Hartz IV: Die „Aufstocker“ zwischen großen Zahlen und interessanten Verschiebungen

Das umgangssprachlich als Hartz IV bezeichnete Grundsicherungssystem ist ein höchst komplexes und hinsichtlich der sich dort befindlichen Personen äußerst heterogenes System, das sich nicht auf Arbeitslose reduzieren lässt – was allerdings in der Berichterstattung und auch im Bewusstsein der Bürger oftmals passiert. Hartz IV-Empfänger = Arbeitslose. Aber allein die Differenz zwischen der monatlich aus Nürnberg verkündeten Zahl der (registrierten) Arbeitslosen, selbst unter Berücksichtigung der „Unterbeschäftigung, zu der Anzahl der Hartz IV-Empfänger verdeutlicht, dass es offensichtlich so ist, dass zahlreiche Menschen im SGB II-Bezug sind, nicht aber als Arbeitslose geführt werden und auch oft nicht sind. Man kann sich das an den offiziellen Zahlen für den Juni 2016 veranschaulichen: In diesem Monat wurden 1,86 Millionen Arbeitslose im Rechtskreis SGB II ausgewiesen, aber insgesamt 6,24 Millionen Menschen in Bedarfsgemeinschaften, die Hartz IV-Leistungen bezogen haben. Eine gewaltige Differenz.

Eine Gruppe in der Zwischenwelt von Arbeitslosigkeit und Erwerbsarbeit sind die „Aufstocker“, also Menschen, die Einkommen aus Erwerbstätigkeit haben, aber dennoch – oder weil es so niedrig ist, deswegen – Anspruch auf ergänzende Leistungen vom Jobcenter haben. Sporadisch tauchen diese „Aufstocker“ in der Medienberichterstattung auf: Mehr als eine Million beziehen Hartz IV trotz Arbeit, so ist beispielsweise eine Meldung von heute überschrieben. Und das löst bei vielen Menschen, die sich nur am Rande mit der Materie beschäftigen, bestimmte Assoziationen aus, die nicht unproblematisch sind für die Bewertung sind: Also die Vorstellung, man geht einer „normalen“ Erwerbsarbeit nach (was viele Menschen ob bewusst oder unbewusst mit einem Vollzeitjob verbinden) – und dann liest oder hört man, dass die Menschen so wenig verdienen, dass sie trotzdem noch Hartz IV-Leistungen bekommen. Da nun lohnt ein genauerer Blick auf die tatsächlichen Zusammenhänge.

Schauen wir uns zuerst die heutige Berichterstattung an:

»Hunderttausende Menschen in Deutschland sind trotz Arbeit auf Hartz IV angewiesen. So wurden im vergangenen Jahr fast zehn Milliarden Euro an sogenannte Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem abhängigen Erwerbstätigen gezahlt … Der Wert schwankte in den vergangenen acht Jahren zwischen 9 und 10,4 Milliarden Euro … 2015 gab es durchschnittlich 1,03 Millionen Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem abhängigen Erwerbstätigen. Seit Jahren liegt der Wert über eine Million. In den Jahren von 2007 bis 2015 wurden insgesamt 87,5 Milliarden Euro an Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem abhängigen Erwerbstätigen gezahlt.«

Seit Jahren werden über eine Million Menschen als Aufstocker gezählt. Allerdings sinkt die Zahl langsam und 2015 durchaus erkennbar. Im vergangenen Jahr wurden 1,13 Mio. Aufstocker von der BA ausgewiesen, die einer abhängigen Beschäftigung nachgegangen sind und daraus Einkommen erwirtschaftet haben.

Der entscheidende Punkt ist nun: Es gibt solche und andere Erwerbsarbeit. Schaut man sich die Daten für die zurückliegenden drei Jahre an hinsichtlich der unterschiedlichen Formen der Erwerbstätigkeit (vgl. auch die Abbildung), dann erkennt man zum einen, dass nur eine kleine Gruppe der Aufstocker Menschen sind, die einer Vollzeitarbeit nachgehen. 2015 waren das knapp 200.000 und ihre Zahl hat gegenüber dem Vorjahr um 7 Prozent abgenommen.

Immer noch die größte Aufstockergruppe sind die ausschließlich geringfügig Beschäftigten mit 429.000 im vergangenen Jahr. Aber deren Zahl hat ebenfalls abgenommen – um kräftige 11 Prozent.

Um 5 Prozent angestiegen ist nur eine Gruppe – die der sozialversicherungspflichtig Teilzeitbeschäftigten. Das sind im vergangenen Jahr mehr als 384.000 gewesen.

Eine übrigens seit Jahren höchst stabile Gruppe von etwa 120.000 Aufstocken sind Selbständige, deren Einnahmen so niedrig sind, dass sie ergänzende SGB II-Leistungen in Anspruch nehmen können.

Die hier skizzierten Verschiebungen sind durchaus von Bedeutung angesichts der Tatsache, dass ja Anfang 2015 der gesetzliche Mindestlohn eingeführt worden ist. Auch heute konnte man wieder die These hören, dass der offensichtlich nicht geholfen hat, die Aufstockerei zu verringern, was im Vorfeld der Einführung dieser Lohnuntergrenze von einigen als ein Argument vorgetragen wurde.

Das nun stimmt so nicht, zum anderen aber sollte man mögliche Effekte des Mindestlohns auch nicht zu hoch einschätzen, denn das kann dieses Instrument per se gar nicht leisten (vgl. dazu auch Die Aufstocker im Hartz IV-System: Milliardenschwere Subventionierung der Niedrigeinkommen und die (Nicht-)Lösung durch den gesetzlichen Mindestlohn vom 15. Januar 2016).

Zum einen kann man durchaus einen Effekt des Mindestlohns erkennen – und zwar hinsichtlich der beschriebenen Verschiebungen innerhalb der Gruppe der Aufstocker. Vereinfacht gesagt verlieren die Minijobs, die in der Vergangenheit mit Abstand die größte Gruppe gestellt haben, an Bedeutung und das hängt mit dem Mindestlohn in vielen Fällen schon zusammen. Denn der gilt auch für die Minijobs und das hat die geringfügige Beschäftigung für die Arbeitgeber deutlich verteuert, gerade in diesem Bereich hat man früher – auch wegen der Brutto=Netto-Mechanik für die Arbeitnehmer – Löhne von 5 oder 6 Euro zahlen können. Das geht nun nicht mehr, wenn man sich an das Regelwerk hält. In der Folge sind einige Minijobs schlichtweg weggefallen, andere hingegen wurden umgewandelt in sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung (vgl. dazu bereits den Beitrag Mehr Hartz IV-Aufstocker trotz Mindestlohn, immer weniger Aufstocker in Berlin – ein (scheinbares) Durcheinander vom 4. Mai 2016).

Und auch der erkennbare Rückgang der Zahl der vollzeitbeschäftigten Aufstocker kann durchaus im Zusammenhang mit dem Mindestlohn gelesen werden.

Gegen eine von einigen erwartete und erhoffte deutliche Reduktion der Aufstockerei durch den Mindestlohn sprechen vor allem zwei grundsätzliche Effekte:

  • Zum einen ist die ganz überwiegende Zahl der Aufstocker mit einem geringen Arbeitszeitvolumen unterwegs. Hier müsste der Mindestlohn in sehr hohen Sphären angesiedelt sein, um aus einer Teilzeitarbeit ein auskömmliches Einkommen zu machen. Mit einem Minijob wird man kaum aus der Bedürftigkeit herauskommen können. Dieser Sprung gelingt angesichts der Höhe der Lohnuntergrenze nur Alleinstehenden, die Vollzeit zum Mindestlohn arbeiten (und selbst das nicht in allen Regionen, wenn man die Kaufkraft berücksichtigt).
  • Zum anderen sind viele Aufstocker deshalb in der Situation, dass sie ergänzende Leistungen in Anspruch nehmen, weil sie in einer Bedarfsgemeinschaft leben und sich die Hartz IV-Leistungen immer auf die Bedarfsgemeinschaft beziehen. Angesichts der Defizite hinsichtlich der Leistungen für Kinder könnte jemand auch mit einem höheren als dem derzeitigen Mindestlohn gar nicht aus der Bedürftigkeit seiner Bedarfsgemeinschaft herauskommen.

Die Aufstocker sind nun nicht gleichverteilt über alle Bereiche der Wirtschaft. Sie konzentrieren sich in bestimmten Branchen:

  • Der Anteil der Aufstocker an allen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen belief sich am Jahresende 2015 auf 1,9 Prozent (dabei 1,6 Prozent in Westdeutschland und 3,2 Prozent in Ostdeutschland). Das ist aber nur der Durchschnitt über alle Wirtschaftszweige. Am oberen Ende der Skala finden wir – nicht überraschend – drei Branchen: Reinigungsdienste mit einem Anteil von 12 Prozent, Gastgewerbe mit 7,7 Prozent und die Leiharbeit mit 5,7 Prozent.
  • Der Anteil der Aufstocker an allen ausschließlich geringfügig Beschäftigten belief sich auf 10,5 Prozent (8,8 Prozent in Westdeutschland und 22,2 Prozent in Ostdeutschland). Auch hier waren die Reinigungsdienste mit 18,2 Prozent und das Gastgewerbe mit 15,8 Prozent die beiden Spitzenreiter, dicht gefolgt von Verkehr und Lagerei mit 15 Prozent.

Zusammenfassend: Die Zahl der Aufstocker geht langsam zurück und damit auch die Anteile an allen Beschäftigten. Der Staat muss weniger Geld für Aufstocker aufbringen (vgl. zu diesem Aspekt den Beitrag Nach Mindestlohn-Einführung: Aufstocker kosten den Staat 300 Millionen Euro weniger) und die Art der Arbeitsverhältnisse hat sich verschoben. Weniger Minijobs, mehr in sozialversicherungspflichtiger Teilzeit beschäftigte Aufstocker.

Sowohl bei den Minijobbern als auch bei den sozialversicherungspflichtigen Aufstockern sind Reinigungsdienste und Gastgewerbe weiterhin die Branchen mit den höchsten Aufstocker-Anteilen.