Kinder unter Hartz IV – kurz vor Weihnachten ein Aufflackern in der Berichterstattung. So viele kleine Schicksale in einer großen Zahl

Nein, hier geht es nicht um eine Auseinandersetzung mit den vielen Artikeln und Sendungen, die in diesen Tagen rund um das Thema „Hartz IV“ erschienen sind. Es geht hier um eine Zahl.
1,64 Millionen, so lautet diese Zahl.

Man kann diese Zahl auch anders übersetzen: Jedes sechste Kind in Deutschland ist von Hartz-IV-Leistungen abhängig. Das bewegt den einen oder die andere gerade in den Tagen vor dem Weihnachtsfest, in denen viele Erwachsene an leuchtende Kinderaugen denken oder sich diese wünschen. Eine Projektionsfläche für eigene Kindheitserinnerungen und darüber hinaus für den Versuch, aus der Routine und oftmals auch Tristesse des Alltags ausbrechen zu können. Das ist legitim, vielleicht sogar sehr wichtig. Und in diesem Kontext wird es dann auch absolut verständlich, warum diese Tage auch die wichtigsten sind für diejenigen, die Spenden sammeln. Ob für „Ärzte ohne Grenzen“, für rumänische Straßenhunde oder für Wikepedia. Denn in diesen Tagen gibt man gerne und auch mehr als sonst. Und man ist aufnahmefähig für Berichte, in denen darauf hingewiesen wird, dass es viele Kinder auch in unserem Land gibt, denen nicht vergönnt sein wird, unter einem reichlich bestückten Weihnachtsbaum Geschenke auspacken zu können. Damit sind wir wieder bei den 1,64 Millionen Kindern unter 15 Jahre, die sich derzeit im Hartz IV-Bezug befinden oder besser: unter Hartz IV, denn ihre Situation ist durch die Lage ihrer Eltern bedingt. Kinderarmut keine eigenständige Armutsform, sondern immer eine abgeleitet Armut ihrer Eltern.

Deshalb müssen alle Überlegungen, wie man Kinderarmut bekämpfen kann, am System Familie und insbesondere an den Erwachsenen ansetzen. Aber zuvor ein notwendiger Blick auf die Zahlen, hinter denen sich – das kann nicht oft genug betont werden – lauter Einzelschicksale verbergen:
Aktuell sind mehr als 1,64 Millionen Kinder unter 15 Jahre auf Hartz IV angewiesen oder leben in einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft. Das sind 15,5% aller Unter-15-Jährigen. Dabei gibt es eine erhebliche Streuung schon auf der Ebene der Bundesländer, denn in Berlin ist derzeit jedes dritte Kind betroffen, während es in Bayern nur 7,2 Prozent sind. In Ostdeutschland lag die Quote mit 23,5 Prozent wesentlich höher als im Westen (13,7 Prozent).


Schon ein erster Blick auf die Hilfequoten verdeutlicht, dass es hinsichtlich der Kinder eine „Sonderentwicklung“ in den vergangenen Jahren gegeben hat. Denn während der Anteil der auf Hartz IV-Leistungen angewiesenen Menschen seit 2010 leicht rückläufig ist und auch der Anteil der erwerbsfähigen Menschen, die im SGB II-Bezug sind, abgenommen hat, sieht seit 2012 die Entwicklung bei den Kindern anders aus, hier steigen die Anteilswerte wieder. Darauf wird übrigens nicht erst jetzt hingewiesen, vgl. dazu beispielsweise den Blog-Beitrag Die Kinder und die Armut ihrer Eltern. Natürlich auch Hartz IV, aber nicht nur. Sowie die Frage: Was tun und bei wem? vom 11.11.2014). Dann stellt sich natürlich die Frage, wie es zu dieser vom generellen Trend abweichenden Entwicklung kommen kann, denn man muss sehen, dass die vergangenen Jahre arbeitsmarklich gesehen eine gute Phase waren, was sich eben auch in einem – wenn auch viele zu geringen – Rückgang der allgemeinen Zahl an Hartz IV-Empfängern niedergeschlagen hat. An dieser Stelle sei erinnert an die Aussage, dass es Kinderarmut als solche nicht gibt, da es sich immer um eine von der Armut der Eltern abgeleitete Armut handelt. Insofern macht es Sinn, einmal genauer hinzuschauen, ob und wen ja welche Haushalte denn besonders betroffen sind. Hier zeigt sich, dass es vor allem zwei – allerdings in sich durchaus sehr heterogene – Gruppen sind, in denen die von Hartz IV-Leistungen abhängigen Kinder leben: Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose.
Jeder 10. Haushalt ist von Hartz IV-Leistungen abhängig, bei den Alleinerziehenden sind es 40% der Haushalte. Die Hälfte der in Armut lebenden Kinder, lebt bei Alleinerziehenden und bezieht Hartz VI. Insgesamt sind 39 Prozent der Familien mit nur einem Elternteil auf Hartz IV angewiesen. Wie keine andere gesellschaftliche Gruppe sind sie von Armut betroffen.

Dabei gehen 70 Prozent der Single-Eltern einer Arbeit nach. Doch nicht immer gelingt es, die Rolle der Alleinerziehenden und der Familienernährerin unter einen Hut zu bringen: Jede fünfte berufstätige Alleinerziehende muss aufstocken, also zusätzlich Leistungen vom Jobcenter beziehen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Erschwerend kommt hinzu, dass nur die Hälfte aller anspruchsberechtigten Kinder den Unterhalt vom anderen Elternteil in voller Höhe ausgezahlt bekommt. Tatsächlich arbeiten 45 Prozent der Alleinerziehenden in Vollzeit-Jobs, dagegen nur 30 Prozent der Frauen, die in einer Paarfamilie leben.

Zu der oftmals schwierigen Situation Alleinerziehender sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Studien erschienen, die belegen, welchen Hemmnissen die Betroffenen ausgesetzt sind. Die Bertelsmann-Stiftung schreibt dazu anlässlich der Veröffentlichung einer neuen Studie:

»Das Problem vieler Alleinerziehenden ist, dass sie nicht nur den Alltag mit Arbeit, Haushalt und Kindern allein organisieren müssen, sondern auch noch von der Politik via Steuer- und Unterhaltsrecht zahlreiche Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommen. Denn der Staat orientiert sich zu stark  an der Zwei-Eltern-Familie. Und das stellt Alleinerziehende mitunter vor gewaltige finanzielle Probleme … Der Gesetzgeber geht seit der Unterhaltsrechtsreform aus dem Jahr 2008 davon aus, dass jede Alleinerziehende problemlos Vollzeit arbeiten kann, sobald ihr Kind drei Jahre alt ist und eine Kinderbetreuung zur Verfügung steht. Entsprechend muss der Expartner ab diesem Zeitpunkt keinen Betreuungsunterhalt mehr zahlen.« (Wie die Politik Alleinerziehende unter Druck setzt).

Die angesprochene Studie versucht eine Bestandsaufnahme der Situation der Alleinerziehende sowie eine Diskussion von möglichen Lösungsansätzen:

Anne Lenze: Alleinerziehende unter Druck. Rechtliche Rahmenbedingungen, finanzielle Lage und Reformbedarf. Gütersloh 2014

Als ein Beispiel für eine gelungene, weil sensible und zugleich differenzierte Bestandsaufnahme sei an dieser Stelle auf einen Beitrag hingewiesen, der vom Deutschlandradio Kultur ausgestrahlt wurde und den man als Audio-Datei abrufen kann:

Alltagskampf bis zur Erschöpfung (15.12.2014)
90 Prozent aller Alleinerziehenden sind weiblich, viele von ihnen auf Hartz IV angewiesen. Im Zuge der Agenda 2010 hat sich für viele von ihnen die Situation verschärft – gefordert wird viel, vom Fördern ist nicht viel übrig geblieben. Doch das Jobcenter ist nicht das einzige, gegen das sie Tag für Tag ankämpfen müssen.

In diesem Beitrag wird an vielen Stellen herausgearbeitet, mit welchen strukturellen Problemen die Betroffenen zu kämpfen haben, die es aber eben auch verunmöglichen, durch eine punktuelle Intervention schnell deutlich positive Ergebnisse beispielsweise hinsichtlich einer besseren Arbeitsmarktintegration erreichen zu können. 

Und mit strukturellen Problemen in mehrfacher Hinsicht haben es auch die Langzeitarbeitslosen zu tun, wenn sie den eine Arbeit suchen. Und es sind wirklich sehr viele Langzeitarbeitslose, die nicht nur Arbeitssuchenden, sondern bereit sind, jede Form der Beschäftigung anzunehmen, wenn sie aus ihren Zustand dadurch entfliehen können. Aber oftmals prallen sie an den Anforderungen bzw. Erwartungen bzw. Vorurteilen der heutigen Arbeitswelt ab. Anfang November 2014 wurden auf dieser Seite die Ergebnisse einer neuen Studie der Hochschule Koblenz vorgestellt, die sich mit einer Quantifizierung des so genannten „harten“ Kerns der Langzeitarbeitslosigkeit beschäftigt hat (vgl. dazu den Beitrag Neue Zahlen zur Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit im Grundsicherungssystem. Und in der Arbeitsmarktpolitik wird das „Programmhopping“ für einige wenige fortgeschrieben). In Anlehnung an die sehr restriktive Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung durch den Gesetzgeber definieren die Wissenschaftler Personen als arbeitsmarktfern, wenn sie in den letzten drei Jahren nicht beschäftigt waren und mindestens vier „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen. Diese „Vermittlungshemmnisse“ führen dazu, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die davon betroffenen in absehbarer Zeit in irgendeine Erwerbsarbeit integriert werden können, gegen Null geht. Und je länger für diese Menschen nichts passiert, was ihre Passivierung in der Langzeitarbeitslosigkeit aufzubrechen in der Lage ist, umso schwieriger wird es werden, sie jemals in die Nähe einer solchen Erwerbsarbeit zu bringen. Erschreckend ist die quantitative Größenordnung, um die es bei diesem „harten“ Kern der Langzeitarbeitslosigkeit geht und auch die beobachtbare Zunahme dieser Personengruppe – wohlgemerkt, in einer Phase, die allgemein durch gute arbeitsmarktliche Rahmenbedingung geprägt war – ist äußerst bedenklich:

»Mehr als 480.000 Menschen in Deutschland haben nahezu keine Chance am Arbeitsmarkt. Das ist das Ergebnis einer Studie des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) der Hochschule Koblenz. Trotz guter Arbeitsmarktlage ist ihre Zahl im Vergleich zum Vorjahr noch gestiegen. In den Familien dieser Menschen leben über 340.000 Kinder unter 15 Jahren – ebenfalls deutlich mehr als noch im Vorjahr … Mit 435.000 Menschen gab es 2011 noch zehn Prozent weniger Betroffene. Und auch die Zahl der Kinder ist gestiegen. 2011 lebten 305.000 unter 15-Jährige in den Haushalten der Arbeitsmarktfernen, 11,5 Prozent weniger als 2012.«

Man kann es drehen und wenden wie man will – wenn die Situation der Eltern, die sich in der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit befinden, nicht aufgebrochen wird, dann werden die Kinder weiter leiden müssen. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass man die Verhältnisse, unter denen diese Kinder aufwachsen (müssen), auf eine andere Schiene setzt. Das bedeutet konkret, dass wir wenigstens bei den Personen, bei denen wir relativ gesichert wissen, dass sie mittel- bis langfristig so gut wie keine realistische Chance auf eine „halbwegs normale“ Erwerbsarbeit haben werden, mithilfe von sinnvollen öffentlich geförderten Beschäftigungsangeboten darauf hinwirken, dass diese Menschen, die eben auch Eltern sind, einer Erwerbsarbeit nachgehen können.

Aber so, wie man derzeit die Alleinerziehenden gleichsam „im Regen stehen lässt“ bzw. teilweise ihre Situation sogar noch zu verschlechtern gedenkt, so bewegt sich hinsichtlich der von allen halbwegs ehrlich an die Sache herangehenden Experten dringend angemahnten Aktivitäten zu Gunsten einer besseren Integration von Langzeitarbeitslosen außer der Inaussichtstellung nur als kosmetisch zu bezeichnende Pseudo-Programme auf der politischen Bühne nichts. Das wird sich nicht nur bei den eigentlich Betroffenen bitter rächen, sondern auch mit Blick auf die Kinder. Die sind am meisten ausgeliefert und werden gleichsam mit in Haftung genommen für das Tätigkeits-Versagen der Politik. Dann aber braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn der Umfang der Kinderarmut in unserem Land weiter anwachsen wird. Frohe Weihnachten sehen anders aus.

Motivationsgedopte Hartz IV-Arbeitslose nehmen nach Talentdiagnostik und Beschäftigungsradar als „Baumhaus-Bauer“ oder „Blog- und Twitter Ghostwriter“ den Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit auf. Richtig gelesen. Peter Hartz ist wiederauferstanden

Da ist er wieder – pünktlich im medialen Getümmel um „10 Jahre Hartz IV“. Der Namensgeber Peter Hartz. Es handelt sich sozusagen um einen Wiederholungstäter, denn er ist heute ehrenamtlich für die von seinem Sohn geleitete Stiftung „Saarländer helfen Saarländern“ tätig. Dort entwickelt er arbeitsmarktpolitische Konzepte, zuletzt für arbeitslose Jugendliche in Europa. Jetzt hat er ein Interview gegeben. Und wie immer muss man genau hinschauen – die Überschrift wird auf den ersten Blick vielen Kritikern gefallen: Hartz findet Grundsicherung bis heute viel zu niedrig. Und dann kommt: »Der hält seine Reform zehn Jahre nach Einführung für einen Erfolg, gibt aber Fehler zu. Langzeitarbeitslosen empfiehlt er eine Gruppentherapie.«

Erst einmal zur Frage der Höhe der Grundsicherung. Dazu Peter Hartz:

»Wir hatten eine höhere Grundsicherung vorgeschlagen, auf dem Niveau der durchschnittlichen Arbeitslosenhilfe, die damals 511 Euro betrug. Beschlossen wurden dann 359 Euro.«

Allerdings taucht dieser Betrag von 511 Euro in den mir bekannten Dokumenten der Kommission nicht auf. Jedenfalls nicht im Abschlussbericht der „Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, wie die Gruppe um Hartz offiziell betitelt war.

Vor dem Hintergrund der langjährigen Auseinandersetzungen über die Frage, wer denn die Grundsicherungsempfänger betreuen soll, also Bundesagentur für Arbeit versus Kommunen und dem letztendlichen Kompromiss eines zweigeteilten Systems mit „gemeinsamen Einrichtungen“, wo BA und Kommunen zusammen die Jobcenter bestücken, sowie den Jobcentern in alleiniger kommunaler Trägerschaft, sehr interessant ist auch der folgende Passus aus dem Interview:

»Wir hätten Jobcenter und Arbeitsagenturen bei der Bundesagentur für Arbeit in einer Hand gelassen. Dass ein Teil der Jobcenter von den Kommunen betrieben wird, ist ineffizient.«

Auf die Frage nach dem expandierenden Niedriglohnsektor im Gefolge der „Hartz-Reformen“ hat er eine klare Antwort:

»Es war notwendig. Neue Arbeitsplätze bringt ja nicht der Weihnachtsmann.«
Und dann baut er wieder einen für sich angenehmen Mythos auf:

»Jeder Mensch sollte aber ein menschenwürdiges Einkommen haben. Ein Mindestlohn, so wie er jetzt eingeführt wird, ist ein möglicher Weg, das zu sichern. Wir hatten ja auch 2002 einen geplant.«

Ach ja – und wo steht das in den damaligen Veröffentlichungen? Behaupten kann man viel. Andere Mitglieder der Kommission waren da ehrlicher und haben rückblickend geäußert, dass man einen solchen hätte einführen müssen gleichsam als Gegengewicht zu den erheblichen Verschlechterungen der Bedingungen für die Arbeitslosen, Stichwort Beseitigung der Zumutbarkeitsschutzbestimmungen.
Aber Hartz äußert sich auch zur aktuellen arbeitsmarktpolitischen Problemlage. Und da wird man dann noch unruhiger:

»Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist entschieden zu hoch. Hier sollte die Bundesregierung neue Wege beschreiten. Sie sollte die Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung der letzten zehn Jahre anwenden.«

Ah, die Verhaltensforscher. Sollte er es etwa nicht lassen können mit der Psychologisierung und radikalen Individualisierung von Arbeitslosigkeit? Nein, kann er nicht.
Aber lesen wir, was er dazu sagt:

»Man muss Langzeitarbeitslose in einer Gruppe betreuen und sie dazu bringen, sich selbst wieder zu einem Projekt zu machen. Sie müssen zu der Überzeugung kommen: „Ich will es, ich kann es“. Die Leute müssen den Kopf frei bekommen zur Aufnahme von neuen Dingen.«

An dieser Stelle ist dann selbst die Interviewerin, Flora Wisdorff, etwas skeptisch und wirft ein: »Das klingt ein bisschen nach Gehirnwäsche.«

Aber Hartz lässt sich nicht beirren: »Die Bereitschaft zur Aufnahme einer Arbeit muss entwickelt werden.« Wir wollen an dieser Stelle nicht über die Annahmen diskutieren, die hinter solchen Aussagen stehen. Die Interviewerin hakt nach:
»Und das macht man dann in einer psychologischen Gruppentherapie?«
Jetzt kommt der alte Hartz wieder zum Vorschein – schöne neue Begriffswelten schaffen (wie war das noch einmal – „Ich-AG“ oder ganz besonders pikant „familienfreundliche Quick-Vermittlung“):

»Ja, bis der Einzelne bereit ist, wieder in den Arbeitsprozess einzusteigen, wird er dort betreut. Dann kommen unsere Talentdiagnostik und unser Beschäftigungsradar ins Spiel.«

Und dann hebt er in bekannter Manier ab:

»Wir finden heraus, welche besonderen Talente jemand hat. Und dann suchen wir einen Job, den er als Kleinunternehmer, als „Minipreneur“ ausüben kann. Mit Hilfe von Big Data. Damit kann man nämlich nicht nur überwachen, sondern auch die Bedürfnisse für Dienstleistungen bis in die Nachbarschaft hinein messen.«

Auf seiner Website nennt er sogar Beispiele, was einem da drohen würde als motivationsgedopter Arbeitsloser: „Baumhaus-Bauer“ oder einen „Blog- und Twitter Ghostwriter“, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Bevor man sich jetzt anfängt aufzuregen: Bisher hat die BA das Konzept noch nicht übernommen, was Herr Hartz sehr schade findet. Andere sicherlich nicht.

Die Drehtür dreht ihre Runden: Arbeitslose rein in die Leiharbeit, raus und wieder rein. Aber alles soll besser werden. Dabei zieht die Karawane schon längst weiter auf eine andere Baustelle

Die Leiharbeit wird gerne als „Brücke in den Arbeitsmarkt“ angepriesen. Zwar wird jeder dritte Arbeitslose in diese Branche vermittelt. Doch nach einem Jahr steht die Hälfte wieder auf der Straße, berichtet Stefan Borsten in seinem Artikel Von Hartz IV in die Leiharbeit und wieder zurück. Er zieht seine Erkenntnisse aus einer Anfrage der arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer. »Mehr als 30 Prozent aller Arbeitslosen, die von Arbeitsagenturen und Jobcentern vermittelt werden, landen in der Zeitarbeit. Viele von ihnen stehen nach einem halben Jahr wieder auf der Straße«, so Borstel mit Bezug auf die Antwort des Bundesarbeitsministeriums. Man muss die genannten 30 Prozent in Relation setzen zu 2,5 Prozent. Das ist der Anteilswert der Leiharbeiter an allen abhängig Beschäftigten. Pothmer spricht der Leiharbeit die behauptete Brückenfunktion in dauerhafte Beschäftigung ab, sondern spricht von einer „Drehtür“ zwischen Leiharbeit und Arbeitslosigkeit. Für Arbeitsagenturen (und Jobcenter) gibt es einen systematischen Anreiz, Vermittlungen in Leiharbeitsverhältnisse zu betreiben: »Da der Erfolg einer Arbeitsagentur über die Zahl der „Integrationen“ in den Arbeitsmarkt gemessen wird, bemühen sich die Jobvermittler, einem Arbeitslosen so schnell wie möglich irgendeinen Job zu verschaffen, ohne auf die Dauer der vermittelten Beschäftigung zu achten. Dabei zählt die Zeitarbeit genauso wie jede reguläre Stelle.« Hinzuzufügen wäre an dieser Stelle, dass die „Integrationen“ über Leiharbeitsfirmen mit einem deutlich niedrigeren Aufwand für die Agenturen und Jobcenter als „normale“ Vermittlungen verbunden sind, denn die Leiharbeitsfirmen nehmen ihnen die Arbeitsuchenden ab und das häufig in großer Zahl.

Dieser Zusammenhang wurde aktuell erneut in den Medien thematisiert, so in dem Beitrag Arbeitsagenturen fördern Zeitarbeit des Wirtschaftsmagazins „Plusminus“ (ARD): »Die Bundesagentur für Arbeit schlägt Arbeitssuchenden oft Stellen in der Zeitarbeit vor. Dafür arbeitet die Behörde eng mit den Leihfirmen zusammen – und leistet damit einer ganzen Branche kostenlos Schützenhilfe.« Man kann von einem – für beide Seiten, also für die Agenturen/Jobcenter und den Leiharbeitsfirmen durchaus plausiblen – „Geschäftsmodell“ sprechen, das eine „win-win“-Situation schafft: »Die Arbeitsagenturen und die Jobcenter profitieren einerseits angesichts der vielen Stellenangebote von den Leiharbeitsfirmen, auch und gerade vor dem Hintergrund, dass sie aus anderen Branchen kaum oder nur sehr wenige Stellenangebote bekommen. Und jede „Übergabe“ in Erwerbsarbeit ist eine Integration. Wenn man daran gemessen wird, macht es „Sinn“, mit der Leiharbeit zu kooperieren, denn hier stehen Aufwand und Ertrag in einem sehr günstigen Verhältnis, man kann das also durchaus entsprechend pushen. Auf der Seite gibt es einen weiteren wichtigen Vorteil, diesmal für die Leiharbeitsunternehmen: Durch die vielen Stellenangebote, die oftmals auch quantitativ aufgeblasen werden,  kommt man kostengünstig, soll heißen: umsonst, an die Stellenprofile von Arbeitsuchenden, die dann besonders wertvoll sind, wenn man wieder neuen und unvorhersehbaren Arbeitskräftebedarf hat.« So habe ich das bereits im April 2014 in dem Blog-Beitrag Ausprobieren, hängen bleiben und alles wird gut? Es gibt einen „Klebeeffekt“ der Leiharbeit – in der Leiharbeit. Sonst kaum formuliert.

Der Anteil der Vermittlungen in Leiharbeit ist leicht auf 31 Prozent gesunken, stagniert jedoch seit 2013 auf hohem Niveau. 2010 lag dieser Anteil noch bei 36 Prozent, 2011 bei 37 Prozent. Das muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Frank-Jürgen Weise, der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), »bereits Anfang 2013 von einer „Fehlentwicklung“ gesprochen und Besserung gelobt. Es müsse mehr auf Qualität und Nachhaltigkeit der Vermittlung geachtet werden, hatten auch die Gewerkschafter im Verwaltungsrat gemahnt, nachdem der Anteil der Vermittlungen in die Zeitarbeit sprunghaft angestiegen war. In einigen Arbeitsagenturen gingen zwischen 60 und 69 Prozent der Besetzungserfolge auf das Konto der Zeitarbeit«, so Borstel.

Über die Bedeutung der Leiharbeit für die „Vermittlung“ von Arbeitslosen im SGB III und gerade auch im SGB II wurde auf der Website O-Ton Arbeitsmarkt immer wieder berichtet. So beispielsweise am 21.10.2014 in dem Beitrag Bundesagentur für Arbeit: Mehr als jede dritte offene Stelle in der Leiharbeit: Im September 2014 wurden der Bundesagentur für Arbeit 518.000 offene Stellen gemeldet. Rund 176.500 dieser Stellen – 34 Prozent – entfielen dabei auf die Arbeitnehmerüberlassung. Damit ist mehr als jeder dritte über die BA zu besetzende Arbeitsplatz ein Leiharbeitsverhältnis – bei einer erheblichen Streuung. In einigen Regionen liegt ihr Anteil an allen gemeldeten Stellen deutlich unter 20 Prozent. In anderen Regionen hingegen machen die Stellenangebote in der Leiharbeit etwa die Hälfte des gesamten Angebots an Arbeitsstellen aus. Und bereits im Januar 2013 wurde in dem Artikel 75 Prozent Niedriglöhner in der Zeitarbeit darauf hingewiesen, dass bei drei Viertel aller vollzeitbeschäftigten Zeitarbeiter das Einkommen unterhalb der Niedriglohnschwelle lag. Bei 9,6 Prozent aller sozialversicherungspflichtig beschäftigten Leiharbeiter war das Einkommen so gering, dass sie zusätzlich Hartz IV-Leistungen erhalten – Tendenz steigend. Das alles hängt natürlich auch zusammen mit der gewaltigen Deregulierung der Leiharbeit im Gefolge der „Hartz-Gesetze“ – in der Abbildung sieht man den enormen Anstieg der Zahl der Leiharbeiter nach der „Reform“, die zum 1.1.2013 in Kraft getreten ist.

Aber gibt es nicht Aussicht auf Verbesserungen? Stefan Borstel schreibt dazu in seinem Artikel: »Die große Koalition hat sich vorgenommen, die Liberalisierung ein Stück weit zurückzudrehen. Die Verleihdauer soll auf 18 Monate begrenzt werden, nach neun Monaten Einsatz sollen Leiharbeiter den gleichen Lohn wie Stammbeschäftigte erhalten.« Das hört sich gut an – und auch die Bundesregierung hat im August dieses Jahres in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Linken – Entwicklungen in der Leiharbeit – darauf hingewiesen.

Nun habe ich bereits in einem Interview mit Spiegel Online im November 2013 Skepsis angemeldet, was die Wirksamkeit bzw. Relevanz dieser Maßnahmen angeht (vgl. hierzu „Karussell für Leiharbeiter“): »Die 18-Monats-Begrenzung betrifft nur die wenigsten Leiharbeiter. 50 Prozent der Entleihungen dauern nicht länger als drei Monate. Schon seit 2011 heißt es im Gesetzestext, dass Entleihungen „vorübergehend“ sein sollen. Die 18 Monate sind jetzt eine Konkretisierung dieser Klausel … Übrigens sind bei der 18-Monats-Begrenzung auch die weiteren Ausführungen im Koalitionsvertrag interessant: Durch einen Tarifvertrag in der Entleihbranche oder einer Betriebsvereinbarung auf Unternehmensebene kann von der 18-Monats-Grenze abgewichen werden. Über die Hintertür käme man dann wieder zum alten Modell.«

Und auch die Perspektive, dass nach neun Monaten in demselben Betrieb die Leiharbeiter das gleiche Gehalt bekommen sollen wie die Stammbelegschaft, habe ich damals skeptisch kommentiert: »Auch davon werden nicht viele profitieren. Wie schon gesagt: Die meisten Entleihungen sind kürzer. Außerdem haben wir das zum Beispiel in der Metallindustrie schon, mit den stufenweise ansteigenden Branchenzuschlägen.«

Wenige Monate später wurden diese Einschätzungen dann von anderer Seite untermauert: Neue Regeln für Leiharbeit betreffen wenige Beschäftigte. Nur jeder vierte Leiharbeiter dürfte von den Plänen der Großen Koalition für eine Reform der Zeitarbeit profitieren, so eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. So sei nur jeder vierte Leiharbeiter länger als neun Monate im selben Unternehmen beschäftigt. Im Durchschnitt dauert der Einsatz eines Leiharbeiters drei Monate. Von der Begrenzung der Zeitarbeit auf 18 Monate würde sogar nur jeder siebte Leiharbeiter profitieren.

Nun könnte man – bei allen mit dem Drehtüreffekt für die Betroffenen verbundenen negativen Auswirkungen (vgl. hierzu nur beispielhaft aus dem Artikel Ein Leben von und mit Hartz IV von Tiemo Rink die Darstellung des Leiharbeiters Matthias Gräber, 53, der seit 15 Jahren in der Leiharbeit hängen geblieben ist und seit vier Jahren, seit seine Frau dazu gekommen ist, aufstocken muss, trotz Vollzeitbeschäftigung) – auf einer aggregierten Ebene argumentieren, dass das losgelöst von bitteren Einzelschicksalen aber kein erhebliches Problem sei, denn der Anteil der Leiharbeiter an allen abhängig Beschäftigten liegt sich „nur“ bei 2,5%. Dies übersieht nicht nur die Tatsache, dass das der Wert für die Gesamtwirtschaft ist, die Anteilswerte in bestimmten Branchen und noch mehr in bestimmten Unternehmen liegen teilweise erheblich darüber.

Aber das soll hier gar nicht der Punkt sein. Bereits seit einigen Jahren ist ein „Verlagerungstrend“ weg von der „klassischen“ Leiharbeit zu beobachten, wobei sich dieser Trend mit der zunehmenden Re-Regulierung der Leiharbeit verstärkt. Die Stichworte „Werkverträge“ bzw. „Dienstverträge“ mögen hier andeuten, in welche Richtung die Argumentation zielt. Weil die Leiharbeit in manchen Branchen mit Branchenzuschlägen (derzeit sind es neun Branchen, darunter die Metall- und Elektroindustrie) den Auftraggebern schlicht „zu teuer“ geworden ist, wandern sie seit geraumer Zeit weiter zu alternativen, aber billigeren Modellen, wie eben der Beschäftigung von Werkvertragsarbeitnehmern. Nicht nur, aber auch ein Reflex auf die Re-Regulierung der Arbeitnehmerüberlassung. Und je mehr das um sich greift, um so lauter werden die Rufe nach einer Regulierung der Werk- und Dienstvertragslandschaft. Auch da soll was passieren, glaubt man an den Koalitionsvertrag. Aber diesen Bereich zu regulieren ist weitaus komplexer und unsicher hinsichtlich des Wann und Wie, denn hier gibt es neben den „Schein-Werkverträgen“ auch viele echte und in einer arbeitsteiligen Wirtschaft auch sinnvolle Fallkonstellationen, bei denen man zu diesem Instrument greifen muss. Ein „Vorteil“ (aus Sicht betroffener Unternehmen)  hat die Werkvertragslandschaft allerdings: Wir wissen hier empirisch nicht annäherungsweise das, was wir über die Leiharbeit und die dort arbeitenden Menschen wissen. Es gibt keine verlässlichen Zahlen über den Umfang der Werkvertragsarbeitnehmer, geschweige denn eine regionale, branchen- oder gar betriebsbezogene Aufschlüsselung, so dass man entweder im Dunkeln stolpern muss oder aber in der anekdotischen Evidenz verbleibt. Das macht die Arbeit für den Gesetzgeber naturgemäß nicht einfacher.

Abschließend wieder zurück zur Leiharbeit. Was könnte man denn tun, wenn man nicht jede Form der Arbeitnehmerüberlassung grundsätzlich verbieten will (oder kann), sondern durchaus anerkennt, dass es in eng und genau umrissenen Handlungsfeldern eine Nachfrage nach den spezifischen Vorteilen von Leiharbeitsbeschäftigten gibt und weiter geben wird, also beispielsweise für die Vertretung oder aber auch die Abarbeitung einer Auftragsspitze. Dazu aus dem Interview mit mir aus dem Oktober 2013: »Eigentlich ist Leiharbeit doch dafür da, dass Firmen kurzzeitige Auftragsspitzen schnell und unbürokratisch auffangen können. Seit die Schröder-Regierung diesen Bereich dereguliert hat, wird er auch zur Lohndrückerei missbraucht. Ein erster Schritt dagegen wäre eine wirklich kurze Begrenzung. In den siebziger Jahren etwa betrug sie drei Monate, bis 2002 waren es zwölf. Am wirkungsvollsten wäre aber equal pay, also die gleiche Bezahlung wie bei der Stammbelegschaft ab dem ersten Arbeitstag.«

Die andere Seite der „Rente mit 63“: Während die einen wollen, müssen die anderen. Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern

In den vergangenen Monaten wurde immer wieder überaus kontrovers über die „Rente mit 63“ diskutiert und oftmals auch polemisiert. Im Mittelpunkt der Argumentation vieler Kritiker steht dabei der Vorwurf, dass hier eine Rolle rückwärts gemacht werde angesichts der doch eigentlich auf den Weg gebrachten und aus dieser Perspektive auch als dringend erforderlich angesehenen Verlängerung des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Einige gehen sogar noch weiter, so beispielsweise Hans-Werner Sinn, der Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Er plädiert für eine weitgehende Liberalisierung des Renteneintrittsalters (vgl. hierzu den Artikel Hans-Werner Sinn fordert Abschaffung des gesetzlichen Rentenalters). Er wird zitiert mit den Worten: »Die Politik sollte ernsthaft darüber nachdenken, die feste Altersgrenze für die Beendigung des Arbeitslebens vollständig aufzuheben und gegenüber dem Arbeitgeber einen Rechtsanspruch auf Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses zu gleichen Bedingungen zu ermöglichen.« In diesem Kontext erscheint es dann schon mehr als begründungspflichtig, wenn es gleichzeitig eine Diskussion gibt über „Zwangsverrentung“ von Hartz IV-Empfängern mit 63. Wie passt das zusammen?  

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Da war doch was im „Jobwunderland“ Deutschland … Langzeitarbeitslose beispielsweise. Und um die ging es im Deutschen Bundestag

Deutscher Bundestag: Debatte zu Langzeitarbeitslosigkeit am 13.11.2014

Debatte im Bundestag zu Langzeitarbeitslosigkeit mit Reden von Sabine Zimmermann (Die Linke), Matthias Zimmer (CDU), Brigitte Pothmer (B90/Grüne), Daniela Kolbe (SPD), Matthäus Strebl (CSU), Matthias W. Birkwald (Die Linke), Katja Mast (SPD), Wolfgang Strengmann-Kuhn (B90/Grüne), Christel Voßbeck-Kayser (CDU), Matthias Bartke (SPD) und Jutta Eckenbach (CDU):