Da wird der eine oder andere aber irritiert den Kopf schütteln. Was denn nun? Zum einen meldet die Berliner Zeitung: In Berlin gibt es immer weniger „Aufstocker“. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit »waren im Dezember 2014 rund 124.000 Arbeitnehmer auf zusätzliche Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Ein Jahr später, im Dezember 2015, waren es nur noch etwa 118.000.« Und gleichzeitig kann man der Rheinischen Post entnehmen: Mehr Hartz-IV-Aufstocker trotz Mindestlohns. Dieser Artikel bezieht sich nicht nur auf Berlin, sondern berichtet von den Zahlen deutschlandweit und auch hier fungiert die Bundesagentur für Arbeit als Datenlieferant. »Demnach erhielten im September 2015 nach den letztverfügbaren Daten 592.215 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ergänzende staatliche Leistungen in Form von Arbeitslosengeld II. Ein Jahr zuvor, im September 2014, waren es dagegen mit 589.701 etwa 2500 Beschäftigte weniger.« Das hätten doch – eingedenk der Argumentation bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, dass man damit auch die eigene Existenzsicherung unabhängig von ergänzenden, eben aufstockenden Leistungen aus der Grundsicherung sicherstellen wolle – weniger und nicht etwas mehr werden müssen.
Entweder läuft da was schief – oder aber, man muss wieder einmal genauer auf die Zahlen schauen.
Wenn man das macht, dann zeigt sich sehr schnell, dass das scheinbare Durcheinander gar keines ist.
An den Anfang gestellt sei der Hinweis, dass die „Aufstocker“ eine durchaus heterogene Gruppe sind, denn darunter können Vollzeitbeschäftigte mit sehr niedrigen Löhnen fallen, aber auch Arbeitslosengeld II-Bezieher, die einen „kleinen“ Minijob ausüben, der sich an der Zuverdienstgrenze nach den bestehenden Einkommensanrechungsvorschriften orientiert.
Schauen wir zuerst auf die Daten aus Berlin, von wo ja ein Rückgang der Zahl der Aufstocker in der Größenordnung 5 Prozent im Zeitraum von Dezember 2014 bis Dezember 2015 berichtet wird. Und dann erfahren wir etwas genauer:
»Im selben Zeitraum zwischen 2014 und 2015 ging die Zahl der sogenannten „Minijobber“ – erwerbstätiger Hartz-IV-Empfänger mit einem Einkommen bis zu 450 Euro – um etwa 15 Prozent zurück. Gleichzeitig erzielten 17 Prozent mehr Menschen, die auch auf Sozialhilfe angewiesen sind, ein Brutto-Einkommen über 1200 Euro.«
Und von besonderer Bedeutung ist dann dieser Hinweis: »Bemerkenswert sei jedoch die Umwandlung von „Minijobs“ in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Mit der Einführung des Mindestlohns sei auch die Zahl der geringfügig Beschäftigten gesunken.«
Das ist anschlussfähig an die Erkenntnisse, die man dem Artikel Mehr Hartz-IV-Aufstocker trotz Mindestlohns entnehmen kann. Hier wird mit dem Jahresvergleich September 2014 zu September 2015 gearbeitet: Die Zahl der Aufstocker sei von 589.701 auf 592.215 gestiegen – aber aufpassen, die beiden Werte beziehen sich (nur) auf sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.
Und dann kommt die Auflösung, die anschlussfähig ist an die eben nur scheinbar abweichende Meldung aus Berlin:
»Leicht rückläufig war die Aufstocker-Zahl lediglich bei den Vollzeitbeschäftigten mit sozialversicherungspflichtigen Jobs. Sie sank zwischen September 2014 und September 2015 um knapp 17.000 auf 201.078. Dagegen stieg die Zahl der teilzeitbeschäftigten Arbeitslosengeld-II-Empfänger um knapp 20.000 auf 391.120 an. Spürbar positiv wirkte der Mindestlohn lediglich auf die geringfügig Beschäftigten. Die Zahl der Mini-Jobber, die auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen waren, lag im September 2015 mit knapp 421.000 rund 53.000 niedriger als ein Jahr zuvor. Vor allem dieser Rückgang erklärt, warum die Zahl der Hartz-IV-Aufstocker Ende 2015 insgesamt mit 1,21 Millionen um rund 50.000 unter dem Vorjahreswert gelegen hat.«
Eine Zusammenfassung mit Blick auf den Mindestlohn könnte so formuliert werden:
Der Mindestlohn wirkt bei den Aufstocken, die eine Vollzeitarbeit ausüben, denn die 8,50 Euro heben zumindest den Alleinstehenden über die Bedürftigkeitsschwelle, deren Unterschreiten aufstockende Hartz IV-Leistungen ermöglicht. Gleichzeitig steigt die Zahl der (sozialversicherungspflichtig) teilzeitbeschäftigten Aufstocker (denn bei geringer Stundenzahl wäre man selbst bei deutlich höheren Löhnen als den 8,50 Euro leistungsberechtigt, wenn man sonst keine Einnahmen hätte), das aber vor allem deshalb, weil gleichzeitig ein Teil der früheren Mini-Jobber im Aufstockungsbezug deshalb nicht mehr auftauchen, weil schlichtweg ihre bisherigen geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt worden sind in sozialversicherungspflichtige Teilzeit-Jobs – und deren Zahl unter den Aufstocken steigt ja auch an.
Insofern sind wir hier mit den Umwälzungsprozessen auf einem eben nicht statischen Arbeitsmarkt konfrontiert, die mit dem Mindestlohn zusammenhängen:
Ein Teil der bisherigen Minijobs ist abgebaut, ein anderer Teil ist hochgezogen worden in den Bereichen der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung (und generiert hier jetzt „neue“, letztendlich aber „alte“ Aufstockerfälle) und die Vollzeitbeschäftigten müssen wegen des Mindestlohns weniger oft aufstocken als früher, zumindest wenn sie alleinstehend sind.
Weitere systematische Aspekte kann man auch dem Beitrag Die Aufstocker im Hartz IV-System: Milliardenschwere Subventionierung der Niedrigeinkommen und die (Nicht-)Lösung durch den gesetzlichen Mindestlohn vom 15. Januar 2016 entnehmen.