ersten Lockdown stieg die Zahl der Arbeitslosen um mehr als 600.000. Nicht alle von ihnen bleiben automatisch auch dauerhaft ohne Job. Doch IAB-Forscher Weber schätzt, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen um mindestens weitere 100.000 Personen steigen könnte. Das Problem sei, dass es „deutlich weniger“ Einstellungen gebe, so auch Weber vom IAB.

Auch der Vorstandsvorsitzende der BA, der bereits zitierte Detlef Scheele, taucht wieder auf mit der ihm eigenen Zurückhaltung: Er sieht „erste Anzeichen“ einer sich verfestigenden Arbeitslosigkeit in Folge der Pandemie. „Wenn Menschen in die Langzeitarbeitslosigkeit rutschen, haben sie bleibende Nachteile. Es ist schwerer, da wieder rauszukommen“, so die Schlussfolgerung von Enzo Weber. Das gilt gerade für Deutschland, wie die zurückliegenden Jahre gezeigt haben, selbst, als es arbeitsmarktlicht sehr gut lief.

Und negative Corona-Effekte lassen sich auch in der kompensierenden Arbeitsförderung beobachten: »Umso problematischer findet es die Grünen-Arbeitsmarktexpertin Beate Müller-Gemmeke, dass die Arbeitsmarktförderung im Pandemiejahr 2020 stark eingeschränkt wurde. Die berufliche Weiterbildung brach im ersten Lockdown vor einem Jahr massiv ein … Gab es im März 2020 bundesweit noch gut 10.000 Eintritte in entsprechende Maßnahmen, waren es im April nur noch 3500. Zwar stieg diese Zahl im Laufe des Jahres wieder an, hat sich aber noch nicht wieder stabil auf Vorjahresniveau eingependelt.

Auch der „soziale Arbeitsmarkt“ – ein bedeutsames Instrument der öffentlich geförderten Beschäftigung zur Förderung von Langzeitarbeitslosen – kommt nicht richtig voran. »Während bis März 2020 zwischen 2.000 und 4.000 Personen pro Monat einen solchen geförderten Job anfingen, sank die Zahl bis November 2020 auf durchschnittlich etwa 1.000 Neu-Eintritte im Monat. Die Eintrittszahlen blieben „hinter den ursprünglichen Planungen zurück“, schreibt das Ministerium.«

Apropos „sozialer Arbeitsmarkt“: Das Förderinstrumentarium im Hartz IV-System wurde durch das Teilhabechancengesetz grundlegend erweitert. Seither stehen zwei neue Lohnkostenzuschüsse zur Verfügung, um die Erwerbsbeteiligung besonders arbeitsmarktferner Leistungsberechtigter zu fördern. Zwei Jahre nach ihrer Einführung legt das IAB erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung vor:

➔ Frank Bauer et al. (2021): Evaluation der Förderinstrumente nach §16e und §16i SGB II – Zwischenbericht. IAB-Forschungsbericht Nr. 3/2021, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), März 2021

Eine Kurzfassung gibt es unter der Überschrift Evaluation des Teilhabechancengesetzes: Erste Antworten, aber noch viele offene Fragen: Seit Januar 2019 stehen den Jobcentern in Deutschland zwei neue Maßnahmen zur Verfügung, um langzeitarbeitslose Menschen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu fördern. Die beiden Instrumente „Eingliederung von Langzeitarbeitslosen“ (§ 16e SGB II) und „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (§ 16i SGB II) sollen arbeitsmarktfernen Leistungsberechtigten einen Zugang zum Arbeitsleben ermöglichen und auf diese Weise ihre Beschäftigungschancen und Teilhabemöglichkeiten verbessern. Die Implementation der Förderinstrumente durch die Jobcenter bildet einen zentralen Gegenstand der Evaluationsstudie, die vom Forschungsinstitut der BA selbst durchgeführt wird. Hierbei zeigt sich zum jetzigen Zeitpunkt laut IAB eine Zweiteilung der Jobcenter bzw. deren Führungsebene, die im Mittelpunkt der bisherigen Untersuchung stand, mit Blick auf die Förderinstrumente: »Während manche Jobcenter der Förderung nach §16i SGB II eine zentrale Funktion für ihre strategische Grundausrichtung zuerkennen, begreifen andere Jobcenter sie lediglich als zeitlich befristetes Projekt, das mit Erreichen einer vorab definierten Zahl an Förderfällen abgeschlossen sein wird.«

Es existieren teilweise »deutlich voneinander abweichende Vorstellungen auch hinsichtlich der Zielsetzung der Förderung nach § 16i SGB II … So sieht ein Teil der Befragten darin ein klassisches Arbeitsmarktinstrument, dessen Einsatz vordringlich auf einen Übergang in ungeförderte Beschäftigung zielt. Demgegenüber steht ein Verständnis, das den § 16i SGB II in einer Linie mit dem Förderansatz des „Sozialen Arbeitsmarkts“ begreift. Demnach soll die Förderung zur sozialen Stabilisierung der Geförderten beitragen und ihre gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten verbessern.« Und das hat ganz unterschiedliche Folgen für die Ausgestaltung der Förderung: »So legen etwa diejenigen Jobcenter, die durch die Maßnahme vor allem die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten der geförderten Personen stärken wollen, viel Wert auf eine leistungsadäquate, an den Problemlagen der Geförderten ausgerichtete Ausgestaltung der geförderten Arbeitsplätze. In diesem Zusammenhang verweisen sie auf die Erfahrung von gemeinnützigen Arbeitgebern mit der arbeitsmarktfernen Zielgruppe beider Instrumente. Jene Jobcenter hingegen, die das Ziel einer (Re-)Integration der Geförderten in den ersten Arbeitsmarkt priorisieren, betonen die Relevanz von Arbeitsplätzen in privatwirtschaftlichen Betrieben. Beschäftigungsträgern stehen sie hingegen teils sehr skeptisch gegenüber.«

Und man muss sich klar machen, über welche Teilgruppe unter den Langzeitarbeitslosen wir hier sprechen: »Mit 67 Prozent der teilnehmenden Frauen und 63 Prozent der teilnehmenden Männer hat … die deutliche Mehrheit der Geförderten in den letzten sieben Jahren durchgängig Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezogen. Überproportional gefördert werden zudem Leistungsberechtigte, die während der letzten sieben Jahre überhaupt keine Erwerbserfahrung vorzuweisen haben. Zudem sind Leistungsberechtigte im Alter von 45 bis Anfang 60 unter den Geförderten nach § 16i SGB II ebenso überrepräsentiert wie schwerbehinderte Menschen.«

Aber auch dieser Förderbereich leidet seit geraumer Zeit unter den Restriktionen der Corona-Pandemie und ist von einem sowieso kritikwürdig niedrigen Niveau nochmals heruntergefahren worden.

Das alles sind keine guten Nachrichten vor allem für die Betroffenen, die unter anderen Rahmenbedingungen wahrscheinlich viel schneller und besser eine Integrationsperspektive bekommen hätten. Aber der Lockdown ist für viele von ihnen ein echtes und dauerhaftes Herunterfahren mit allen problematischen Auswirkungen, die wir aus Jahrzehnten er Langzeitarbeitslosenforschung kennen.