Ende August zirkulierte eine Meldung durch die Medienlandschaft, die es in sich hatte – konnte man sich doch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven bestätigt fühlen in seiner Sicht auf die Welt: Flüchtlinge werden ausgebeutet und sind Opfer der Verhältnisse am einen Ende, die Flüchtlinge bedrohen unsere Sozialsysteme und benachteiligen die „ehrlichen“ Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit ihrem Verhalten.
Was war passiert? Der NDR ging mit dieser Nachricht an die Öffentlichkeit: Flüchtlinge arbeiten schwarz für Dumpinglöhne. Mit einer klaren Ansage: »Viele Flüchtlinge in Deutschland arbeiten nach Recherchen von NDR Info schwarz zu Dumpinglöhnen und unter schlechten Arbeitsbedingungen. Immer wieder vermitteln dabei Mitarbeiter oder Besucher von Flüchtlingsunterkünften Schwarzarbeiterjobs gegen Provision.« Man habe bei Sozialarbeitern, Flüchtlingshelfern, Wissenschaftlern und schwarz arbeitenden Flüchtlingen recherchiert. Dann kommt zwar ein dezenter Hinweis: »Verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht«, aber die sich an dieser Stelle möglicherweise ausbreitende Unsicherheit über die wirkliche Bedeutung der Schlagzeile wird sogleich und wie so oft mit Bezug auf „die Wissenschaft“ entkräftet, denn die muss es ja nun wissen: »So schreiben Wissenschaftler der Universitäten Tübingen und Linz in einer Studie, der Anteil der Schwarzarbeiter liege bei bis zu 30 Prozent der 1,1 Millionen Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr in Deutschland angekommenen sind.« Punkt.
Nun wird der eine oder andere Eingeweihte bei dem Hinweis auf Wissenschaftler und Universität Linz sofort an eine konkrete Person denken: Friedrich Schneider. Über ihn kann man beispielsweise erfahren, dass er »ein deutscher und österreichischer Ökonom (ist). Er gilt als Fachmann für die Forschungsdisziplinen Schattenwirtschaft, Steuerhinterziehung und organisierte Kriminalität sowie in der Umweltökonomie.« Das passt doch, so jemand muss es doch nun wissen, wenn es jemand weiß.
Aber weiß man das tatsächlich? Oder glaubt man etwas, was als scheinbare Tatsache in den Raum gestellt wird? Von diesen Fragezeichen getrieben hat Kerstin Bund genauer hingeschaut und als Ergebnis ihrer Recherchen diesen Artikel veröffentlicht, dessen Überschrift nur aus einer nackten Zahl besteht: 300.000. »Wie eine Meldung Hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland unbewiesen zu Schwarzarbeitern erklärte«, so erläutert sie den Hintergrund der so prominent gesetzten Zahl.
Sie und ihre Kollegen der ZEIT haben versucht, die Aussage von den möglicherweise Hunderttausenden Flüchtlingen in Schwarzarbeit zu überprüfen: »Wir haben mit Flüchtlingshelfern, Heimbetreibern, Gewerkschaftern und Arbeitgebervertretern gesprochen. Nirgendwo fanden sich konkrete Hinweise darauf, dass Schwarzarbeit unter Asylsuchenden massenhaft verbreitet ist.«
Da wäre beispielsweise der Zoll, der von Amts wegen mit der Bekämpfung der Schwarzarbeit betraut sind: »Nach eigenen Angaben trifft der Zoll bei seinen Kontrollen lediglich sechs bis elf Flüchtlinge an, die nicht angemeldet sind. Pro Monat. Das sind ungefähr 100 im Jahr. „Wenn es diese hohen Fallzahlen gäbe, über die berichtet wird, dann würden wir die irgendwo sehen. Wir sehen sie aber nicht“, sagt Klaus Salzsieder von der Generalzolldirektion.«
Nun könnte man natürlich einwenden, dass die Kontrolldichte insgesamt bescheiden ist und vor allem in einigen wenigen Branchen kontrolliert wird.
Also weiter auf der Spurensuche. Da wäre doch das Hotel- und Gaststättenwesen als ein grundsätzlich überaus anfälliger Bereich für Schwarzarbeit. Da müssten dann so einige der vielen schwarzarbeitenden Flüchtlinge untergekommen sein. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten sagt zum Aufregerthema: „Wir haben keinerlei Erkenntnisse dazu.“
Wie wäre es dann mit dem Bau-Bereich, auch so ein Kandidat für illegale Beschäftigungsformen? Fragt man bei der Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt nach, heißt es: „Das Problem sind eher Wanderarbeiter aus Bulgarien und Rumänien, die unangemeldet auf dem Bau arbeiten. Von Schwarzarbeitern aus Syrien oder Afghanistan, die die Baustellen überschwemmen, haben wir noch nichts gehört.“
Nun wird man unsicher: »Ist der Flüchtling ohne Arbeitsvertrag also nur ein Phantom?«
Selbst aus den gegen Arbeitsausbeutung vehement kämpfenden Organisationen werden die Zweifel verstärkt, dass wir es mit einem Massenphänomen zu tun haben:
»Emilija Mitrovic von der Beratungsstelle Migration und Arbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Hamburg fügt hinzu: „Die Schätzungen, die in den Medien kursieren, sind haltlos. Es gibt keine seriösen Zahlen.“«
Nun ist es sicherlich verständlich, dass Schwarzarbeit gerade nicht so transparent sein kann wie der Verkauf von Spekulatius-Gebäck ab August eines jeden Jahres. Das deutet ja schon der Begriff an. Schwarzarbeit findet statt im Schatten der offiziellen Wirtschaftskreisläufe.
»Seltsam aber, dass niemand aus der Szene etwas von einer Flüchtlings-Schattenwirtschaft mitbekommen hat. Hunderttausende Asylsuchende ohne Arbeitspapiere bleiben unentdeckt? Schwer zu glauben«, so auch Kerstin Bund in ihrem Artikel.
In der Ausgangsmeldung vom NDR werden nur zwei konkrete Fälle benannt: Zum einen den ehemaligen, weil zwischenzeitlich entlassenen Mitarbeiter einer Flüchtlingsunterkunft im niedersächsischen Neu Wulmstorf, der versucht haben soll, den Bewohnern gegen Provision Schwarzarbeit zu vermitteln. Und zum anderen ein Mann aus Burkina Faso, den die Reporter am Hamburger Busbahnhof antreffen und der nach eigenen Angaben immer wieder schwarzarbeitet. Und dann wird noch eine Sozialarbeiterin zitiert, die einfach so mal schätzt, dass bis zu 50 Prozent der Asylbewerber irgendwann einmal schwarzarbeiteten.
Also bleibt nur „die“ Wissenschaft in Gestalt der Ökonomen Friedrich Schneider von der Universität Linz und Bernhard Boockmann vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung in Tübingen. Die angeblich 300.000 Flüchtlinge in Schwarzarbeit sollen doch aus einer Studie der beiden stammen.
Schaut man genauer hin, was es mit dieser Studie auf sich hat (vgl. zur Langfassung Friedrich Schneider und Bernhard Boockmann: Die Größe der Schattenwirtschaft – Methodik und Berechnungen für das Jahr 2016, Linz und Tübingen, 2. Februar 2016), stößt man auf ein mittlerweile jährlich praktiziertes Ritual, der Verkündigung der Zahl der Schwarzarbeiter und des Umsatzes, der in diesem Teil der Schattenwirtschaft generiert werden soll. In diesem Jahr wurde am 2. Februar 2016 unter der Überschrift Gute Arbeitsmarktlage reduziert erneut die Schattenwirtschaft zum Thema Flüchtlinge und Schwarzarbeit berichtet – allerdings irritiert die Überschrift angesichts der Kronzeugenrolle, die den Zahlen von Schneider und Boockmann zugeschrieben wird: »Flüchtlinge und Schattenwirtschaft: verlässliche Prognose nicht möglich« (S. 2). Und dann erfahren wir:
»Der Zustrom an arbeitsfähigen Personen erhöht das potenzielle Angebot an Arbeitskräften. Allerdings ist eine Modellabschätzung noch nicht möglich, zumal die Zusammensetzung des Flüchtlingsstroms noch nicht bekannt ist.
Um eine Vorstellung über mögliche Größenordnungen zu gewinnen, wurde eine Projektion der Schattenwirtschaft von Asylbewerbern und Flüchtlingen vorgenommen. Nach Angaben des IAB ist 2016 infolge der Zuwanderung mit einer Erhöhung des (legalen) Erwerbspersonenpotenzials um 380.000 Personen zu rechnen. Hinzu kommen diejenigen, deren Asylantrag noch bearbeitet wird oder die in Deutschland bleiben, obwohl ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Nach einer Abschätzung ist insgesamt mit ca. 800.000 Personen im erwerbsfähigen Alter zu rechnen.
Nimmt man an, dass 25 % dieser Personen in der Schattenwirtschaft tätig werden, so ergibt sich unter weiteren Annahmen über Arbeitsumfang und Entlohnung eine zusätzliche Wertschöpfung von knapp 1,5 Mrd. Euro … Dieses zusätzliche Volumen der Schattenwirtschaft ist aber geringer als die für 2016 prognostizierte Abnahme der gesamten Schattenwirtschaft. Dies gilt auch für alternativ aufgestellt Szenarien.«
Szenarien, das ist das Schlüsselwort. Kerstin Bund formuliert – völlig zu Recht – etwas despektierlich, dass vor dem Hintergrund des Nicht-Wissens, wie viele Flüchtlinge wo wie aufschlagen, die Forscher auf einen Kniff zurückgreifen: Sie setzen „Szenarien an die Stelle von Wissen“.
Sie berichtet dann von drei Szenarien, in denen die Wissenschaftler davon ausgehen, dass einmal 100.000, einmal 200.000 und einmal 300.000 Flüchtlinge schwarzarbeiten. Offensichtlich hat sie als gute Journalistin beim Urheber der Szenarien nachgefragt und zitiert seine Antwort so:
„Das Szenario mit 300 000 Flüchtlingen ist das plausibelste“, sagt Schneider, einer der beiden Autoren, am Telefon. Wie er zu dieser Annahme komme? Da bleibt der Forscher vage. Er stütze sich auf „Stichproben“ aus Flüchtlingsunterkünften in Konstanz, Passau und Marburg, wo Betreuer, die er persönlich kenne, Flüchtlinge befragt hätten, ob sie schwarzarbeiteten oder sich das vorstellen könnten.
In aller Bescheidenheit soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die notwendigerweise erheblichen Zweifel an der Aussagekraft der von Schneider und Boockmann in die Welt gesetzten Zahlen bereits am Tag der Veröffentlichung der Berechnungen der Schwarzarbeitswissenschaftler hier in einem Blog-Beitrag massiv vorgetragen wurden: An sich gute Nachrichten aus der Schattenwirtschaft. Wenn da nicht die Flüchtlinge wären, von denen Gefahr droht. Aber ist das wirklich so?, so ist mein Beitrag vom 2. Februar 2016 überschrieben worden.
Und abschließend – es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass mit den auf überaus wackeligen Beinen stehenden Schwarzarbeitszahlen (vgl. zur Kritik an den jährlich aktualisierten Berechnungen nur als ein Beispiel den Beitrag von U. Thießens: Schattenwirtschaft: Vorsicht vor hohen Makroschätzungen, in: Wirtschaftsdienst, H. 3/2011, S. 194-201) politisches Schindluder getrieben wird. Nur als eine Erinnerung sei hier auf den Beitrag Beim Mindestlohn-Bashing darf die Schattenwirtschaft nicht fehlen. Und wenn sie passend gemacht werden muss vom 3. Februar 2015 hingewiesen. Anfang 2015 wurde mit Hilfe der Zahlen von Schneider und Boockmann ein deutlicher Anstieg der Schwarzarbeit durch den gesetzlichen Mindestlohn in Aussicht und mithin ein weiterer „Beleg“ für die Schädlichkeit einer solchen Lohnuntergrenze in den Raum gestellt. Das wurde schon in meinem Blog-Beitrag aus dem Jahr 2015 als überaus fragwürdig kritisiert.
Zu dem, was interessierte Medien am Anfang des Jahres 2015 mit den Zahlen zu Beginn des Wirksamwerdens des gesetzlichen Mindestlohns gemacht haben, ist es nicht gekommen. Aber in dem Moment hat die Botschaft bei dem einen oder anderen sicher gewirkt.
Wer fragt denn auch heute noch nach, was aus scheinbar sicheren Schätzungen geworden ist. Wie man sieht: Es lohnt sich, das zu tun.