Das deutsche „Beschäftigungswunder“ im europäischen Vergleich. Immer auch eine Frage des genauen Hinschauens

Immer diese Zahlen. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung hat eine neue Studie veröffentlicht, die für alle interessant ist, die sich mit dem „Jobwunder“ Deutschland beschäftigen: Europa-Ranking: Hohe Erwerbstätigenquote, aber auch sehr viel kurze Teilzeit in Deutschland – so kann man eine der Hauptaussagen der Studie zusammenfassen.
»Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland erreicht einen Höchststand. Doch der Anteil von Teilzeit- oder Minijobs ist höher als in anderen europäischen Ländern. Stellt man das in Rechnung, fällt Deutschland bei der Erwerbstätigenquote im europäischen Vergleich von Position fünf auf Position elf ab. Insbesondere viele Frauen arbeiten weniger, als sie möchten.«
Man muss eben genauer hinschauen: Ich hatte zu diesem Thema im Dezember 2014 einen passenden Beitrag auf dieser Seite gepostet: „Irre Beschäftigungseffekte“, „wirklich tolles Land“: Wenn Ökonomen sich überschlagen, lohnt ein Blick auf die Zahlen und dort auf das Auseinanderlaufen der Entwicklung bei der Zahl der Arbeitnehmer und des geleisteten Arbeitsvolumens hingewiesen.

Auf den ersten Blick beeindruckend: Von 33 europäischen Ländern landet Deutschland gemessen an der Erwerbstätigenquote auf Platz 5. Aber: Die nominelle Erwerbstätigenquote beruht auf einer reinen Personenzählung ohne zwischen Vollzeit- und Teilzeittätigkeiten zu unterscheiden.
Sven Schreiber hat nun in seiner IMK-Studie eine korrigierte Erwerbstätigenquote errechnet, die nicht allein die Zahl der Erwerbstätigen, sondern auch deren Arbeitszeit berücksichtigt. Wenn man das macht, dann steht Deutschland gemessen an der korrigierten Erwerbstätigenquote deutlich schlechter da, im europäischen Vergleich rutscht man ab auf nur noch Platz elf.
Vor allem zwei Faktoren tragen zu diesem Ergebnis bei:

»Erstens gibt es einen hohen Anteil an Teilzeitarbeit, zweitens arbeiten die Teilzeitbeschäftigten vergleichsweise kurz. In Deutschland arbeitet etwa ein Viertel der Beschäftigten in Teilzeit. Höher fällt der Anteil nur in den Niederlanden und der Schweiz aus.«

Viel Teilzeit und die dann auch noch kurz – das lässt sich auch erklären:
„Minijobber machten etwa die Hälfte der gesamten Teilzeitbeschäftigten in Deutschland aus.“ Da ist sie wieder, die deutsche Besonderheit der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse.
Insofern kann auch diese Aussage nicht überraschen:

»Nach aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes gelten 3,1 Millionen Menschen in Deutschland als „unterbeschäftigt“, das heißt sie sind zwar erwerbstätig, haben aber den Wunsch nach zusätzlichen Arbeitsstunden und stehen für diese auch zur Verfügung. Davon sind 1,7 Millionen in Teilzeit beschäftigt. Bei den Teilzeitbeschäftigten handelt es sich überwiegend um Frauen«, so die Hans-Böckler-Stiftung in ihrer Pressemitteilung zur neuen Studie.

Schauen wir auf die Seite des Statistischen Bundesamtes, dann finden wir eine Meldung vom 8. Januar 2015 mit dieser Überschrift: Ungenutztes Arbeits­kräfte­potenzial: 6,3 Millio­nen Men­schen wollen (mehr) Arbeit. Dieses „ungenutzte Arbeitskräftepotenzial“ setzt sich zusammen aus 2,2 Millionen Erwerbslosen, 1,0 Millionen Personen in Stiller Reserve und 3,1 Millionen Unterbeschäftigten. Und man kann der Meldung entnehmen: Von den 1,7 Millionen Unterbeschäftigten in Teilzeit waren 73 % weiblich. Wie immer im Leben gibt es zwei Seiten der Medaille, deshalb der Vollständigkeit halber: »Den 3,1 Millionen Unterbeschäftigten stand eine deutlich kleinere Zahl Erwerbstätiger gegenüber, die weniger arbeiten wollten: Diese insgesamt 870.000 sogenannten Überbeschäftigten haben den Wunsch, ihre Arbeitsstunden zu reduzieren, und sind bereit, ein entsprechend verringertes Einkommen hinzunehmen.«

Diese Hinweise passen auch zu einer Aussage aus der neuen IMK-Studie: »Drei Viertel der Befragten in der Arbeitskräfteerhebung gaben an, dass sie entweder keine Vollzeitstelle finden konnten oder aus familiären Gründen – etwa der Betreuung von Kindern und Angehörigen – Teilzeit arbeiten.«

Die Studie im Original:

Sven Schreiber: Erwerbstätigkeit in Deutschland im europäischen Vergleich (= IMK Report 103). Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), 2015

„Irre Beschäftigungseffekte“, „wirklich tolles Land“: Wenn Ökonomen sich überschlagen, lohnt ein Blick auf die Zahlen

Die deutsche Arbeitsmarktentwicklung in den vergangenen Jahren war von oben betrachtet sehr positiv. „Die“ Beschäftigung wächst und wächst. Es gibt offensichtlich immer mehr „Arbeitsplätze“ und zur Beweisführung wird dann darauf verwiesen, dass wir immer mehr „Beschäftigte“ haben. In der Wirtschaftspresse kann man dann solche Jubelmeldungen lesen: »43 Millionen. Diese Zahl jagte Ende November durchs Land – ­exakt 43,006 Millionen Erwerbstätige, 408.000 mehr als im Jahr zuvor. So viele Menschen hatten noch nie einen Job. Auch die Arbeitslosigkeit fiel: auf 2,7 Millionen.« Dieses Zitat wurden dem Artikel Bofinger wundert sich über „irren“ Jobmarkt von Georg Fahrion entnommen. »Kaum Wachstum – trotzdem brummt der Arbeitsmarkt. Das ist selbst für einen Ökonomen wie Peter Bofinger nur schwer erklärbar«, so der Autor des Artikels. Und Peter Bofinger ist doch einer bzw. der einzige eher kritische Ökonom in dem Gremium, das umgangssprachlich als die „fünf Wirtschaftsweisen“ bezeichnet wird. Und um ganz sicher zu gehen, dass die frohe Botschaft vor dem anstehenden Fest auch ankommt, wird noch eine Schippe raufgelegt: Auch Bert Rürup, ehemaliger Kopf der Wirtschaftsweisen, ist voll des Lobes über Deutschland: „Seit einigen Jahren ist Deutschland ein wirklich tolles Land.“ Und dann – wenn denn die Zitate richtig sind – überschlägt sich der ehemalige Superberater der Bundesregierung: „Wenn ich Papst wäre, wüsste ich, warum ich den Boden küsse, wenn ich nach Deutschland komme.“ Das sitzt. Also alles gut im „Jobwunderland“ Deutschland?

Es soll an dieser Stelle gar nicht erst die Frage gestellt werden, was dass denn für „Jobs“ sind, die da vor sich hin wachsen. Aber ein nüchterner Blick auf Begriffe wie „Arbeitsplätze“, „Beschäftigte“ usw. ist schon hilfreich, denn dann offenbart sich zumindest ein differenzierteres Bild.

Man muss wissen, dass „Erwerbstätige“ ein sehr weiter Oberbegriff ist. Darunter werden alle subsumiert – „normale“ Arbeitnehmer mit einem Vollzeitjob, Teilzeitbeschäftigte einschließlich der geringfügig Beschäftigten, aber auch alle Selbständige bis hin zu den mithelfenden Familienangehörigen. Es gibt eine weitere Kategorie in der Arbeitsmarktstatistik: beschäftigte Arbeitnehmer. Zu den Arbeitnehmern zählen alle abhängig Beschäftigten (Beamte, Arbeiter, An­ge­stell­te, ge­ring­fü­gig Tätige und Auszubildende). Schaut man sich deren Entwicklung an, dann spricht auch hier alles für ein quantitatives „Jobwunderland“ Deutschland. Man sieht das Wachstum der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer in den vergangenen Jahren. 2013 waren es fast 38 Millionen Menschen, die mit diesem Status gezählt wurden und im nunmehr fast abgeschlossenen Jahr 2014 ist die Zahl weiter gestiegen. Allerdings gibt die folgende Abbildung auch einen ersten Hinweis auf die Notwendigkeit eines diffenzierenden Blicks, denn die Zahl der Vollzeitbeschäftigten hat deutlich abgenommen, während spiegelbildlich die Zahl der Teilzeitbeschäftigten erheblich angestiegen ist:

Man kann die hinter diesen Zahlen stehende Dynamik auch mit der üblichen Index-Darstellung sichtbar machen, in dem man also einen Blick darauf wirft, wie sich die einzelnen Komponenten seit 1991 entwickelt haben. Dann wird das Auseinanderlaufen – Vollzeit runter, Teilzeit rauf – klar sichtbar gemacht. Hinzu kommt ein weiterer, wichtiger Aspekt. Normalerweise werden immer Köpfe genannt, also 43 Mio. Erwerbstätige und viele denken dann, 43 Mio. Arbeitsplätze und bei Arbeitsplätzen denken dann viele an ganz bestimmte Arbeitsplätze, oftmals – ob bewusst oder unbewusst – an einen Arbeitsplatz mit Vollzeit und einem halbwegs „normalen“ Lohn. Die Abbildung verdeutlicht aber auch den Tatbestand, dass zwar die Zahl der Arbeitnehmer insgesamt angestiegen ist, zugleich aber das insgesamt von diesen geleistete Arbeitsvolumen gemessen in Arbeitsstunden zurückgegangen ist, was sich natürlich auf dem Teilzeiteffekt erklärt, in dem auch die große Zahl an ausschließlich geringfügig Beschäftigten, auch „Minijobber“ genannt, enthalten ist:

Und abschließend noch eine Abbildung, die hier nicht fehlen soll und auf die Notwendigkeit eines genaueren Blicks auf „die“ Beschäftigung und ihrer Entwicklung verweist: Nicht jeder Job wird von einem anderen Menschen besetzt und ausgeübt, es gibt auch Menschen, die nicht nur einen, sondern zwei oder drei Jobs ausüben bzw. – da wird es dann wirklich interessant hinsichtlich einer erforderliche Tiefenanalyse – ausüben müssen, weil sie sonst nicht über die Runden kommen:

Eigentlich erwartet man einen nüchternen Blick auf die Zahlen und die dahinterliegenden Entwicklungen und Ausformungen von Ökonomen, die sich nicht als Theologen („den Boden küssender Papst“) oder Psychiater („irrer Jobmarkt“) verstehen. Aber vielleicht sind sie ja auch nur falsch zitiert worden.

Da war doch was im „Jobwunderland“ Deutschland … Langzeitarbeitslose beispielsweise. Und um die ging es im Deutschen Bundestag

Deutscher Bundestag: Debatte zu Langzeitarbeitslosigkeit am 13.11.2014

Debatte im Bundestag zu Langzeitarbeitslosigkeit mit Reden von Sabine Zimmermann (Die Linke), Matthias Zimmer (CDU), Brigitte Pothmer (B90/Grüne), Daniela Kolbe (SPD), Matthäus Strebl (CSU), Matthias W. Birkwald (Die Linke), Katja Mast (SPD), Wolfgang Strengmann-Kuhn (B90/Grüne), Christel Voßbeck-Kayser (CDU), Matthias Bartke (SPD) und Jutta Eckenbach (CDU):