Donald Trump als Kämpfer für eine ehrliche Arbeitslosenstatistik? Zur Diskussion über die „Unterbeschäftigung“ und interessante Parallelen zu Deutschland

In der deutschen Diskussion gibt es seit langem einen veritablen Streit um die „richtigen“ Arbeitslosenzahlen. Waren es nun im Januar 2017 wirklich nur 2,77 Mio. Arbeitslose – oder nicht doch eher 3,7 Mio., also 900.000 mehr Betroffene, als den Bürgern mitgeteilt wurde? Vgl. dazu die genaueren Erläuterungen in dem Beitrag Der Arbeitsmarkt und die vielen Zahlen: Von (halb)offiziellen Arbeitslosen über Flüchtlinge im statistischen Niemandsland bis zu dauerhaft im Grundsicherungssystem Eingeschlossenen vom 2. Februar 2017. Und auch die 3,7 Mio. Menschen, die von der BA unter dem Stichwort Arbeitslose plus „Unterbeschäftigung“ ausgewiesen werden, können durchaus als Untergrenze für die wahre Betroffenheit von Erwerbslosigkeit verstanden werden. In einem doppelten Sinne interessanterweise wird eine vergleichbare Diskussion in den USA geführt. Zum einen gibt es auch dort eine Debatte über die offizielle und die „wahre“ Größenordnung der Erwerbslosigkeit – und zum anderen hat der viel geschmähte Donald Trump den Finger auf diese offene und eben nicht nur statistische Wunde gelegt. Natürlich mit ganz eigenen Interessen und nicht ohne wahrhaft Trump’sche Widersprüche, zugleich aber mit erstaunlichen Parallelen zur deutschen Debatte.

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Der Arbeitsmarkt und die vielen Zahlen: Von (halb)offiziellen Arbeitslosen über Flüchtlinge im statistischen Niemandsland bis zu dauerhaft im Grundsicherungssystem Eingeschlossenen

Um es gleich an den Anfang des Beitrags zu stellen: „Den“ Arbeitsmarkt gibt es sowieso nicht und wenn, dann nur in den Lehrbüchern mancher Ökonomen, die zudem auch noch suggerieren, dieser Markt würde in etwa so funktionieren wie der für Kartoffeln (und deshalb ist der Mindestlohn auch schlecht). Die Wirklichkeit ist wie immer (und je nach Gemütsverfassung) viel bunter bzw. grauer. Es gibt unzählige Einzelarbeitsmärkte und viele von denen sind auch noch lokal/regional begrenzt. Das erklärt einen nicht kleinen Teil der Probleme, die man mit Ausgleichsprozessen auf bzw. – noch schlimmer – zwischen diesen einzelnen Märkten hat. Der normale Arbeitnehmer weiß davon ein Lied zu singen, vor allem, wenn man eine neue Stelle sucht oder suchen muss. Aber das scheint ja immer seltener erforderlich z u sein, folgt man den (scheinbaren) Jubelmeldungen über die Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland, wie sie in monatlichen Abständen aus Nürnberg über die Medien verbreitet werden.

„Der Arbeitsmarkt ist gut in das neue Jahr gestartet. Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist im Januar allein aus jahreszeitlichen Gründen gestiegen. Saisonbereinigt gab es einen Rückgang“, so wird der Noch-Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, am 31. Januar 2017 anlässlich der monatlichen Pressekonferenz in Nürnberg zitiert. Der Zusammenfassung des Monatsberichts Januar 2017 der BA kann man entnehmen:

»Der Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung hat sich weiter fortgesetzt, wenn auch nicht mehr so stark wie im ersten Halbjahr 2016. Die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern bewegt sich auf anhaltend hohem Niveau. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sind allein aufgrund der üblichen Winterpause gestiegen, saisonbereinigt haben sie deutlich abgenommen. Die Arbeitslosigkeit liegt unter dem Vorjahreswert, die Unterbeschäftigung darüber, weil sie den zunehmenden Einsatz von Arbeitsmarktpolitik insbesondere für geflüchtete Menschen berücksichtigt. Ohne diesen Einfluss wäre auch die Unterbeschäftigung gesunken.« (S. 6)

Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es seit Jahren ein leidiges Thema der Berichterstattung über den Arbeitsmarkt ist, dass die allermeisten Medien partout vollständig änderungsresistent sind gegenüber dem nun wirklich ebenfalls seit langem bekannten Problem, dass die offizielle Zahl der registrierten Arbeitslosen lediglich die Untergrenze abbildet. Nicht umsonst spricht die BA selbst in ihren Mitteilungen immer nach dieser Zahl gleich von der „Unterbeschäftigung“ – eine (nett formuliert) mehr als unglückliche Wortkrücke für real existierende Arbeitslosigkeit, man könnte auch von Rosstäuscherei sprechen.

Die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht das Problem: Für Januar 2017 werden als Untergrenze 2,77 Mio. Arbeitslose ausgewiesen – und so gut wie alle Medien und auch die Agenturen übernehmen das bis in die Schlagzeilen, vgl. als eines der vielen Beispiel die übernommene Meldung der Agentur Reuters: »Die Bundesagentur für Arbeit (BA) registrierte im Januar 2,777 Millionen Arbeitslose«, die unter die Überschrift gestellt wurde: 2,77 Mio. ohne Job: Arbeitslosenzahl in Deutschland steigt moderat. Überall werden die Menschen mit dieser Zahl versorgt – nur macht es schon einen nicht nur rechnerischen Unterschied, ob man von 2,77 Mio. oder aber von 3,7 Mio., mithin also von 927.170 Arbeitslosen mehr berichten würde. Denn so groß ist die Zahl der „Unterbeschäftigten im engeren Sinne“. Wer darunter abgebucht wird, kann man der Abbildung entnehmen.

Und man muss jetzt doch nicht wirklich auch noch begründen, dass diese Zahl statt der 2,77 Mio. verwendet werden sollte. Denn dass die  über 158.000 Arbeitslosen über 58 Jahre, die aber seit einem Jahr kein Jobangebot mehr bekommen haben, faktisch arbeitslos sind, erschließt sich von selbst (und sie bekommen ja auch weiter ihre Leistungen), werden aber nicht gezählt. Und dass die Teilnehmer am sechsten Kurs „Wie bewerbe ich mich in Zeiten des Internets richtig“ selbstverständlich weiter arbeitslos sind, ist offensichtlich.

Aber es ist eben auch und vor allem ein Medienproblem. In Österreich beispielsweise wird immer die Zahl der Arbeitslosen und der in Maßnahmen befindlichen Menschen zusammen genannt, während bei uns die  mehr als 690.000 Maßnahmenteilnehmer in die „Unterbeschäftigung“ statistisch outgesourct werden.

Immer wieder wird das Thema mal aufgegriffen – so beispielsweise aktuell von Klaus Tscharnke von dpa in seinem Artikel Nicht jeder Arbeitsloser ist im Sinn der Statistik ohne Job. Er stellt die Tücken der Zahlen dar und weist dabei auch auf das Problem der „Unterbeschäftigung“ hin. Dabei zitiert er mich mit dieser Formulierung: »Der Koblenzer Arbeitsmarktforscher Professor Stefan Sell, der sich seit Jahren für mehr Transparenz auf dem Arbeitsmarkt einsetzt, nimmt die Bundesagentur in Schutz: „Die Bundesagentur veröffentlicht alles, man muss nur tief genug hineinsehen.“ Tatsächlich findet, wer sucht, auch Kenngrößen jenseits der reinen Arbeitslosenzahl. Seit ein paar Jahren enthalten Pressemitteilungen der Bundesagentur etwa die Unterbeschäftigung.«

Damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, das alles ihn Ordnung ist, sondern die BA muss sich an die gesetzlichen Vorgaben, wer wann als Arbeitsloser Gestalt annehmen darf, halten. Sie versucht allerdings in ihren Mitteilungen seit einiger Zeit kontinuierlich, die Unterbeschäftigung direkt nach den kleingerechneten offiziellen Arbeitslosen aus- und damit darauf hinzuweisen. Es wäre die Aufgabe der Presse, hier endlich wirklichkeitsnäher zu berichten und die bessere Zahl zu verwenden.

Besser, aber bei weitem noch nicht die ganze Heterogenität abbildend. Tscharnke geht einen Schritt weiter und argumentiert in seinem Artikel: »Nimmt man es ganz genau, müsste man eigentlich noch jene Männer und Frauen dazurechnen, die Arbeitsmarktforscher unter dem Begriff „Stille Reserve“ zusammenfassen. Nach Schätzungen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) … dürften es rund 271.000 sein.« Das nun ist nicht so ganz einfach, er beschreibt diese Gruppe so: „Das sind“, so die Lesart der Bundesagentur, „beispielsweise Personen, die nicht direkt nach Arbeit suchen und sich deshalb auch nicht bei der örtlichen Arbeitsagentur als arbeitssuchend registrieren lassen, sondern vielmehr abwarten, ob sich ein passender Job anbietet.“ Für andere besteht die „Stille Reserve“ hingegen aus Menschen, die die häufig erfolglose Jobsuche resigniert aufgegeben haben, obwohl sie eigentlich gerne arbeiten würden. Zur „Stillen Reserve“ vgl. auch den Fachbeitrag von Martina Rengers (2016): Ungenutztes Arbeitskräftepotenzial in der Stillen Reserve. Ergebnisse für das Jahr 2015.

Soll man die nun mitzählen zu den Arbeitslosen? Und was wäre dann mit denen, die in „unfreiwilliger Teilzeit“ arbeiten müssen, also weniger, als sie wollen und oftmals eigentlich auch müssten, um über die Runden zu kommen? Dabei wären dann auch die zu bilanzieren, die gerne weniger arbeiten möchten (vgl. dazu weiterführend den Beitrag von Martina Rengers (2015): Unterbeschäftigung, Überbeschäftigung und Wunscharbeitszeiten in Deutschland).

Damit wären wir beim nächsten Punkt, an dem sich der Zahlensalat in seiner ganzen Größe zeigt. Die Fixierung auf die (offizielle) Zahl der Arbeitslosen wird nicht nur durch die hier diskutierte „Unterbeschäftigung“ fragwürdig, sondern die Größenordnung wird noch weitaus stärker unterzeichnet, wenn man einen Blick wirft auf die Zahl der Menschen, die sich im (kleinen), überschaubaren SGB III-System, also der Arbeitslosenversicherung, befinden und im SGB II-System, also der Grundsicherung für Arbeitsuchende, also Hartz IV. Auch dazu veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit eine instruktive Statistik.

Man kann die so zusammenfassen: Von 2,77 Mio. offiziellen Arbeitslosen, 4,34 Mio. erwerbsfähigen Hartz IV-Empfängern bis hin zu über 6 Mio. Menschen im Grundsicherungssystem insgesamt und dazu noch eine Million Menschen in der Arbeitslosenversicherung. Das sind die relevanten Größenordnungen, um die es (nicht nur) in der politischen Diskussion gehen sollte.

Die Abbildung verdeutlicht zugleich, dass das, was umgangssprachlich als „Hartz IV-System“ bezeichnet wird, überaus heterogen ist und weit über die immer noch dominierende Vorstellung von „dem“ arbeitslosen Hartz IV-Empfänger hinausreicht. Denn von den 4,34 Mio. erwerbsfähigen SGB II-Leistungsberechtigten (hinzu kommen weitere 1,66 Mio. Nicht-Erwerbsfähige, vor allem Kinder bis 15 Jahre) tauchen „lediglich“ 1,767 Millionen in der Statistik der arbeitslosen Menschen auf (wobei man an dieser Stelle darauf hinweisen sollte, dass mittlerweile nur noch 30 Prozent aller offiziellen Arbeitslosen vom SGB III, also der Arbeitslosenversicherung, erfasst werden, die doch eigentlich für die Absicherung des Risikos Arbeitslosigkeit zuständig sein sollte). Was ist mit den anderen? Die sind doch als erwerbsfähig klassifiziert? Darunter befinden sich beispielsweise die „Aufstocker“, also Menschen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, aber so wenig verdienen, dass sie zusätzlich Leistungen vom Jobcenter beziehen. Oder die vielen Alleinerziehenden, die ein oder mehrere kleine Kinder zu betreuen haben. Oder Menschen, die sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern. Oder Auszubildende, die Leistungen beziehen. Man erkennt schnell, um was für ein buntes Universum ganz unterschiedlicher Lebenssachverhalte es sich handelt, wenn wir über „Hartz IV“ sprechen.

Und eine weitere Zahl kann man auch der Abbildung der BA entnehmen. Von den 1,767 Mio. Menschen, die im SGB II sind und als arbeitslos gezählt werden, sind 953.000 Menschen als Langzeitarbeitslose hervorgehoben – und diese Zahl ist auch noch eine Untergrenze, denn aufgrund der „schädlichen Unterbrechungen“ werden beispielsweise Hartz IV-Empfänger, die einen Ein-Euro-Job von sechs Monaten gemacht haben oder eine andere Maßnahme von z.B. drei Monaten nach dem Ende der Maßnahme statistisch wieder „jungfräulich“ gestellt, also ihre Arbeitslosigkeitszeit beginnt wieder bei Null, obgleich sie natürlich weiter faktisch langzeitarbeitslos sind (interessanterweise gelten diese „schädlichen Unterbrechungen“ dann nicht, wenn die Jobcenter Personen auswählen für bestimmte Förderprogramme, die das Merkmal „langzeitarbeitslos“ voraussetzen – woran man erkennen kann, wie willkürlich die statistische Regelung ist).

Und an dieser Stelle kommen wir abschließend zu den interessanten, zugleich teilweise erschreckenden Befunden einer neuen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der BA:

Seibert, Holger et al. (2017): Typische Verlaufsmuster beim Grundsicherungsbezug: Für einige Dauerzustand, für andere nur eine Episode. IAB-Kurzbericht, 04/2017, Nürnberg

Der Zusammenfassung kann man folgendes entnehmen:

»Der Bezug von SGB-II-Leistungen ist für die Betroffenen häufig von langer Dauer. Etwa eine Million Leistungsbezieher ist zwischen 2005 und 2014 ununterbrochen auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen.
Eine Sequenzmusteranalyse auf Basis detaillierter Prozessdaten gibt Aufschluss über typische Erwerbsverläufe von Personen, die 2007 erstmals SGB-II-Leistungen erhielten.

Einem guten Viertel gelingt es, den SGB-II-Leistungsbezug durch die Aufnahme einer ungeförderten Beschäftigung vergleichsweise schnell zu verlassen. Ein knappes Drittel verbleibt hingegen lange im Leistungsbezug und hat relativ wenig Kontakt zum Arbeitsmarkt.

Eine dritte Gruppe wiederum ist zwar relativ gut in den Arbeitsmarkt integriert, kann aber den Lebensunterhalt nicht ohne aufstockende SGB-II-Leistungen bestreiten.

Eine vierte Gruppe meistert den Ausstieg erst nach längerer Zeit.

Bei jüngeren Leistungsbeziehern zeigt sich, dass vor allem der Erwerb eines Ausbildungsabschlusses mittelfristig das Verlassen des Leistungsbezugs begünstigt. Unter denen, die keinen Bildungsabschluss erlangen, bleibt ein hoher Anteil längerfristig auf Leistungen angewiesen.«

In ihrem Fazit kommen die Forscher zu dem bereits angedeutet Ergebnis: »Es gibt eine Reihe von ganz unterschiedlichen aber typischen Muster im Leistungsbezug, wobei eine deutliche Polarisierung zu erkennen ist: Einerseits finden sich Verlaufsmuster, bei denen es den Personen bereits während der ersten Beobachtungsjahre gelingt, den Leistungsbezug meist nachhaltig zu verlassen. Andererseits gibt es Personen, die beständig auf Leistungen angewiesen sind und nur in äußerst geringem Umfang in Beschäftigung zurückfinden. Bei einem Teil dieser Gruppe scheinen auch die eingesetzten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in dieser längerfristigen Betrachtung von insgesamt sieben Jahren nicht zu einer nachhaltigen Integration zu führen. Allerdings fällt die Bildungsausstattung bei den Dauerbeziehern besonders niedrig aus: Hier dominieren fehlende Schulabschlüsse oder Hauptschulabschlüsse und nur eine Minderheit besitzt berufliche Bildungsabschlüsse. Aufgrund der Arbeitsmarktferne steht hier wohl eher ein langfristiges Heranführen an den Arbeitsmarkt im Vordergrund.« (Seibert et al. 2017: 8)

Nur genau dafür fehlen uns schlichtweg die sinnvollen Instrumente, beispielsweise eine moderne öffentlich geförderte Beschäftigung, gekoppelt mit Qualifizierung durch und über „echte“ Arbeit und nicht mehr (wenn überhaupt) das Maßnahmenhopping, das als Grundübel der deutschen Arbeitsmarktpolitik für diesen Personenkreis identifizierbar ist (vgl. dazu kritisch, aber auch mit Lösungsvorschlägen den Beitrag Die fortschreitende Programmitis in der Arbeitsmarktpolitik und ein sich selbst verkomplizierendes Förderrecht im SGB II vom 28. Juni 2016).
Und auch die Gruppe der „Aufstocker“ sollte nicht vergessen werden: »Auch andere Werdegänge sind zum Teil durch einen verstetigten Leistungsbezug gekennzeichnet, jedoch sind diese Personen nicht vom Arbeitsmarkt entkoppelt. Vielfach sind sie in Voll- oder Teilzeit beschäftigt, aufgrund ihres Beschäftigungsumfangs, der Entlohnung oder der Bedarfsgemeinschaftsgröße aber dennoch auf SGB-II-Leistungen angewiesen.«

Es geht hier nicht um eine überschaubar kleine Personengruppe, sondern Millionen Menschen sind auf dieses Gleis gesetzt. Das ist unerträglich für eine Gesellschaft, der Teilhabe von Bedeutung ist. Aber selbst, wenn wir mittlerweile in einer Gesellschaft angekommen sein sollten, in der das keine Rolle mehr spielt, muss man darauf hinweisen, dass das Einsperren dieser Menschen in ein eben nicht-bedingungsloses Grundsicherungssystem – mit zahlreichen Auflagen und zu erfüllenden Voraussetzungen aus einer Welt, in der es grundsätzlich ein eigenständiges Leben außerhalb von Hartz IV geben kann durch irgendeine Erwerbsarbeit – überaus fragwürdig daherkommt.

Die Jobcenter werden „weicher“ und sanktionieren Hartz IV-Empfänger weniger. Ein Fall für die kritische Statistik

Diese Schlagzeilen werden den einen oder anderen überrascht haben: Weniger Strafen gegen Hartz-IV-Empfänger ausgesprochen, so konnte man das mit den gewohnt großen Buchstaben in der BILD-Zeitung lesen. Die FAZ hat sich sogar zu dieser Überschrift hinreißen lassen: Deutlich weniger Strafen für Hartz-IV-Empfänger: »Die Zahl der Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger ist auf den tiefsten Stand seit fünf Jahren gefallen. Das soll auch am sanfteren Durchgreifen der Jobcenter liegen.« Mit Blick auf den letzten Punkt ist mein absoluter Favorit diese Überschrift: Die Jobcenter werden weicher.

Muss man sich Sorgen machen, wenn man Anhänger des Forderns ist? Mutieren die Jobcenter-Mitarbeiter zu zahnlosen Tigern? Brechen goldene Zeiten für Drückeberger und Verweigerer an?

Auslöser für die Berichterstattung sind Zahlen, die eindeutig zu sein scheinen: Im ersten Halbjahr 2016 wurden von den 408 Jobcentern insgesamt 457.090 Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger verhängt. Dies waren 42.143 weniger als im ersten Halbjahr 2015 – ein Minus von 8,4 Prozent. Das sei der tiefste Wert seit fünf Jahren, wird in den Artikeln hervorgehoben. Natürlich machen sich die Journalisten so ihre Gedanken, woran das denn liegen kann. Zitiert werden dann die folgenden Punkte: »Ein Grund für den Rückgang sei, dass es weniger Hartz-IV-Bezieher gibt, ein weiterer das weniger harte Durchgreifen der Jobcenter«, so beispielsweise die FAZ.

Aber in Wirklichkeit ist es so: In jedem der ersten sechs Monate des Jahres 2016 waren mehr erwerbsfähige Leistungsberechtigte von Sanktionen betroffen als in de gleichen Monaten des Jahres 2015, also müsste die Botschaft genau umgekehrt lauten. Wie das jetzt?

Der überaus umtriebige und die Statistik der Bundesagentur für Arbeit bis in die tiefsten Kelleretagen verfolgende Paul. M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat sich sogleich die Zahlen genauer angeschaut und zeichnet verantwortlich für die erst einmal irritierende gegenteilige Bewertung der Sanktionsentwicklung. Die beiden Abbildungen verdeutlichen den Gang der Argumentation.

Die Zahlen über eine rückläufige Zahl der neu verhängten Sanktionen sind nicht etwa falsch, die stimmen schon. Aber neben der Grundlagenweisheit, dass man nur dann von „deutlich weniger“ bei den Sanktionen sprechen kann, wenn die Nennergröße gleich geblieben ist, nicht aber, wenn parallel die Zahl der tatsächlich oder potenziell sanktionierbaren Hartz IV-Empfänger zurückgegangen ist und das in einem stärkeren Maße als die Verringerung bei den Absolutzahlen die Sanktionen betreffend, muss man bedenken, dass die Sanktionen einmal neu verhängt werden, dann aber oft eine dreimonatige Laufzeit haben, in denen der Betroffene sanktioniert wird.

Alles klar? Genau das hat sich Schröder angeschaut mit Hilfe der aktuellen Sanktionsstatistik der Bundesagentur für Arbeit (BA), denn die weist auch die sanktionierten Hartz IV-Empfänger aus und die Zahl der in einem Monat „wirksamen“ Sanktionen, die – wie die Abbildung verdeutlicht – größer ist als die Zahl der mit mindestens einer Sanktion belasteten Leistungsberechtigten, was schlichtweg daran liegt, dass es Hartz IV-Empfänger gibt, auf die zwei oder mehrere Sanktionen gleichzeitig zutreffen. Zur Verdeutlichung nennt Schröder ein Beispiel: »Im Juni 2016 wurden von der Statistik der Bundesagentur für Arbeit 131.891 erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit mindestens einer wirksamen Sanktion ermittelt und 208.894 am Stichtag wirksame Sanktionen gegenüber erwerbsfähigen Leistungsberechtigten.«

»Der Anteil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, deren Leistungsanspruch durch eine Sanktion gekürzt wurde, war in jedem der ersten sechs Monate des Jahres 2016 größer als in den entsprechenden Monaten des Vorjahres. Im Juni 2016 betrug dieser Anteil 3,1 Prozent (131.891 von 4.317.582), im Juni 2015 betrug dieser Anteil 3,0 Prozent (129.587 von 4.367.607) – bei einer im ersten Halbjahr 2016 im Vergleich zum ersten Halbjahr 2015 um 8,4 Prozent reduzierten Zahl neu festgestellter Sanktionen.«

Fazit: Das von einigen behauptete „weniger harte Durchgreifen der Jobcenter“ entpuppt sich bei näherem Hinschauen als ein nicht nachvollziehbares Argument.

In dem Artikel Die Jobcenter werden weicher, der in der Online-Ausgabe der Rheinischen Post veröffentlicht wurde, taucht dann noch dieser Erklärungshinweis auf: »Das Bundessozialgericht (BSG) hatte im April 2015 die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger begrenzt, die wegen versäumter Termine verhängt werden. Nach dem Urteil dürfen Jobcenter Arbeitslose nicht in Serie zu Terminen vorladen und bei Nichterscheinen dann die Leistungen zusammenstreichen.«
Offensichtlich handelt es sich um BSG, 29.04.2015 – B 14 AS 19/14 R. Hier sieht auch Paul M. Schröder in den Zahlen einen Anknüpfungspunkt. Er argumentiert:

»Von Januar bis April 2015 (in etwa bis zum Urteil des Bundessozialgerichts) wurden 346.571 Sanktionen neu festgestellt, von Januar bis April 2016 „nur“ noch 304.064. Veränderung: – 42.506. Im Mai und Juni 2015 (die ersten beiden Monate nach dem Urteil des Bundessozialgerichts) wurden 152.663 Sanktionen neu festgestellt, im Mai und Juni 2016 dann 153.026.Veränderung: + 363.«

Es ist ein Kreuz mit den Zahlen, aber angesichts der Botschaft, die transportiert wird in allen Meldungen und Artikeln dazu, ist es wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass nicht vorschnell die Gäule durchgehen sollten, wenn man absolute Zahlen und ihre Veränderung interpretiert. Der Dank geht an Paul M. Schröder, dass er sich erneut dem schnelllebigen Abschreiben voneinander in unserer heutigen Medienwelt entgegengestellt hat.

Ein nicht nur statistisches Lehrstück: Wie man eben mal so 300.000 schwarzarbeitende Flüchtlinge produziert, die es bis in die Tagesschau schaffen

Ende August zirkulierte eine Meldung durch die Medienlandschaft, die es in sich hatte – konnte man sich doch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven bestätigt fühlen in seiner Sicht auf die Welt: Flüchtlinge werden ausgebeutet und sind Opfer der Verhältnisse am einen Ende, die Flüchtlinge bedrohen unsere Sozialsysteme und benachteiligen die „ehrlichen“ Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit ihrem Verhalten.

Was war passiert? Der NDR ging mit dieser Nachricht an die Öffentlichkeit: Flüchtlinge arbeiten schwarz für Dumpinglöhne. Mit einer klaren Ansage: »Viele Flüchtlinge in Deutschland arbeiten nach Recherchen von NDR Info schwarz zu Dumpinglöhnen und unter schlechten Arbeitsbedingungen. Immer wieder vermitteln dabei Mitarbeiter oder Besucher von Flüchtlingsunterkünften Schwarzarbeiterjobs gegen Provision.« Man habe bei Sozialarbeitern, Flüchtlingshelfern, Wissenschaftlern und schwarz arbeitenden Flüchtlingen recherchiert. Dann kommt zwar ein dezenter Hinweis: »Verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht«, aber die sich an dieser Stelle möglicherweise ausbreitende Unsicherheit über die wirkliche Bedeutung der Schlagzeile wird sogleich und wie so oft mit Bezug auf „die Wissenschaft“ entkräftet, denn die muss es ja nun wissen: »So schreiben Wissenschaftler der Universitäten Tübingen und Linz in einer Studie, der Anteil der Schwarzarbeiter liege bei bis zu 30 Prozent der 1,1 Millionen Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr in Deutschland angekommenen sind.« Punkt.

Nun wird der eine oder andere Eingeweihte bei dem Hinweis auf Wissenschaftler und Universität Linz sofort an eine konkrete Person denken: Friedrich Schneider. Über ihn kann man beispielsweise erfahren, dass er »ein deutscher und österreichischer Ökonom (ist). Er gilt als Fachmann für die Forschungsdisziplinen Schattenwirtschaft, Steuerhinterziehung und organisierte Kriminalität sowie in der Umweltökonomie.« Das passt doch, so jemand muss es doch nun wissen, wenn es jemand weiß.

Aber weiß man das tatsächlich? Oder glaubt man etwas, was als scheinbare Tatsache in den Raum gestellt wird? Von diesen Fragezeichen getrieben hat Kerstin Bund genauer hingeschaut und als Ergebnis ihrer Recherchen diesen Artikel veröffentlicht, dessen Überschrift nur aus einer nackten Zahl besteht: 300.000. »Wie eine Meldung Hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland unbewiesen zu Schwarzarbeitern erklärte«, so erläutert sie den Hintergrund der so prominent gesetzten Zahl.

Sie und ihre Kollegen der ZEIT haben versucht, die Aussage von den möglicherweise Hunderttausenden Flüchtlingen in Schwarzarbeit zu überprüfen: »Wir haben mit Flüchtlingshelfern, Heimbetreibern, Gewerkschaftern und Arbeitgebervertretern gesprochen. Nirgendwo fanden sich konkrete Hinweise darauf, dass Schwarzarbeit unter Asylsuchenden massenhaft verbreitet ist.«

Da wäre beispielsweise der Zoll, der von Amts wegen mit der Bekämpfung der Schwarzarbeit betraut sind: »Nach eigenen Angaben trifft der Zoll bei seinen Kontrollen lediglich sechs bis elf Flüchtlinge an, die nicht angemeldet sind. Pro Monat. Das sind ungefähr 100 im Jahr. „Wenn es diese hohen Fallzahlen gäbe, über die berichtet wird, dann würden wir die irgendwo sehen. Wir sehen sie aber nicht“, sagt Klaus Salzsieder von der Generalzolldirektion.«

Nun könnte man natürlich einwenden, dass die Kontrolldichte insgesamt bescheiden ist und vor allem in einigen wenigen Branchen kontrolliert wird.

Also weiter auf der Spurensuche. Da wäre doch das Hotel- und Gaststättenwesen als ein grundsätzlich überaus anfälliger Bereich für Schwarzarbeit. Da müssten dann so einige der vielen schwarzarbeitenden Flüchtlinge untergekommen sein. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten sagt zum Aufregerthema: „Wir haben keinerlei Erkenntnisse dazu.“

Wie wäre es dann mit dem Bau-Bereich, auch so ein Kandidat für illegale Beschäftigungsformen? Fragt man bei der Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt nach, heißt es: „Das Problem sind eher Wanderarbeiter aus Bulgarien und Rumänien, die unangemeldet auf dem Bau arbeiten. Von Schwarzarbeitern aus Syrien oder Afghanistan, die die Baustellen überschwemmen, haben wir noch nichts gehört.“

Nun wird man unsicher: »Ist der Flüchtling ohne Arbeitsvertrag also nur ein Phantom?«
Selbst aus den gegen Arbeitsausbeutung vehement kämpfenden Organisationen werden die Zweifel verstärkt, dass wir es mit einem Massenphänomen zu tun haben:

»Emilija Mitrovic von der Beratungsstelle Migration und Arbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Hamburg fügt hinzu: „Die Schätzungen, die in den Medien kursieren, sind haltlos. Es gibt keine seriösen Zahlen.“«

Nun ist es sicherlich verständlich, dass Schwarzarbeit gerade nicht so transparent sein kann wie der Verkauf von Spekulatius-Gebäck ab August eines jeden Jahres. Das deutet ja schon der Begriff an. Schwarzarbeit findet statt im Schatten der offiziellen Wirtschaftskreisläufe.
»Seltsam aber, dass niemand aus der Szene etwas von einer Flüchtlings-Schattenwirtschaft mitbekommen hat. Hunderttausende Asylsuchende ohne Arbeitspapiere bleiben unentdeckt? Schwer zu glauben«, so auch Kerstin Bund in ihrem Artikel.

In der Ausgangsmeldung vom NDR werden nur zwei konkrete Fälle benannt: Zum einen den ehemaligen, weil zwischenzeitlich entlassenen Mitarbeiter einer Flüchtlingsunterkunft im niedersächsischen Neu Wulmstorf, der versucht haben soll, den Bewohnern gegen Provision Schwarzarbeit zu vermitteln. Und zum anderen ein Mann aus Burkina Faso, den die Reporter am Hamburger Busbahnhof antreffen und der nach eigenen Angaben immer wieder schwarzarbeitet. Und dann wird noch eine Sozialarbeiterin zitiert, die einfach so mal schätzt, dass bis zu 50 Prozent der Asylbewerber irgendwann einmal schwarzarbeiteten.

Also bleibt nur „die“ Wissenschaft in Gestalt der Ökonomen Friedrich Schneider von der Universität Linz und Bernhard Boockmann vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung in Tübingen. Die angeblich 300.000 Flüchtlinge in Schwarzarbeit sollen doch aus einer Studie der beiden stammen.

Schaut man genauer hin, was es mit dieser Studie auf sich hat (vgl. zur Langfassung Friedrich Schneider und Bernhard Boockmann: Die Größe der Schattenwirtschaft – Methodik und Berechnungen für das Jahr 2016, Linz und Tübingen, 2. Februar 2016), stößt man auf ein mittlerweile jährlich praktiziertes Ritual, der Verkündigung der Zahl der Schwarzarbeiter und des Umsatzes, der in diesem Teil der Schattenwirtschaft generiert werden soll. In diesem Jahr wurde am 2. Februar 2016 unter der Überschrift Gute Arbeitsmarktlage reduziert erneut die Schattenwirtschaft zum Thema Flüchtlinge und Schwarzarbeit berichtet – allerdings irritiert die Überschrift angesichts der Kronzeugenrolle, die den Zahlen von Schneider und Boockmann zugeschrieben wird: »Flüchtlinge und Schattenwirtschaft: verlässliche Prognose nicht möglich« (S. 2). Und dann erfahren wir:

»Der Zustrom an arbeitsfähigen Personen erhöht das potenzielle Angebot an Arbeitskräften. Allerdings ist eine Modellabschätzung noch nicht möglich, zumal die Zusammensetzung des Flüchtlingsstroms noch nicht bekannt ist.
Um eine Vorstellung über mögliche Größenordnungen zu gewinnen, wurde eine Projektion der Schattenwirtschaft von Asylbewerbern und Flüchtlingen vorgenommen. Nach Angaben des IAB ist 2016 infolge der Zuwanderung mit einer Erhöhung des (legalen) Erwerbspersonenpotenzials um 380.000 Personen zu rechnen. Hinzu kommen diejenigen, deren Asylantrag noch bearbeitet wird oder die in Deutschland bleiben, obwohl ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Nach einer Abschätzung ist insgesamt mit ca. 800.000 Personen im erwerbsfähigen Alter zu rechnen.
Nimmt man an, dass 25 % dieser Personen in der Schattenwirtschaft tätig werden, so ergibt sich unter weiteren Annahmen über Arbeitsumfang und Entlohnung eine zusätzliche Wertschöpfung von knapp 1,5 Mrd. Euro … Dieses zusätzliche Volumen der Schattenwirtschaft ist aber geringer als die für 2016 prognostizierte Abnahme der gesamten Schattenwirtschaft. Dies gilt auch für alternativ aufgestellt Szenarien.«

Szenarien, das ist das Schlüsselwort. Kerstin Bund formuliert – völlig zu Recht – etwas despektierlich, dass vor dem Hintergrund des Nicht-Wissens, wie viele Flüchtlinge wo wie aufschlagen, die Forscher auf einen Kniff zurückgreifen: Sie setzen „Szenarien an die Stelle von Wissen“.
Sie berichtet dann von drei Szenarien, in denen die Wissenschaftler davon ausgehen, dass einmal 100.000, einmal 200.000 und einmal 300.000 Flüchtlinge schwarzarbeiten. Offensichtlich hat sie als gute Journalistin beim Urheber der Szenarien nachgefragt und zitiert seine Antwort so:

„Das Szenario mit 300 000 Flüchtlingen ist das plausibelste“, sagt Schneider, einer der beiden Autoren, am Telefon. Wie er zu dieser Annahme komme? Da bleibt der Forscher vage. Er stütze sich auf „Stichproben“ aus Flüchtlingsunterkünften in Konstanz, Passau und Marburg, wo Betreuer, die er persönlich kenne, Flüchtlinge befragt hätten, ob sie schwarzarbeiteten oder sich das vorstellen könnten.

In aller Bescheidenheit soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die notwendigerweise erheblichen Zweifel an der Aussagekraft der von Schneider und Boockmann in die Welt gesetzten Zahlen bereits am Tag der Veröffentlichung der Berechnungen der Schwarzarbeitswissenschaftler hier in einem Blog-Beitrag massiv vorgetragen wurden: An sich gute Nachrichten aus der Schattenwirtschaft. Wenn da nicht die Flüchtlinge wären, von denen Gefahr droht. Aber ist das wirklich so?, so ist mein Beitrag vom 2. Februar 2016 überschrieben worden.

Und abschließend – es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass mit den auf überaus wackeligen Beinen stehenden Schwarzarbeitszahlen (vgl. zur Kritik an den jährlich aktualisierten Berechnungen nur als ein Beispiel den Beitrag von  U. Thießens: Schattenwirtschaft: Vorsicht vor hohen Makroschätzungen, in: Wirtschaftsdienst, H. 3/2011, S. 194-201) politisches Schindluder getrieben wird. Nur als eine Erinnerung sei hier auf den Beitrag Beim Mindestlohn-Bashing darf die Schattenwirtschaft nicht fehlen. Und wenn sie passend gemacht werden muss vom 3. Februar 2015 hingewiesen. Anfang 2015 wurde mit Hilfe der Zahlen von Schneider und Boockmann ein deutlicher Anstieg der Schwarzarbeit durch den gesetzlichen Mindestlohn in Aussicht und mithin ein weiterer „Beleg“ für die Schädlichkeit einer solchen Lohnuntergrenze in den Raum gestellt. Das wurde schon in meinem Blog-Beitrag aus dem Jahr 2015 als überaus fragwürdig kritisiert.

Zu dem, was interessierte Medien am Anfang des Jahres 2015 mit den Zahlen zu Beginn des Wirksamwerdens des gesetzlichen Mindestlohns gemacht haben, ist es nicht gekommen. Aber in dem Moment hat die Botschaft bei dem einen oder anderen sicher gewirkt.
Wer fragt denn auch heute noch nach, was aus scheinbar sicheren Schätzungen geworden ist. Wie man sieht: Es lohnt sich, das zu tun.

Hartz IV: Die „Aufstocker“ zwischen großen Zahlen und interessanten Verschiebungen

Das umgangssprachlich als Hartz IV bezeichnete Grundsicherungssystem ist ein höchst komplexes und hinsichtlich der sich dort befindlichen Personen äußerst heterogenes System, das sich nicht auf Arbeitslose reduzieren lässt – was allerdings in der Berichterstattung und auch im Bewusstsein der Bürger oftmals passiert. Hartz IV-Empfänger = Arbeitslose. Aber allein die Differenz zwischen der monatlich aus Nürnberg verkündeten Zahl der (registrierten) Arbeitslosen, selbst unter Berücksichtigung der „Unterbeschäftigung, zu der Anzahl der Hartz IV-Empfänger verdeutlicht, dass es offensichtlich so ist, dass zahlreiche Menschen im SGB II-Bezug sind, nicht aber als Arbeitslose geführt werden und auch oft nicht sind. Man kann sich das an den offiziellen Zahlen für den Juni 2016 veranschaulichen: In diesem Monat wurden 1,86 Millionen Arbeitslose im Rechtskreis SGB II ausgewiesen, aber insgesamt 6,24 Millionen Menschen in Bedarfsgemeinschaften, die Hartz IV-Leistungen bezogen haben. Eine gewaltige Differenz.

Eine Gruppe in der Zwischenwelt von Arbeitslosigkeit und Erwerbsarbeit sind die „Aufstocker“, also Menschen, die Einkommen aus Erwerbstätigkeit haben, aber dennoch – oder weil es so niedrig ist, deswegen – Anspruch auf ergänzende Leistungen vom Jobcenter haben. Sporadisch tauchen diese „Aufstocker“ in der Medienberichterstattung auf: Mehr als eine Million beziehen Hartz IV trotz Arbeit, so ist beispielsweise eine Meldung von heute überschrieben. Und das löst bei vielen Menschen, die sich nur am Rande mit der Materie beschäftigen, bestimmte Assoziationen aus, die nicht unproblematisch sind für die Bewertung sind: Also die Vorstellung, man geht einer „normalen“ Erwerbsarbeit nach (was viele Menschen ob bewusst oder unbewusst mit einem Vollzeitjob verbinden) – und dann liest oder hört man, dass die Menschen so wenig verdienen, dass sie trotzdem noch Hartz IV-Leistungen bekommen. Da nun lohnt ein genauerer Blick auf die tatsächlichen Zusammenhänge.

Schauen wir uns zuerst die heutige Berichterstattung an:

»Hunderttausende Menschen in Deutschland sind trotz Arbeit auf Hartz IV angewiesen. So wurden im vergangenen Jahr fast zehn Milliarden Euro an sogenannte Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem abhängigen Erwerbstätigen gezahlt … Der Wert schwankte in den vergangenen acht Jahren zwischen 9 und 10,4 Milliarden Euro … 2015 gab es durchschnittlich 1,03 Millionen Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem abhängigen Erwerbstätigen. Seit Jahren liegt der Wert über eine Million. In den Jahren von 2007 bis 2015 wurden insgesamt 87,5 Milliarden Euro an Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem abhängigen Erwerbstätigen gezahlt.«

Seit Jahren werden über eine Million Menschen als Aufstocker gezählt. Allerdings sinkt die Zahl langsam und 2015 durchaus erkennbar. Im vergangenen Jahr wurden 1,13 Mio. Aufstocker von der BA ausgewiesen, die einer abhängigen Beschäftigung nachgegangen sind und daraus Einkommen erwirtschaftet haben.

Der entscheidende Punkt ist nun: Es gibt solche und andere Erwerbsarbeit. Schaut man sich die Daten für die zurückliegenden drei Jahre an hinsichtlich der unterschiedlichen Formen der Erwerbstätigkeit (vgl. auch die Abbildung), dann erkennt man zum einen, dass nur eine kleine Gruppe der Aufstocker Menschen sind, die einer Vollzeitarbeit nachgehen. 2015 waren das knapp 200.000 und ihre Zahl hat gegenüber dem Vorjahr um 7 Prozent abgenommen.

Immer noch die größte Aufstockergruppe sind die ausschließlich geringfügig Beschäftigten mit 429.000 im vergangenen Jahr. Aber deren Zahl hat ebenfalls abgenommen – um kräftige 11 Prozent.

Um 5 Prozent angestiegen ist nur eine Gruppe – die der sozialversicherungspflichtig Teilzeitbeschäftigten. Das sind im vergangenen Jahr mehr als 384.000 gewesen.

Eine übrigens seit Jahren höchst stabile Gruppe von etwa 120.000 Aufstocken sind Selbständige, deren Einnahmen so niedrig sind, dass sie ergänzende SGB II-Leistungen in Anspruch nehmen können.

Die hier skizzierten Verschiebungen sind durchaus von Bedeutung angesichts der Tatsache, dass ja Anfang 2015 der gesetzliche Mindestlohn eingeführt worden ist. Auch heute konnte man wieder die These hören, dass der offensichtlich nicht geholfen hat, die Aufstockerei zu verringern, was im Vorfeld der Einführung dieser Lohnuntergrenze von einigen als ein Argument vorgetragen wurde.

Das nun stimmt so nicht, zum anderen aber sollte man mögliche Effekte des Mindestlohns auch nicht zu hoch einschätzen, denn das kann dieses Instrument per se gar nicht leisten (vgl. dazu auch Die Aufstocker im Hartz IV-System: Milliardenschwere Subventionierung der Niedrigeinkommen und die (Nicht-)Lösung durch den gesetzlichen Mindestlohn vom 15. Januar 2016).

Zum einen kann man durchaus einen Effekt des Mindestlohns erkennen – und zwar hinsichtlich der beschriebenen Verschiebungen innerhalb der Gruppe der Aufstocker. Vereinfacht gesagt verlieren die Minijobs, die in der Vergangenheit mit Abstand die größte Gruppe gestellt haben, an Bedeutung und das hängt mit dem Mindestlohn in vielen Fällen schon zusammen. Denn der gilt auch für die Minijobs und das hat die geringfügige Beschäftigung für die Arbeitgeber deutlich verteuert, gerade in diesem Bereich hat man früher – auch wegen der Brutto=Netto-Mechanik für die Arbeitnehmer – Löhne von 5 oder 6 Euro zahlen können. Das geht nun nicht mehr, wenn man sich an das Regelwerk hält. In der Folge sind einige Minijobs schlichtweg weggefallen, andere hingegen wurden umgewandelt in sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung (vgl. dazu bereits den Beitrag Mehr Hartz IV-Aufstocker trotz Mindestlohn, immer weniger Aufstocker in Berlin – ein (scheinbares) Durcheinander vom 4. Mai 2016).

Und auch der erkennbare Rückgang der Zahl der vollzeitbeschäftigten Aufstocker kann durchaus im Zusammenhang mit dem Mindestlohn gelesen werden.

Gegen eine von einigen erwartete und erhoffte deutliche Reduktion der Aufstockerei durch den Mindestlohn sprechen vor allem zwei grundsätzliche Effekte:

  • Zum einen ist die ganz überwiegende Zahl der Aufstocker mit einem geringen Arbeitszeitvolumen unterwegs. Hier müsste der Mindestlohn in sehr hohen Sphären angesiedelt sein, um aus einer Teilzeitarbeit ein auskömmliches Einkommen zu machen. Mit einem Minijob wird man kaum aus der Bedürftigkeit herauskommen können. Dieser Sprung gelingt angesichts der Höhe der Lohnuntergrenze nur Alleinstehenden, die Vollzeit zum Mindestlohn arbeiten (und selbst das nicht in allen Regionen, wenn man die Kaufkraft berücksichtigt).
  • Zum anderen sind viele Aufstocker deshalb in der Situation, dass sie ergänzende Leistungen in Anspruch nehmen, weil sie in einer Bedarfsgemeinschaft leben und sich die Hartz IV-Leistungen immer auf die Bedarfsgemeinschaft beziehen. Angesichts der Defizite hinsichtlich der Leistungen für Kinder könnte jemand auch mit einem höheren als dem derzeitigen Mindestlohn gar nicht aus der Bedürftigkeit seiner Bedarfsgemeinschaft herauskommen.

Die Aufstocker sind nun nicht gleichverteilt über alle Bereiche der Wirtschaft. Sie konzentrieren sich in bestimmten Branchen:

  • Der Anteil der Aufstocker an allen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen belief sich am Jahresende 2015 auf 1,9 Prozent (dabei 1,6 Prozent in Westdeutschland und 3,2 Prozent in Ostdeutschland). Das ist aber nur der Durchschnitt über alle Wirtschaftszweige. Am oberen Ende der Skala finden wir – nicht überraschend – drei Branchen: Reinigungsdienste mit einem Anteil von 12 Prozent, Gastgewerbe mit 7,7 Prozent und die Leiharbeit mit 5,7 Prozent.
  • Der Anteil der Aufstocker an allen ausschließlich geringfügig Beschäftigten belief sich auf 10,5 Prozent (8,8 Prozent in Westdeutschland und 22,2 Prozent in Ostdeutschland). Auch hier waren die Reinigungsdienste mit 18,2 Prozent und das Gastgewerbe mit 15,8 Prozent die beiden Spitzenreiter, dicht gefolgt von Verkehr und Lagerei mit 15 Prozent.

Zusammenfassend: Die Zahl der Aufstocker geht langsam zurück und damit auch die Anteile an allen Beschäftigten. Der Staat muss weniger Geld für Aufstocker aufbringen (vgl. zu diesem Aspekt den Beitrag Nach Mindestlohn-Einführung: Aufstocker kosten den Staat 300 Millionen Euro weniger) und die Art der Arbeitsverhältnisse hat sich verschoben. Weniger Minijobs, mehr in sozialversicherungspflichtiger Teilzeit beschäftigte Aufstocker.

Sowohl bei den Minijobbern als auch bei den sozialversicherungspflichtigen Aufstockern sind Reinigungsdienste und Gastgewerbe weiterhin die Branchen mit den höchsten Aufstocker-Anteilen.