Diesseits der großen „Jobwunderland“-Erzählung: Schmutzige Geschäfte auf Kosten der Reinigungskräfte und Rache für den gesetzlichen Mindestlohn seitens der großen Fastfood-Ketten

Während immer noch in vielen Medien mit Blick auf den deutschen Arbeitsmarkt die große „Jobwunder“-Erzählung verbreitet und zuweilen vor sich her getragen wird wie eine Monstranz, kann man zahlreiche Veränderungen im überaus filigranen Arbeitsmarktgefüge auf den unterschiedlichen Etagen beobachten. An dieser Stelle soll erneut berichtet werden aus den unteren, eigentlich besonders schutzbedürftigen Bereichen des Arbeitsmarktes, wo zahlreiche Menschen arbeiten, deren Verhältnisse sich in den vergangenen Jahren teilweise schon deutlich verschlechtert haben.
Starten wir die Reise im Internet. Da blüht ja allerhand, auch die zweifelhaftesten Geschäftsmodelle können sich hier – zumindest wesentlich einfacher als in der „alten“ Geschäftswelt – entfalten. Und das sind dann nicht nur irgendwelche Geldverbrennungsmaschinen für verzweifelt nach Rendite suchende Investoren bzw. Spekulanten. Sondern das, was das Internet möglich macht vor allem auf der Ebene der Zwischenhändler, die dann die höchsten Margen einstreichen können, wenn sie es richtig machen, hat enorme Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen derjenigen, die gleichsam ganz am Ende der „Verwertungskette“ stehen. Die „natürlich“ zugleich die eigentliche Arbeit machen, an denen andere kräftig (mit)verdienen. Die dann diese Arbeit so neu organisieren, dass die gleiche Arbeit in anderen Bereichen dann wegfällt aufgrund der neuen Konkurrenz. Man schaue sich derzeit nur die ganze Story rund um Uber und dem Taxigewerbe an. Hier aber soll es um die Putzkräfte gehen. Denn die sind jetzt auch im Internet. Allerdings mit handfesten Folgen.

Darüber berichtet Charlotte Theile in ihrem Beitrag Schmutzige Geschäfte. Es geht um einen der schwierigsten „Märkte“, also für das Putzen in den Wohnungen und Häusern. Denn zum einen sind wir hier mit einem sehr hohen Anteil an schwarz arbeitenden Menschen konfrontiert oder wenn, dann mit in der Grauzone zwischen Illegalität und „normaler“, also sozialversicherungspflichtig ausgestalteter Beschäftigung, über die „Minijobs“. Und zum anderen gibt es bei vielen Haushalten durchaus einen Bedarf an diesen Putzkräften, dessen Realisierung sich aber überwiegend in einem der untersten Preissegmente bewegt oder aber der auch ungedeckt bleibt, weil ein Nachfrager, der sich an das Gesetz halten will oder muss, schlichtweg keine Putzkräfte zu den dafür erforderlichen Bedingungen findet. Schon seit vielen Jahren gibt es immer wieder Bestrebungen, das arbeitsmarktliche „Potenzial“ in diesem Bereich über legale Modelle zu erschließen. Man hat so einiges ausprobiert in der Vergangenheit, ob das nun „Dienstleistungsagenturen“ waren oder im Zuge der Hartz-Reformen der Ansatz, über eine Deregulierung bei der geringfügigen Beschäftigung die bis dato im illegalen Bereich angesiedelte Tätigkeit legaler zu machen.

Und jetzt kommt also gleichsam als eine Art „Durchlauferhitzer“ das Internet dazu. Theile zitiert als Beispiel die Firma Helpling. Sie gehört Rocket Internet, einem Unternehmen der Samwer-Brüder, das kurz vor dem Börsengang steht.

»Seit einigen Monaten wirbt die Firma mit ihrem Online-Putz-Service. Ihre Slogans springen einem entgegen, bei Facebook, im Fitnessstudio. „Du trainierst. Helpling putzt“, heißt es dort, oder „So einfach geht sauber“. Ab 12,90 Euro werden Küche, Bad und Schlafzimmer gereinigt – und zwar, so verspricht es die Homepage, von „geprüften und versicherten Reinigungsprofis“, die „zuverlässig und bestens ausgebildet“ sind. 10,32 Euro die Stunde kommen beim „Helpling“, wie die Putzkräfte genannt werden, an. Im Moment gibt es 50 Prozent Rabatt.«

So was geht natürlich nicht auf Dauer aufgrund der damit verbundenen Notwendigkeit einer Quersubventionierung – sondern wie so oft auf real existierenden Märkten nur für eine gewisse Zeit, die aber ausreichen kann, um andere Konkurrenten in die Knie zu zwingen. In diese Richtung geht auch die Einschätzung von Akteuren aus der Branche selbst, wie Theile zitiert:

»Patrick Tracht, Inhaber der Münchner Reinigungsfirma Mr. Cleaner, hält die Konkurrenten aus dem Netz für Ausbeuter. Der Preiskampf, den die neuen Firmen losgetreten hätten, sei verheerend. „Wer putzen nur über den Preis bewirbt, macht das Geschäft kaputt“, sagt Tracht. Es gehe, schreibt er in einer aufgebrachten E-Mail, um nichts anderes, als möglichst schnell möglichst viel Marktanteil zu gewinnen – „egal zu welchen Kosten“ – und das Unternehmen dann weiterzuverkaufen.«

Unternehmen, die wie Mr. Cleaner 30 oder 40 Euro die Stunde nehmen, mit versicherten, fest angestellten Mitarbeitern, sind die Hauptzielgruppe der neuen Anbieter bzw. sagen wir es genauer: der neuen Vermittlungsagenturen, denn selbst putzen die ja nicht. Nicht nur Helpling, sondern auch Homejoy, Book A Tiger und Clean Agents setzen diese Firmen unter Druck. Und sie zielen auf eine reale „Marktlücke“, denn viele Haushalte wünschen sich eine Putzfrau – wollen aber weder Schwarzarbeit fördern, noch 40 Euro die Stunde zahlen. Zugleich gibt es Menschen, fast immer Frauen, für die zehn Euro ein guter Stundenlohn sind. Wenn – ja wenn das wirklich zehn Euro wären pro Stunde. Hier kommt ein weiterer Vorteil der neuen Anbieter zum Vorschein. Theile berichtet von einer Rekrutierungsveranstaltung für potenzielle Hellinge:

»“Ich habe bis jetzt nur meine eigene Wohnung geputzt.“ Kein Problem, sagt Wilhelm, dann schiebt er ein Blatt über den Tisch: „Weiterbildung zum Thema Reinigungsablauf“. Darauf stehen Empfehlungen, wie eine Wohnung zu putzen sei. Keine Arbeitsanweisungen, natürlich nicht, Helplinge sind ja selbständig.«

„Selbständig“ – wie praktisch.

Da haben andere Branchen ganz andere „Probleme“. Denn die sind nun konfrontiert mit dem beschlossenen gesetzlichen Mindestlohn. Und während die einen das hinnehmen, versuchen andere, sofort neue Umgehungsstrategien in die Welt zu setzen. Stefan Sauer berichtet unter der Überschrift Rache für den Mindestlohn, welchen Weg die großen Fastfood-Ketten einschlagen wollen, um den Mindestlohn zu umgehen. Das liest sich schon wie ein starkes Stück. Konkret geht es um Fastfood-Ketten und andere Großgastronomen, die im Bundesverband der Systemgastronomie (BdS) zusammen geschlossen sind. Zum Start der zweiten Runde der Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft NGG präsentierten die ein bemerkenswertes Angebot für die mehr als 100.000 Beschäftigte, wobei man zweimal lesen und wissen muss, es gibt keinen Druckfehler:

»Es soll teils sogar  zweistellige Entgeltsteigerungen bis zum Mindestlohnniveau geben, was unterm Strich aber Lohneinbußen von einigen hundert oder sogar mehreren tausend Euro pro Jahr bedeuten würde.«

„Es kann doch nicht sein, dass infolge der Mindestlohneinführung die Beschäftigten weniger in der Tasche haben als vorher“, mit diesen Worten der Fassungslosigkeit wird ein Gewerkschaftsfunktionär zitiert in dem Artikel. Doch. Valerie Holsboer, die Hauptgeschäftsführerin des BdS, umschreibt ihr systemgastronomisches „yes, we can“ mit freundlichen Worten: Angesichts der Mindestlohneinführung sei „klar, dass wir das Gesamtpaket bestehend aus Entgelt- und Manteltarifvertrag neu schnüren müssen“. Der BdS, in dem u.a. Mc Donald’s, Burger King, Pizza Hut, Kentucky Fried Chicken, Nordsee und Starbucks organisiert sind, geht folgendermaßen vor:
»Der alte Manteltarifvertrag wurde gekündigt und Eckpunkte  eines neuen vorgelegt: Demnach sollen Weihnachts- und Urlaubsgeld  komplett entfallen, ebenso Zuschläge für Überstunden, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsdienste sowie auch die Arbeitgeberanteile zu vermögenswirksamen Leistungen (VL).« Also alles, was Geld kostet.

Das hätte enorme Auswirkungen. Beispiel Ungelernte:

»Ungelernte im ersten Berufsjahr erhalten bisher im Osten 7,06 Euro, im Westen sind es 7,71 Euro. 8,50 Euro bedeuten mithin Zuwächse  von 20,4 und 10,2 Prozent. Selbst solch kräftige Lohnsteigerungen verwandeln sich allerdings ins Gegenteil: Allein das Streichen des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes sowie der vermögenswirksamen Leistungen führt nach Berechnung der NGG zu Verlusten von 1450  Euro im Jahr. Verrechnet mit den Lohnsteigerungen bleiben jährliche Verluste zwischen 100 und 170 Euro.«

Hinzu kämen weit höhere Einbußen durch den Wegfall von Zuschlägen, die bisher an Feiertagen  100 Prozent, in der Nachtarbeit 15 und für Überstunden 25 Prozent ausmachen. »Für einen durchschnittlichen Mitarbeiter der unteren Lohngruppen ergeben sich so leicht Jahreseinbußen von mehr als 1.100 Euro.«

Aber noch härter würde es die besser verdienenden Mitarbeiter treffen: »Für gelernte Fachkräfte in der Tarifgruppe 4 (West) bietet der BdS ein Plus von 1,1 Prozent auf den bisherigen Stundenlohn von 9,52 Euro an. Aufs Jahr gerechnet sind dies rund 207 Euro mehr. Dem stehen Einbußen von 1.450 Euro Euro bei den  VL, beim Weihnachts- und Urlaubsgeld gegenüber sowie ein nochmals vierstelliger Betrag wegen der gestrichenen Zuschläge.«

Für die Gewerkschaften und für die betroffenen Arbeitnehmer ist das ein klare Kampfansage – womit wir allerdings schon bei einem der strukturellen Probleme wären: Die Gewerkschaft NGG hat gerade in den genannten Unternehmen teilweise einen Organisationsgrad, der bei 5% liegt. Damit fehlt aber der Gewerkschaft das notwendige Drohpotenzial gegenüber den Arbeitgebern. Die betroffenen Arbeitnehmer müssen sich eben auch organisieren und kollektiv versuchen, zu agieren.

Und damit nicht der Eindruck erweckt wird, dass es hier um eine einseitige Arbeitgeberschelte geht – es geht auch ganz anders, worauf Stefan Sauer in seinem Artikel auch zu Recht hinweist:

»Unter dem Dach des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga haben Ketten wie Block House, Joey’s,  Le Crobag, Maredo, Tschibo, Wienerwald sowie zahlreiche  Warenhausrestaurants im Juli einen Tarifvertrag mit der NGG bis Ende Mai 2016 abgeschlossen. Er sieht bereits zum 1. Dezember 2014 einen untersten Tariflohn von 8,51 Euro vor. Auch für alle übrigen Tarifgruppen gibt es – unterschiedlich hohe – Zuwächse, und zwar auf Deutschlandweit gleichem Niveau. Jeder Azubi erhält 90 Euro mehr pro Monat.  Zulagen, Weihnachts- und Urlaubsgeld bleiben unangetastet.«

Es gibt eben nicht die „Schlechten“, sondern auch die „Guten“. Quod erat demonstrandum.
Wobei natürlich auch „das Gute“ immer ein relativer Begriff ist.

Fazit: Die Beschäftigten müssen verstehen, dass es einen gewaltigen Angriff auf ihr Gesamtlohngefüge geben soll und dass man sich dagegen zur Wehr setzen muss. Was alleine nicht geht. Bleibt nur der Versuch einer kollektiven Interessenvertretung über die Gewerkschaft, im vorliegenden Fall also der NGG. Man kann das partiell als Verbraucher unterstützen und punktuell auch einzelne schlechte Unternehmen von der Verbraucher- und Medienseite unter Druck setzen, die entscheidende Frage wird aber lauten: Wie gelingt es den Gewerkschaften, gerade in diesen Bereichen mehr Mitglieder zu gewinnen, um eine ausreichende Drohkulisse gegenüber den Arbeitgebern aufbauen zu können.

Die OECD kritisiert die „unsoziale Wirtschaftspolitik“ in Deutschland und ermutigt zu „Reformen für nachhaltiges Wachstum mit mehr sozialer Teilhabe“

Alle zwei Jahre unternimmt die OECD eine umfassende Analyse der Volkswirtschaften ihrer Mitgliedsländer und veröffentlicht die dann als OECD Wirtschaftsberichte. Jetzt ist die neueste Version für Deutschland veröffentlicht worden (vgl. OECD-Wirtschaftsberichte: Deutschland 2014). Aber die Organisation bleibt nicht nur bei einer Bestandsaufnahme des volkswirtschaftlichen Zustandes, sondern gibt auch Empfehlungen, manche werden von ungebetenen Ratschlägen sprechen: OECD-Wirtschaftsbericht ermutigt Deutschland zu Reformen für nachhaltiges Wachstum mit mehr sozialer Teilhabe, so überschreibt die OECD ihre eigene Pressemitteilung. Aus einer sozialpolitischen Perspektive interessant sind die medialen Reaktionen, was sich bereits in den Headlines bemerkbar macht: OECD kritisiert unsoziale Wirtschaftspolitik in Deutschland oder Zu arm für den Aufschwung – um nur zwei Beispiele aus der Presselandschaft herauszugreifen – das verweist auf sozialpolitisch hoch relevante Aussagen.

David Böcking bringt in seinem Artikel die kritische Dimension der OECD-Analyse für Deutschland auf den Punkt: »Riskante Rentengeschenke, wachsender Niedriglohnsektor, Energiewende auf Kosten der Verbraucher: Im neuen Wirtschaftsbericht der Industrieländerorganisation OECD für Deutschland steckt jede Menge Kritik. Vom Wachstum in der Bundesrepublik müssten mehr Bürger profitieren.«

Und auch hier steht der Arbeitsmarkt im Mittelpunkt der Problemdiagnosen: „Deutschlands Wirtschaft boomt. Doch der Arbeitsmarkt spaltet sich in Privilegierte und Prekäre“, kann man einem Artikel entnehmen, der in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde und der über den neuen OECD-Bericht informiert.

Damit wird explizit ein Problemfeld angesprochen, was seit Jahren beachtet und diskutiert wird – die zunehmende Polarisierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt und der immer stärker werdenden, für nicht wenige Menschen lebenslängliche Ausgrenzung von halbwegs normaler Erwerbstätigkeit. Und vor dem Hintergrund der behaupteten Polarisierung ist es dann auch kein Widerspruch, dass wir mit der eben nur scheinbar widersprüchlichen Gleichzeitigkeit einer erheblichen „Verhärtung“ bzw. „Verfestigung“ der Langzeitarbeitslosigkeit sowie eines teilweise eklatanten Fachkräftemangels in ganz bestimmten Berufen bzw. Regionen konfrontiert werden.

Die OECD verschweigt keineswegs die im internationalen Vergleich niedrige Arbeitslosenquote (gemessen an der registrierten Arbeitslosigkeit) und den erfolgreichen Abbau eines Teils der Erwerbslosigkeit in den vergangenen Jahren. Aber dann werden zahlreiche Problemstellen identifiziert:
»Problematisch seien … der stark angewachsene Niedriglohnsektor und der hohe Anteil von Menschen in befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Auch habe sich die stark gesunkene Arbeitslosigkeit nicht positiv auf das Armutsrisiko im Lande ausgewirkt. Insgesamt habe die Aufwärtsmobilität von Geringverdienern sogar abgenommen.«

Quelle der Abbildung: OECD (2014)

Die Abbildung verdeutlicht die Besonderheiten der Geringverdiener in Deutschland im Vergleich zum Durchschnitt aller EU 27-Staaten (gemessen an dem jeweiligen Anteil der Geringverdiener an den abhängig Beschäftigten). In Deutschland gibt es in den betrachteten Bereichen immer einen größeren Niedrigverdiener-Anteil an der jeweiligen Gruppe – außer bei den Hochqualifizierten, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt auch in der Hinsicht gut fahren. Aber für die gering Qualifizierten resultiert eine deutlich größere Betroffenheit von Niedriglöhnen als in anderen EU-Staaten.
Die OECD lobt zum einen die vorgesehene Einführung eines Mindestlohns, zum anderen gibt sie einen wichtigen Hinweis für die arbeitsmarktpolitische Debatte bei uns, denn der Bericht fordert Deutschland auf, »die noch immer relativ weit verbreitete Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen, indem die Beschäftigungschancen für Betroffene durch gezielte Zuschüsse und Weiterbildungsanreize verbessert werden.«

Auf der Empfehlungsseite der OECD stehen weitere Vorschläge:

»Eine Möglichkeit, das Wachstumspotenzial zu steigern, sieht der Bericht darin, den Faktor Arbeit weniger zu besteuern und die Sozialabgaben, vor allem für Geringverdiener, zu senken. Zum Ausgleich schlägt er vor, die Grundsteuern auf Immobilienbesitz nach aktualisierten Wertansätzen zu erheben und Gewinne aus dem Verkauf fremdgenutzer Immobilien nicht mehr von der Steuer zu befreien. Desweiteren plädiert er dafür, Umverteilungsausgaben für Rentner aus dem allgemeinen Steueraufkommen und nicht über Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren. Diese Maßnahme sei beschäftigungs- und wachstumsfreundlich und könne die Last gleichmäßiger auf alle Steuerzahler verteilen.«

Damit werden wichtige Kontrapunkte zur gegenwärtigen Regierungspolitik gesetzt.

Aber die OECD bleibt einem Teil ihres wirtschaftspolitischen Erbguts treu: Der Forderung nach mehr „Liberalisierung“ bzw. Deregulierung: »Auch Reformen im Dienstleistungssektor können helfen, das Wachstum zu stärken. Schon heute leistet der Sektor in Deutschland den größten Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung. Anders als im Verarbeitenden Gewerbe erhöhte sich die Produktivität bei Unternehmensdienstleistungen in den vergangenen zehn Jahren vergleichsweise wenig. Der Bericht regt daher an, die Regulierung in den Netzindustrien, in freien Berufen und in einigen Branchen des Handwerks weiter zu lockern und so zu mehr Wettbewerb beizutragen.«

Der Blick über den Gartenzaun: Von Jubelmeldungen über eine (scheinbar) tolle Beschäftigungsentwicklung und vom Anziehen der Daumenschrauben bei Langzeitarbeitslosen, getarnt als Hilfe. Schauen wir nach Großbritannien

Wir kennen das gerade in Deutschland: Erfolgsmeldungen hinsichtlich der Arbeitsmarktentwicklung – vom deutschen „Jobwunder“ ist da immer wieder die Rede. Anlässlich der neuen Arbeitsmarktzahlen meldete sich die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zu Wort: »Der Arbeitsmarkt ist in guter Form … Neue Höchststände mit fast 42 Millionen Erwerbstätigen und 29,4 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten; dazu eine starke Frühjahrsbelebung nach den ohnehin schon guten Winterzahlen«, so die Ministerin. Nun auch in Großbritannien. Polly Toynbee berichtet von erwartbaren „triumphant headlines for the latest employment figures“ – und ergänzt mit einem sarkastischen Unterton: „More people will be in work, which is good news: far better to have half a job than no job at all.“ Allerdings entzaubern sich die schönen Zahlen bei genauerer Draufsicht und gleichzeitig – im Schatten der scheinbar guten Arbeitsmarktentwicklung – werden die Daumenschrauben für die Langzeitarbeitslosen richtig angezogen mit einem „Hilfsprogramm“, das den Begriff „workfare“ praktisch werden lässt.

Bleiben wir in einem ersten Schritt bei der – angeblich – so guten Arbeitsmarktentwicklung in Großbritannien. Polly Toynbee legt in ihrem Artikel den Finger auf die Wunde: »the last three-monthly figures showed that all the increase – yes, all of it – was not in jobs but in soaring self-employment, says Jonathan Portes of the National Institute for Economic and Social Research.« 80% der gesamten Beschäftigungszuwächse seit 2007 haben im Bereich vor allem der Solo-Selbständigkeit stattgefunden – vor allem aufgrund eines Mangels an alternativen Möglichkeiten der Erwerbsarbeit. Der „Notnagel“-Charakter wird auch hier erkennbar: »The TUC finds that 540,000 of the jobs created since 2010 are self-employed roles, with the over-50s in the majority and over-65s the fastest growing group.« Selbständigkeit als Fluchtweg vor allem für die älteren Erwerbslosen und für die armen Rentner. Die durchschnittlichen Einkommen der solo-selbständigen Frauen ist unter die 10.000 Pfund-Grenze gefallen. Auch über andere problematische Entwicklungen hinsichtlich der Qualität der Beschäftigung wird berichtet – über Leiharbeit und „Null-Stunden-Arbeitsverträge“: »Agency work and zero-hours contracts are growing ever more deeply embedded in the economy – no replacement for the good jobs lost.«

Jetzt aber – und vor diesem Hintergrund – zu den Langzeitarbeitslosen. Polly Toynbee schreibt in ihrem Artikel: Je besser die Arbeitsmarktzahlen daherkommen (und seien diese rein kosmetischer Natur), desto einfacher wird es für die Regierung, die Daumenschrauben anzuziehen für diejenigen, die noch in der Arbeitslosigkeit verbleiben. Und genau das passiert derzeit in Großbritannien – wieder einmal unter dem Deckmantel eines als Hilfsprogramms für die Langzeitarbeitslosen getarnten Maßnahmepakets, mit dem im Ergebnis das Workfare-Regime weiter verschärft werden soll. Die verantwortlichen Politiker drücken das natürlich ganz anders aus – und beziehen sich explizit auf die angeblich so tolle Arbeitsmarktentwicklung und der „Sorge“ um die, die trotzdem arbeitslos bleiben: „We are seeing record levels of employment in Britain, as more and more people find a job, but we need to look at those who are persistently stuck on benefits. This scheme will provide more help than ever before, getting people into work and on the road to a more secure future,“ so wird der Premierminister David Cameron zitiert.

New Help to Work programme comes into force for long-term unemployed – hier erfahren wir Details über das neue Programm, dass in wenigen Tagen in Kraft treten wird. Die Regierung sagt, die Mitarbeiter der Jobcenter bekommen mehr Möglichkeiten „to support those who are hardest to assist under Help to Work“. Wenn man sich dem „Hilfsangebot“ verweigert, werden die Betroffenen mit dem Entzug ihrer Leistungen sanktioniert. Das „Help to Work“-Programm besteht aus drei Komponenten, die von den Jobcenter-Mitarbeitern eingesetzt werden: So soll es ein „intensives Coaching“ geben für die Arbeitslosen, eine Verpflichtung, täglich einen Berater im Jobcenter aufzusuchen sowie als dritter Baustein die Ableistung von „community work“ – alles über einen Zeitraum von sechs Monaten. Bereits im letzten Herbst hatte der Finanzminister des Landes, George Osborne, auf einem Parteitag der regierenden Konservativen ausgeführt:

»We are saying there is no option of doing nothing for your benefits, no something-for-nothing any more. They will do useful work to put something back into the community, making meals for the elderly, clearing up litter, working for a local charity. Others will be made to attend the jobcentre every working day.«

Die angesprochene „community work“ (formal als Community Work Placement (CWP) bezeichnet und für eine Zielgruppe von 200.000 Langzeitarbeitslose vorgesehen) wird dann auch noch in einem Orwellschen Sinne konsequent als „voluntary work“, also als „Freiwilligenarbeit“ oder „Ehrenamt“ tituliert. Die Beschreibung ähnelt dem, was wir in Deutschland kennen, wenn wir über Arbeitsgelegenheiten oder „Bürgerarbeit“ sprechen:

»The voluntary work could include gardening projects, running community cafes or restoring historical sites and war memorials. The placements will be for 30 hours a week for up to six months and will be backed up by at least four hours of supported job searching each week.«

Das setzt natürlich voraus, dass genügend „Freiwilligen-Arbeitsplätze“ bereitgestellt werden. Die Gewerkschaft Unite hat die Wohlfahrtsverbände und -organisationen aufgefordert, sich nicht an dem Programm zu beteiligen, denn es handele sich um eine „workfare“-Maßnahme, also um das Gegenteil von Freiwilligenarbeit oder Ehrenamt: Charity bosses urged to shun ‘workfare’ scheme by Unite. Für die Unite-Gewerkschaft handelt es sich um nichts weiter als unbezahlte Zwangsarbeit. Die Warnung an die Wohlfahrtsorganisationen kommt nicht von ungefähr, denn viele von ihnen leiden unter erheblichen Finanzierungsproblemen und könnten sich deshalb als „leichtes Ziel“ für das vergiftete Angebot der Regierung erweisen – allerdings mit fatalen Folgewirkungen, worauf die Gewerkschaft auch hinweist:

»The government sees cash-starved charities as a soft target for such an obscene scheme, so we are asking charity bosses to say no to taking part in this programme. This is a warping of the true spirit of volunteering and will force the public to look differently at charities with which they were once proud to be associated.«

Es bleibt abzuwarten, wie die angesprochenen Organisationen reagieren.

Help to Work? Britain’s jobless are being forced into workfare – so wie die Überschrift eines Blog-Beitrags von Anna Coote kann man das zusammenfassen, was hier abläuft. Das kann man grundsätzlich kritisieren, man kann es aber auch im Lichte der bisherigen Erfahrungen mit den workfare-Ansätzen tun, darauf stützt sich beispielsweise die Argumentation von Polly Toynbee, die ihren Artikel prägnanterweise überschrieben hat mit: Help to Work is a costly way of punishing the jobless.

Auf einen diskussionswürdigen Aspekt hat Anna Coote hingewiesen: »The ground has been well prepared by the government’s divisive narrative that separates the population into two opposing camps: strivers and skivers«. Also die Separierung in gute und schlechte Arbeitslose, ein ewig wiederkehrendes Muster. Hier die „Streber“ und da die „Drückeberger“, um in der Begrifflichkeit von Coote zu bleiben:

»… strivers are people who are paid for the work they do; they work hard, investing copious effort and often long hours for low pay in order to earn a living, support their families and get on in the world. They are insiders: socially dependable, economically productive and morally righteous. Skivers, on the other hand, are lazy, unreliable and manipulative, choosing to live at others‘ expense so that they can sleep, watch television, abuse various substances and fritter away their time. They are outsiders: untrustworthy, unproductive and morally disreputable.«

Es geht am Ende um ein „punitive welfare regime“. In diesem ist es richtig, den Druck auf die Menschen zu erhöhen – „and make the worthless skivers suffer“. Und das Schlimme ist: Durch die moralisch aufgeladene Trennung in die „guten“ und „schlechten“ Arbeitslosen erleichtert man das Wegschauen, wenn die angeblichen Drückeberger leiden müssen. Und schon beginnt der Kreis sich zu schließen.