Die Gleichzeitigkeit des Mangels an „zu wenigen“ und „zu vielen“ jungen Menschen. Eine Exkursion in den nicht vorhandenen „Ausbildungsmarkt“ und seine Folgen am Beispiel von Berlin

Noch vor einigen Jahren war es so, dass händeringend neue Ausbildungsstellen für junge Menschen gesucht wurden, denn zu viele kamen bei ihrer Suche nach einer Berufsausbildung nicht zum Zuge und standen vor einem verschlossenen Ausbildungssystem. Für die Arbeitgeber waren das rosige Zeiten, konnten Sie doch im wahrsten Sinne des Wortes eine Bestenauslese betreiben. Viele derjenigen, die keinen direkten Zugang zu einer Ausbildung finden konnten, wurden in das „Übergangssystem“ überführt, mit seiner unüberschaubaren Vielfalt an berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen bis hin zu Bildungsgängen, die einen (höheren) Schulabschluss ermöglichen. Das wurde und wird dann nicht selten als Parkhaus kritisiert. So einfach war und ist es aber nicht. Kurzum und zuspitzend vereinfachend gesagt: in der Vergangenheit gab es „zu viele“ junge Menschen und „zu wenige“ Ausbildungsplätze.

Nun sollte man aber im Jahr 2018 meinen, dass das Schnee von gestern ist. Dass sich das Problem aufgelöst hat und wir mit einer Umkehrung der Mengenverhältnisse konfrontiert sind: „Zu wenige“ junge Menschen und „zu viele“ Ausbildungsplätze. Man muss nur einen Blick in die aktuelle Berichterstattung werfen – dann drängt sich das Bild von einem flächendeckenden „Azubi-Mangel“ förmlich auf. Um nur eines von vielen Beispielen zu zitieren: Jeder zehnte Betrieb bekommt nicht mal eine einzige Bewerbung: Fast jeder dritte Betrieb in Deutschland findet keine Lehrlinge, soll eine Befragung des DIHK ergeben haben. Vor  zehn Jahren blieben nur zwölf Prozent der Ausbildungsplätze vakant. „Uns geht der Nachwuchs aus“, so wird der DIHK-Präsident Eric Schweitzer zitiert. Natürlich lohnt es sich bei solchen Aussagen immer, genauer hinzuschauen. »Am schwierigsten ist die Lage im Gastgewerbe, wo 58 Prozent der Betriebe Lehrstellen nicht besetzen konnten. Besonders stark zugenommen hat der Azubi-Mangel im Baugewerbe mit 42 Prozent.« Das verweist auf spezielle Probleme spezieller Branchen. Gar nicht abgebildet werden in dem Beitrag die erheblichen regionalen Unterschiede einer Gleichzeitigkeit des Mangels an (potenziellen) Azubis und an Ausbildungsstellen. Man schaue sich nur die Diskrepanz zwischen der Lage im Süden Deutschlands und beispielsweise im Ruhrgebiet an.

Wie alle Vereinfachungen im Leben trifft die Aussage „Uns geht der Nachwuchs aus“ nur einen Teil der Wahrheit. Und das Kernproblem der Diskussion auf dieser Ebene resultiert auch daraus, dass immer ganz selbstverständlich von einem „Ausbildungsmarkt“ gesprochen wird.

Die Diagnose einer (scheinbaren) Paradoxie – auf der einen Seite nicht besetzte (besetzbare?) Ausbildungsstellen, auf der anderen Seite aber viele junge Menschen, die keinen direkten Einstieg in eine Berufsausbildung finden (können/wollen?) – wird abgeleitet aus der Gegenüberstellung der großen Zahlen auf der Angebots- und Nachfrageseite. Aber ist das überhaupt ein geeigneter Maßstab? Haben wir es wirklich mit einem „Markt“ zu tun mit seinen üblichen Konfigurationen, die einem „Markt“ von den Ökonomen zugeschrieben werden? Daran kann man mehr als begründete Zweifel haben, vgl. dazu bereits meinen Hinweis in dem Beitrag Überall gibt es Azubi-Mangel-Alarm. Ein Märchen? Eine statistische Illusion? vom 4. November 2016:

»… sowohl die eine Seite – also die Proklamation eines „Azubi-Mangels“ – wie auch die andere – also die rechnerische Widerlegung – leiden darunter, dass sie aus der jeweiligen Vogelperspektive auf ein überaus heterogenes und dann auch noch räumlich ganz erheblich begrenztes Geschehen blicken. Vor Ort findet man zahlreiche Passungsprobleme zwischen dem Angebot und der Nachfrage. Das manifestiert sich in bestimmten Berufen bzw. Tätigkeitsfelder wie dem Hotel- und Gaststättenbereich (wo man auch im nachgelagerten Bereich der Arbeitskräfte erhebliche Personalbeschaffungsprobleme hat) oder in bestimmten handwerklichen Berufen. Das kann sicher mit den schlechten oder von vielen als schwierig bewerteten Arbeitsbedingungen zu tun haben. Aber auch das gehört zur Wahrheit: Manche Jugendliche haben erhebliche Probleme nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch auf der Verhaltensebene, die es selbst gutmütigen und offenen Arbeitgebern schwer machen, diesen jungen Menschen eine Ausbildungsmöglichkeit zu eröffnen.

Während sich Jugendliche in Süddeutschland vielerorts tatsächlich Ausbildungsplätze aussuchen können, wenn sie halbwegs laufen können, ist das in Regionen wie dem Ruhrgebiet ganz anders, dort finden selbst junge Menschen mit einem ordentlichen Schulabschluss und vorhandener Motivation häufig keine Lehrstelle, weil es einen quantitativen Mangel gibt. Rechnerisch ließe sich das sicher ausgleichen, wenn man die Bundeszahlen betrachtet, aber dann müsste man eine sehr umfangreiche Kinderlandverschickung organisieren.

Hinzu kommt – und das sollte nicht unterschätzt werden – eine weiterhin durchaus sehr eingeschränkte und dann auch noch geschlechtsspezifische Wahl der Ausbildungsberufe, wobei gerade die jungen Frauen immer noch Berufe wählen, von denen man nicht wird leben können oder nur unter sehr restriktiven Bedingungen.

Es ist halt alles nicht so einfach im wirklichen Leben jenseits der Zahlen.«

Das wahre Leben, so könnte man es etwas pathetisch formulieren, spielt sich immer vor Ort ab. Mit allen Chancen und Potenzialen, aber eben auch allen Risiken und Restriktionen, die sich schlicht aus der Tatsache ergeben, dass es einen großen Unterschied machen kann, wo man gerade lebt. Wenn man nur von oben auf die Zahlen schaut, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass die regionalen Ungleichgewichte von zu vielen und zu wenigen Jugendlichen dadurch aufgelöst werden könnte, dass man die unversorgten Jugendlichen und die unbesetzten Ausbildungsstellen zusammenbringt. Das aber würde eine enorme Erhöhung der Mobilität der Jugendlichen voraussetzen, die dahin gehen müssten, wo die Azubi-Stellen sind. Dagegen sprechen viele Gründen. In diesem Zusammenhang interessant die Veröffentlichung dieser von Elisabeth Hoffmann von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen Empfehlungen einer Gruppe von Experten: Jugendmobilität innerhalb Deutschlands fördern, März 2018. In diesem Papier geht es darum, »wie junge Menschen zu Mobilität zu ermutigen und Passungsprobleme zu verringern sind. Berücksichtigt wird dabei auch, dass die Hürden nicht nur finanzieller Art sind (Miete; Heimfahrten), sondern auch in tief sitzenden Ängsten vor dem Verlust von Familie, Freunden, Heimat bestehen … Für die Aufnahme einer Ausbildung seine vertraute Umgebung zu verlassen ist ein großer Einschnitt. Deshalb spielt beim Jugendwohnen, das eine wichtige Funktion für Mobilität einnimmt, der Aspekt sozialpädagogischer Begleitung eine wichtige Rolle.«

In der aktuellen Diskussion lässt sich der Aspekt der regionalen und personenbezogenen Chancen wie auch Restriktionen am Beispiel der „Boomtown“ Berlin illustrieren. „Boomtown“ deshalb, weil der Nur-Blick auf die nackten Zahlen diese Einordnung zu belegen scheint.

Ein Beispiel dazu mit Relevanz für das Thema Arbeitskräftebedarf: Zuzug von Firmen nach Berlin steigt sprunghaft, meldet der „Tagesspiegel“ am 7. März 2018. Beeindruckendes kann man hier zur Kenntnis nehmen: »Sprunghafter Anstieg des Firmenzuzugs nach Berlin: 1.523 Unternehmen sind im vergangenen Jahr in die Hauptstadt gezogen, fast 30 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Rechnet man Gründungen und Ausgründungen von Berlinern hinzu, hat es im vergangenen Jahr insgesamt 44.839 neue Gewerbeanmeldungen gegeben, das waren 2,8 Prozent mehr als im Jahr zuvor.« Wie immer muss man natürlich auch hier genauer hinschauen bzw. etwas Wasser in den Wein kippen: »Das Rückgrat wirtschaftlich starker Regionen, das verarbeitende Gewerbe, schwächelt in Berlin immer noch: Hier halten sich Anmeldungen und Abmeldungen von Firmen die Wage. Getragen wird der „Gründer-Boom“ vom Baugewerbe, in dem die Firmenanmeldungen (8.861) die Abmeldungen (7.549) deutlich übertrafen. Auch der überalterte Fuhrpark der Berliner belebt die Konjunktur: Mit Reparatur und Handel von Kraftfahrzeugen lassen sich gute Geschäfte machen, wie 7.834 Anmeldungen zeigen, bei 7.182 Firmenschließungen.« Und so scheint es nicht überraschend, dass man auch für Berlin mit solchen Schlagzeilen konfrontiert wird: Fachkräfte und Azubis verzweifelt gesucht: »Die Zahl der Arbeitslosen sinkt, die Zahl der offenen Stellen steigt weiter. Firmen müssen zunehmend um Fachkräfte und Lehrlinge buhlen«, so Marie Rövekamp in ihrem Artikel. Und auch hier werden wir mit den bereits angesprochenen Aspekten einer grundlegenden Verschiebung der Angebots-Nachfrage-Relationen konfrontiert – in dem am 30. Juni 2017 veröffentlichten Beitrag heißt es:

»Zwei Monate vor dem nächsten Ausbildungsjahr gibt es 6.894 unbesetzte Lehrstellen in Berlin. Mehr als jeder dritte Betrieb der Hauptstadt konnte seine Plätze im vergangenen Jahr nicht besetzen – und bis heute sind die Bewerberzahlen abermals um fünf Prozent zurückgegangen. Der demografische Wandel, der … „wie eine Bombe tickt“, sorgt zum einen dafür, dass die Zahl der Schulabgänger immer kleiner wird. Gleichzeitig scheiden in den kommenden zehn Jahren in Berlin mehr als 230.000 sozialversicherungspflichtig Angestellte aus Altersgründen aus – von derzeit 1,4 Millionen Beschäftigten.«

Das sind doch paradiesisch daherkommende Rahmenbedingungen für junge Menschen, die eine Ausbildung suchen. Also theoretisch. Schon die folgende Überschrift weist dann aber auf die Tiefen bzw. Untiefen hin, die sich ergeben müssen, wenn man genauer hinschaut: Gute Chancen, schlechte Zahlen: Jeder achte Teenager in Berlin ist arbeitslos, berichtet Silvia Perdoni in der „Berliner Zeitung“ am 23. März 2018. Auch sie beginnt mit dem eigentlich Verheißungsvollen, um dann ein Aber einzubauen:

»Auf den ersten Blick scheint alles wunderbar. Deutschlandweit stabilisiert sich der Jobboom auf hohem Niveau, auch in Berlin sinkt die Arbeitslosigkeit. Rasant entstehen hier Stellen, in vielen Branchen doppelt so schnell wie im Rest der Republik. Besonders die Digitalsparte entwickelt sich prächtig.

Doch ausgerechnet hier, in der Hauptstadt des jungen Unternehmertums, bleibt eine Gruppe auf der Strecke, die überrascht: die Jugendlichen. Beinahe jeder achte Teenager unter 20 ist arbeitslos. Das sind etwa dreimal so viele junge Leute wie im Bundesschnitt.«

Natürlich stellt sich die Frage, wie das sein kann in einer Stadt, die ja offensichtlich weiter wächst und wo bereits heute in »Hotels, Küchen, Kitas und Handwerksbetrieben der Nachwuchs fehlt.« Bei der Suche nach den möglichen Ursachen trägt Perdoni die folgenden Aspekte vor:

»Das Problem beginnt an den Schulen, wahrscheinlich sogar noch eher. Experten bescheinigen der Stadt die wohl heterogenste Schülerschaft des Landes – und von der sozialen Herkunft hängt in ganz Deutschland noch immer recht stark der Bildungserfolg ab. Ein Drittel aller Berliner Kinder wächst in Familien auf, die Sozialleistungen beziehen. Die Quote der jungen Berliner, die regelmäßig die Schule schwänzen, ist hoch, genau wie die Zahl der Schulabbrecher.

Nach der zehnten Klasse schaffen es längst nicht alle Teenager, ihren Platz im Anschluss- oder Übergangssystem zu finden. Denn in Berlin gründen die Bildungswege stärker auf Freiwilligkeit und weniger auf Zwang als etwa in Hamburg. Das stärkt die Eigeninitiative, birgt aber eben auch die Gefahr, dass junge Leute in unbekannte Richtung entschwinden.«

Zugleich weist auch sie auf eine Kritik hin, mit der man immer wieder von der Arbeitgeberseite konfrontiert wird: »Die Unternehmen klagen über mangelnde Qualifikationen bei den Bewerbern. Anders als früher sehen sie dabei aber das Hauptproblem nicht etwa beim Lesen, Schreiben oder Rechnen. Die Chefs beschweren sich eher über fehlende Leistungsbereitschaft und Motivation.« Man darf das nicht vorschnell abtun als ein „Klagen auf hohem Niveau“, also dass die in der Vergangenheit nach oben geschraubte Erwartungshaltung, was die neuen Azubis angeht, nicht mehr erfüllt wird bei rückläufiger Bewerberzahl insgesamt in Verbindung mit zunehmenden in der Person der jungen Menschen begründeten Defiziten. Das ist schon ein reales Problem. Zugleich aber muss man eben auch darauf hinweisen, dass sich gleichzeitig die Zahl der eine Ausbildung anbietenden Unternehmen verändert hat – und das bleibt natürlich auch nicht ohne Konsequenzen. Konkret am Beispiel Berlin: »In Berlin verschärft sich die Lage, weil das Angebot der Firmen schrumpft: Vor zehn Jahren waren es noch beinahe tausend Unternehmen mehr, die Lehrlinge beschäftigten. Unterm Strich steht ein Missverhältnis von Ausbildungsplätzen und Bewerbern. Zwar gab es im vergangenen Ausbildungsjahr 1.197 freie Stellen und 2.348 unversorgte Bewerber – doch sie passen nicht zusammen.«

Natürlich kommen an solchen Stellen immer die Rufe nach „der“ Politik, die was tun müsse. Und Silvia Perdoni ist so fair in ihrer Berichterstattung, dass sie durchaus darauf hinweist, dass der Senat in Berlin einiges versucht und verändert hat:

»Etliche kleinteilige Maßnahmen sind in den vergangenen Jahren in die Wege geleitet worden. Bereits in der achten Klasse durchleuchtet eine Potenzialanalyse die Stärken und Schwächen der Schüler. Es sollen künftig mehr Sozialarbeiter an den Schulen arbeiten, Schwänzer sollen in temporären Kleinklassen lernen.

Die Jugendberufsagenturen vereinen die Angebote von Jobcenter, Arbeitsagentur, Jugendamt und beruflichen Schulen unter einem Dach, um Jugendliche passgenauer zu unterstützen. Mit der gestärkten Verbundausbildung sollen auch kleine Firmen gemeinschaftlich Auszubildende anlernen, es gibt Job-Programme für Alleinerziehende und das in dieser Woche vorgestellte neue Berufsabitur.«
Das eine ist die Ebene der Zahlen, Programme und Projekte – das andere die Ebene der Einzelschicksale, die nicht selten aber auch nur richtig als Gruppenschicksale zu verstehen sind. Silvia Perdoni hat versucht, diese andere Dimension des Themas in ihrem Artikel Arbeitslose Teenager: Berlins verlorene Kinder anzuleuchten.

Dort porträtiert sie zum einen die 17-jährige Samira Alabi, eine von 13.582 jugendlichen Arbeitslosen in Berlin. Sie steht stellvertretend für viele andere: »Samira Alabi wird eine von Tausenden Jugendlichen, die in Berlin täglich die Schule schwänzen. Mehr als 2.000 Oberschüler blieben dem Unterricht im vergangenen Schuljahr länger als vier Wochen fern. Auch hier hält Berlin im bundesweiten Vergleich die rote Laterne. Die Ursachen für die Schuldistanz sind vielfältig. Schlechte Schulleistungen, Mobbing, Angstzustände oder andere psychische Probleme können eine Rolle spielen. Oft liegt es auch an falschen Freunden, oder aber Schüler müssen sich um Eltern oder Geschwister kümmern.«

Wir finden hier auch einen Hinweis auf das Potenzial, aber auch die Restriktionen, die mit den bereits angesprochenen Maßnahmen der Politik verbunden sind: »Die Bildungsverwaltung will die notorischen Schwänzer zurück an die Schulbank holen, indem sie sie in temporären Kleinklassen unterrichtet. In Reinickendorf gibt es seit Anfang des Schuljahres so eine, berichtet Matthias Holtmann. Er ist Schulleiter der Max-Beckmann-Oberschule, an der Samira Alabi einst verloren ging. „Das Konzept ist gut“, sagt er. „Aber wir würden uns wünschen, Schüler flexibler in die Klassen rotieren zu können. Denn ihre Krisen halten sich nicht an das Schulhalbjahr.“«

Eine Erkenntnis der Praktiker lässt sich so auf den Punkt bringen: Wer einmal mit dem Schwänzen begonnen habe, sei später schwer wieder einzufangen. An diesem Aspekt sollten alle erforderlichen Handlungsmuster ausgerichtet werden.

Der in dem Artikel beschriebene Werdegang der Samira steht zugleich für die Notwendigkeit, nicht nur auf den einzelnen Menschen gleichsam isoliert für sich zu schauen, sondern das „Umfeld“ zu verstehen, in dem sich viele bewegen (müssen): »Samira Alabi hat acht Geschwister. Ihr Vater stammt aus Nigeria. Heute lebt er in Italien, glaubt sie. Ihre Mutter bessert die Sozialhilfe mit Mini-Jobs auf, sie macht sauber in Hotels. So gut es eben geht, hält sie die Großfamilie in der Vier-Zimmer-Wohnung zusammen. Ein Kraftakt, der oft wenig Luft für die Bedürfnisse der zehn Einzelnen lässt.«

Ein Drittel aller Berliner Schüler wächst wie das Mädchen in Familien auf, die Sozialtransfers beziehen. Dass in Deutschland die soziale Herkunft großen Einfluss auf den Bildungserfolg hat, dass aus Familien ohne Geld also besonders häufig Kinder ohne Chancen kommen, ist nun hinreichend belegt. Aber auch hier muss man aufpassen, nicht vorschnell in Klischees zu verfallen – beispielsweise kann und muss man immer wieder von „vererbter Bildungsarmut“ lesen oder hören. Eine andere, sicher diskussionswürdige Perspektive findet man in diesem Zitat des Schulleiters Matthias Holtmann:

„Wichtiger als der soziale Status ist ein gemeinsames Wertesystem der Eltern, ein Umfeld von Respekt und Verlässlichkeit.“ Doch gebe es in Berlin eben auch Familien, die sich selbst ein System verpasst hätten, in dem andere Dinge zählten. Anerkennung durch eigene Autoritäten, Loyalität oder Familienbande etwa. „Die Eltern sind der wichtigste Faktor: Sind sie dahinter, schaffen Kinder den Schulabschluss“, sagt Holtmann.

Samira schafft den Schulabschluss nicht. Sie »schwänzt auch die Prüfungen. Ohne mittleren Schulabschluss oder Berufsbildungsreife verlässt sie die Sekundarschule. Sie bricht ab. So wie jeder zehnte Schüler in Berlin. Das ist wieder so eine Zahl, doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt.« Eine trockene Zahl mit handfesten Folgen: Zwei Drittel der frühen Schulabgänger sind später im Alter von 18 bis 24 Jahren nicht erwerbstätig. »Deswegen machen Experten die Schnittstelle nach der zehnten Klasse als besonders entscheidend aus. Gelingt es nicht, mit den Schülern eine Perspektive zu entwickeln, bevor sie die Mittelstufe verlassen, laufen sie Gefahr, in unbekannte Richtung zu entschwinden.«

Aber auch darauf hat doch die Politik reagiert – mit dem Ansatz der „Jugendberufsagenturen“, wird der eine oder andere an dieser Stelle einwenden. „Ja, aber“, muss man hier erneut sagen:

»Die neue Jugendberufsagentur soll … Heranwachsende früher und passgenauer bei der Berufswahl unterstützen. In jedem Bezirk vereint sie die Angebote von Jobcenter, Arbeitsagentur, Jugendamt und beruflichen Schulen unter einem Dach. Das Problem: Die Jobcoaches erreichen nicht alle. Rund 2000 bis 3000 junge Leute gehen ihnen jedes Jahr durch die Lappen. Sie erscheinen nicht zu den Terminen in der Schule oder lassen das Formular für die Datenweitergabe irgendwo verschwinden.«

Samira ist zwischenzeitlich in einem Berufsvorbereitungstraining bei Trias gelandet, wo auch Aktivierungsprojekte, Weiterbildungen und Jobcoachings stattfinden. Dort ist sie jetzt gemeinsam mit dem zweiten Einzelschicksal, das Silvia Perdoni in ihrem lesenswerten Artikel porträtiert:

»Kathrin Kühne ist 24 Jahre alt und hat einen sechsjährigen Sohn. Christoph kam zur Welt, bevor sie ihren Schulabschluss machen konnte. Sie blieb zu Hause, stritt mit Christophs Vater über Unterhalt, verlor sich inmitten von Windeln, Schnullern und Nebenkostenabrechnungen. Sie musste erwachsen sein, ganz plötzlich. Und hatte das Gefühl, sie schafft das nicht. Sie wurde krank. Depressionen. Panikattacken. Nicht einmal Busfahren ging mehr.

Vor einem halben Jahr kam sie voller Zweifel zu Trias, mit schwitzenden Händen: „Kann ich jeden Tag um 8 Uhr irgendwo sitzen?“ Es war das erste Mal seit langem, dass sich ihr Alltag nicht um den Sohn drehen sollte. Sie blieb. Hörte nicht auf die Freundinnen, die ihr rieten, lieber noch ein Kind zu kriegen. Sie will ein Happy End für ihre Geschichte, sagt sie. Eine Geschichte, die so anders ist als Samiras, dass man begreift, wie breit Politik ansetzen muss, um diesen Jugendlichen wieder Perspektiven zu eröffnen.«

Und jeder, der die Arbeit, die von solchen Unternehmen wie Trias geleistet werden muss, gerne einem „Träger-Bashing“ unterzieht, bis hin zu der abfälligen Kategorisierung als „Sozialindustrie“, sollte solche in diesem Fall Selbstbeschreibungen der Teilnehmer zur Kenntnis nehmen, um einen molekularen Eindruck von den Herausforderungen zu bekommen:

„Manche hier haben keine Wohnung, andere keine Eltern, andere nehmen Drogen“, sagt Kathrin Kühne. „Wieder andere haben gar keinen Bock auf Arbeit, die wollen lieber auf Hartz IV bleiben“, ergänzt ihre Freundin. „Hier waren gerade drei Typen, die haben ständig rumgebrüllt: ’Wallah’ hier, ’Wallah’ da. Einer hat eine Tür eingetreten und in den Mülleimer gepinkelt.“ Die Jungs flogen aus dem Projekt.
Steffen Fischer, der als Jobcoach bei Trias arbeitet, wird ergänzend zitiert: »Fischer erzählt von Eltern, deren Tochter keinen Ausbildungsvertrag unterschreiben sollte, weil sie dann aus der Bedarfsgemeinschaft für das Arbeitslosengeld fällt. Von Jugendlichen ohne Abschluss, die ihm verkündeten, für unter 3000 Euro stünden sie nicht auf. Die ihn fragten, warum sie ins Projekt kommen sollten, wo sie doch nichts dafür bekämen. Von einer Haltung, die davon zeugt, niemals andere Vorbilder gehabt zu haben als Menschen im Leistungsbezug. Von jungen Leuten ohne Träume.«

Und Samira Alabi? Sie hat gerade wieder zwei Bewerbungen verschickt. Eine Drogerie hat sie in die nächste Vorstellungsrunde eingeladen. Das ist schon mal was, aus dem was werden kann – oder auch nicht. Die Zerbrechlichkeit des Lebens, die hier dominiert, beendet auch den wirklich lesenswerten Artikel von Silvia Perdoni, die Samira abschließend zu Wort kommen lässt: »Doch sie merkt auch, wie leicht es ist, wieder in alte Muster abzurutschen. Einfach mal nichts tun. Nur ein paar Tage. „Besonders, wenn man Absagen bekommt, ist das extrem demotivierend“, sagt sie.«

Die Schattenarmee des deutschen Pflegesystems und die Forderung, den Kopf aus dem Sand zu ziehen

In den vergangenen Monaten ist mal wieder intensiver über den Pflegenotstand in unserem Land berichtet und diskutiert worden. Dabei ist klar geworden, dass es nicht nur Probleme und Personalmangel in den Pflegeheimen gibt, sondern zunehmend auch bei den ambulanten Pflegediensten, die bislang immer im Windschatten der nicht selten skandalisierenden Berichterstattung über die stationäre Altenpflege gesegelt sind. Und das Thema bewegt so viele Menschen, neben den Pflegebedürftigen natürlich auch die Millionen Angehörige. Und wenn man eines mit Sicherheit behaupten kann, dann das: Würde es nicht die zahlreichen pflegenden Angehörigen in unserem Land geben, die bislang sicherstellen, dass mehr als 70 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden, dann würde das Pflegesystem in Deutschland innerhalb weniger Tage zusammenbrechen.

Und nicht wenige pflegende Angehörige besorgen sich Unterstützung bei Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, weil es zwischen dort und hier ein enormes Wohlstandsgefälle gibt. Die dann eine Zeit lang, oftmals im Wechselmodell, einige Monate hier sind und dann wieder in ihre Heimat zurückkehren und nach einiger Zeit erneut aufbrechen. Jeder weiß, über wen wir hier sprechen. Vor allem Frauen aus osteuropäischen Ländern. Und wir reden hier nicht über ein abseitiges Thema. Wenn man bei Google den Suchbegriff „24-Stunden-Pflege“ eingibt, um nur ein Beispiel zu nennen, dann bekommt man dieses Ergebnis:  575.000 Ergebnisse in 0,48 Sekunden.

Über die vielen überwiegend aus Osteuropa stammenden Menschen, die hier bei uns in den Familien bei den Betroffenen arbeiten und dort leben, wurde in diesem Blog immer wieder berichtet. Beispielsweise in diesem Beitrag vom 5. September 2016: Häusliche Betreuung und Pflege: Eine völlig berechtigte Skandalisierung, wenn hier „Sklavinnen“ unterwegs sind. Aber zugleich die bohrende Frage: Was tun?. Dort findet man dieses Zitat:

»Rund um die Uhr, unterbezahlt und unversichert. „Pflegesklavinnen“ nennen manche diese Menschen, oft aus Osteuropa, die teilweise weniger als 800 Euro im Monat verdienen – für einen Job, für den es eigentlich drei Pflegekräfte bräuchte. Die Frauen, selten Männer, arbeiten als 24-Stunden-Kräfte, auch „Live-Ins“ genannt, in Privathaushalten. Von dort aus versorgen sie Menschen Tag und Nacht, gehen einkaufen, kochen, geben Tabletten und sind Gesprächspartner. Und weil sie keine Rechte haben, werden sie oft mit Füßen getreten.«

Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um eine Schattenwelt, was sich dann auch in den Zahlen niederschlagen muss: Experten schätzen, dass es zwischen 100.000 und 300.000 – ganz überwiegend Frauen – sind, ohne die hier das Pflegesystem kollabieren würde.

Letztlich ist es so gut wie unmöglich, eine osteuropäische 24-Stunden-Pflegerin legal in Deutschland zu beschäftigen, auch wenn immer wieder gerne anderes behauptet wird. Dabei muss man auch die problematische Rolle vieler Vermittlungsagenturen ansprechen, wie das in diesem Zitat deutlich herausgearbeitet wird:

»Die Frauen kommen meist im Wechsel mit einer Kollegin für jeweils drei Monate nach Deutschland. Agenturen bezeichnen die Einsätze als Dienstreisen oder schicken die Frauen von polnischen Unternehmen aus nach Deutschland. Solche Dienstreisen sind jedoch Steuerbetrug im Herkunftsland. Und eine Entsendung würde nur funktionieren, wenn dabei deutsche Arbeitszeitgesetze und deutscher Mindestlohn gezahlt würden. Das geschieht bei der 24-Stunden-Pflege nicht. Sehr beliebt ist deshalb die angebliche Selbstständigkeit solcher Helfer. Das Problem: Wer über Wochen oder Monate in einem Haushalt arbeitet, keine eigenen Arbeitsmittel einsetzt und sich die Arbeitszeit nicht selbst einteilen kann, der ist nicht selbstständig.«

Und dieses Thema wurde nun auch aufgerufen vom EWSA – dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss. Der EWSA hatte bereits im Januar 2016 die Initiativstellungnahme Die Rechte von im Haushalt lebenden Pflegekräften veröffentlicht, die dann auch im September 2016 offiziell verabschiedet worden ist.

Der Ausschuss hat nun einen genaueren Blick auf die Situation in Deutschland in diesem Bereich geworfen und die Befunde unter dieser Überschrift veröffentlicht: Europa braucht eine proaktive Langzeitpflegepolitik. Die dort präsentierte Bestandsaufnahme aber lässt den noch positiv klingenden Titel in den Hintergrund treten. Auf einer Veranstaltung zu diesem Thema wurden „die schlimmen Arbeitsbedingungen der in deutschen Haushalten beschäftigten Pflegekräfte“ offengelegt. Daraus einige wichtige Aspekte:

Die Branche in Deutschland sei hochgradig fragmentiert und unreguliert: »Unterbezahlten Pflegekräften werden grundlegende arbeitsrechtliche und Sozialschutzansprüche verweigert, und die Pflegebedürftigen haben keine Gewähr für die Qualität der Pflege, die sie erhalten.« Auch hier wird eine verheerende Diagnose präsentiert: » (Die) Arbeitsbedingungen in den deutschen Haushalten sind mitunter so schlecht, dass sie an Ausbeutung grenzen und an moderne Sklaverei erinnern.«

„Es ist höchste Zeit, faire Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte aus Osteuropa, die Tag und Nacht die deutschen Familien bei der Pflege unterstützen, zu fordern. Sie sollen für ihre Arbeit gerecht entlohnt werden. Ihre Arbeit muss anerkannt und Arbeitsrechte beachtet werden“, wird Sylwia Timm vom Projekt „Faire Mobilität“ des DGB zitiert. „Die 24-Stunden- Pflege und -Betreuung ist Arbeitsausbeutung“, mahnte sie und wies darauf hin, dass die in diesem Rahmen geleistete Arbeit nicht von der Arbeitszeitrichtlinie und anderen einschlägigen Regelungen gedeckt ist. Oft müssen die Pflegekräfte länger als gesetzlich erlaubt arbeiten, ohne Pausen, Ruhezeiten oder freie Tage. Auch die Entlohnung ist nicht angemessen, und Überstunden oder Bereitschaften werden überhaupt nicht bezahlt. Sozialversicherungsbeiträge werden entweder gar nicht oder nur in der geringstmöglichen Höhe entrichtet. Die Pflegekräfte haben keine Kranken- oder Arbeitslosenversicherung und leben oft unter erbärmlichen Umständen, etwa in ungeheizten Räumen, oder müssen im selben Raum wie die pflegebedürftigen Menschen, um die sie sich kümmern, schlafen.

Untersuchungen haben ergeben, dass in etwa jedem zehnten deutschen Haushalt mit einem Pflegebedürftigen eine Hilfskraft beschäftigt wird, die rund um die Uhr mit in der Wohnung lebt und arbeitet.

„Wichtig ist, dass die im Haushalt von Fachkräften erfolgende Pflege professioneller gestaltet und reguliert wird“, erklärte der Berichterstatter der EWSA-Stellungnahme, Adam Rogalewski. Die Branche sei zudem sehr fragmentiert, und einige Agenturen vermittelten Pflegekräfte zu Bedingungen, die auf Sozialdumping hinausliefen.

Der EWSA, so wird deren Berichterstatter Adam Rogalewski zitiert, schlägt unter anderem vor, im Haushalt lebende Pflegekräfte auf dem EU-Arbeitsmarkt dadurch anzuerkennen, dass eine gemeinsame Definition für diesen Beruf festgelegt wird und diese Pflegekräfte mit allen Rechten, die ihnen aufgrund der einschlägigen arbeitsrechtlichen Vorschriften der EU und der Mitgliedstaaten zustehen.

Aber ist das nicht – eigentlich – schon der Fall?

„Es existieren bereits klare Anforderungen an rechtlich legale Beschäftigungsverhältnisse für die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft (sogenannte 24-Stunden-Betreuung). Woran es jedoch mangelt, ist Rechtssicherheit, und das befeuert nur den Schwarzmarkt, der in unserem Bereich mit 90 % unglaublich groß ist. Teilweise werden unpraktikable Scheinlösungen gefordert, die nicht umsetzbar sind. Das betrifft beispielsweise die Anstellung der Betreuungspersonen durch die Privathaushalte oder eine Ausweitung der stationären Versorgung – diese Lösungen sind für mich nicht realistisch“, sagte Juliane Bohl, von der Hausengel Holding AG, einem Mitglied des Verbandes für häusliche Betreuung und Pflege e.V. (VHBP).

Doch nur wenige Pflegekräfte sind direkt von der Pflegefamilie angestellt, viele werden über Agenturen vermittelt. Den Aussagen der Betroffenen zufolge übernehmen die Agenturen jedoch nur selten Verantwortung für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte und bieten mitunter Scheinverträge an, die den tatsächlichen Verhältnissen in keiner Weise entsprechen.

Barbara Janikowska, eine polnische Pflegerin, die die letzten acht Jahre in deutschen Haushalten tätig war, berichtete auf der Veranstaltung des EWSA, dass ihre Verträge niemals der ursprünglichen Arbeitsbeschreibung der Agentur entsprochen hätten.

Frau Janikowska zufolge diktieren die Agenturen die Bedingungen auf dem Markt für im Haushalt lebende Pflegekräfte. „Die potenziellen Arbeitnehmer sind buchstäblich Kanonenfutter. Sklaven im modernen Europa, die die Kassen der Agenturen füllen und ihre Gewinne steigern sollen. Um jeden Preis!!! Nie werde ich die Stellen vergessen, wo ich von 5 Uhr früh bis 22 Uhr abends arbeiten musste“, so die Pflegerin.

Der EWSA befindet sich nun auf einer Informationsreise durch einzelne EU-Mitgliedsstaaten und die Ergebnisse sollen zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr 2018 in einem entsprechenden Bericht vorgelegt werden.

Allerdings wird nicht nur der eine oder andere an dieser Stelle ratlos zurückbleiben und fragen, wo sind denn nun Lösungs- oder Gestaltungsvorschläge, um die seit langem und auch von vielen anderen immer wieder beklagten Zustände zu verändern? Wenn man denn Kopf aus dem Sand ziehen soll, müsste man ja auch irgendwas erkennen können/wollen.
Und genau hier sind wir an einem Punkt angekommen, der erklärt, warum die Politiker – gar nicht als Vorwurf gemeint – das Thema meiden wie der Teufen das Weihwasser. Wie man die Sache auch dreht und wendet – immer wird man sich die Finger schmutzig machen müssen, weil es innerhalb unseres Systems keine wirklich befriedigende Lösung geben kann, bei der nicht gegen eine der ja durchaus begründeten Regulierungen von Arbeitsverhältnissen und -bedingungen verstoßen wird.

Das Dilemma, in dem man sich hier bewegen muss, habe ich in dem Beitrag Häusliche Betreuung und Pflege: Eine völlig berechtigte Skandalisierung, wenn hier „Sklavinnen“ unterwegs sind. Aber zugleich die bohrende Frage: Was tun? vom 5. September 2016 so skizziert:

  • Eine auf den ersten Blick völlig verständliche, aber zugleich sehr wohlfeile Position wäre es, die Ausbeutung und das krasse Gefälle zu skandalisieren und zu argumentieren, dass es diese Verstöße gegen arbeits- und sozialrechtliche Standards schlichtweg nicht geben darf, man also durch eine deutliche Erhöhung des Verfolgungsdrucks und der Bestrafung illegalen Handelns wieder für Ordnung in diesem wichtigen Bereich sorgen muss. Unabhängig von der Frage, ob man das in diesem Feld überhaupt praktisch umgesetzt bekäme, woran hier erhebliche Zweifel geäußert werden sollen, muss man sich klar machen, dass damit ja nicht der Bedarf und die Nachfrage verschwinden. Wenn man dann in diesem Zusammenhang auf das Vorbild der skandinavischen Staaten verweist, dann muss man auch in Deutschland den notwendigen Schritt gehen und eine massive Ausweitung der Altenpflege vom Personal und damit auch von den dafür notwendigen Finanzmitteln fordern. Nicht umsonst sind die Ausgaben in Skandinavien für die auf der kommunalen Ebene angesiedelte Altenpflege um ein Mehrfaches höher als bei uns. Das muss dann politisch eingefordert und umgesetzt werden – und selbst dann muss es genug Menschen geben, die in diesem Bereich auch arbeiten (wollen/können). Selbst wenn man dieses Szenario präferiert, wofür es aus sozialpolitischen Gründen viele gute Argumente gibt, wird man eine ganz erhebliche Übergangszeit berücksichtigen müssen, vor denen man nicht die Augen verschließen darf.
  • Eine andere Variante wäre, auf die Kräfte des Marktes zu vertrauen und abzuwarten. Denn die Ausbeutungsstrukturen, die sich hier teilweise entwickelt haben, werden abnehmen, wenn sich die Angebots-Nachfrage-Relationen verschieben. Und das ist in ersten Umrissen schon zu beobachten, denn: Osteuropäerinnen werden nicht für alle Zeiten als preiswerte Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Dies allein schon, weil die osteuropäischen Länder nach dem Zusammenbruch des Ostblocks einen dramatischen demografischen Einbruch erlebt haben, mit einer sehr niedrigen Geburtenrate und Länder wie Polen beispielsweise in den vergangenen Jahren ökonomisch durchaus aufgeholt haben, so dass der Druck hin zur Akzeptanz einer Pendelmigration nachgelassen hat. Allerdings ist das kein abrupter Prozess und zugleich wird man sehen, dass dann ein Teil der Agenturen einfach das Rekrutierungsspektrum weiter ostwärts ausweiten wird. Und den betroffenen Betreuungs- und Pflegekräften wird auch nicht geholfen, sie verbleiben weiter in dem Ausbeutung und Missbrauch förderlichen völlig eintransparenten Umfeld der „schwarzen“ Haushalte.

Bleibt die Frage nach einem „Mittelweg“. Und da muss man sich eben auch die Hände schmutzig machen:
Wichtigstes Ziel dabei wäre es, diesen völlig intransparenten Bereich ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, um darüber eine fachliche Begleitung (und damit immer auch Kontrolle) zu ermöglichen. Das würde auch der unterstützten Selbstorganisation der Betreuungs- und Pflegekräfte neue Räume eröffnen. Sie müssen die Möglichkeit bekommen, sich zu organisieren und untereinander auszutauschen, dabei jederzeit – beispielsweise über die Pflegestützpunkte – Beratung und Hilfestellung erhalten zu können. Über einen solchen Weg könnte man praktisch Missbrauch und Ausbeutung wesentlich besser eindämmen als mit allen anderen formal-rechtlich daherkommenden, aber in der Lebenswirklichkeit ins Leere laufenden Instrumenten.

Dann  kann man die mögliche – und vor dem Hintergrund der ansonsten anfallenden Ausgaben an anderer Stelle immer noch überaus lohnenswerte –  finanzielle Förderung und Unterstützung der Betroffenen bzw. ihrer auftraggebenden Haushalte an die Beteiligung an den neuen „legalisierten“ Strukturen einer in Teilbereichen weiterhin hoch problematischen, weil natürlich zumindest hinsichtlich der Arbeitszeiten im nicht wirklich legalen Bereich angesiedelten Form der Sonderbeschäftigung verbindlich binden. Um wenigstens ein Bein in diesen Bereich zu bekommen und den betroffenen Frauen wirksam helfen zu können. Und gleichzeitig würde es die organisierte Erschließung dieses bislang völlig in einer Schattenwelt stattfindenden Beschäftigungsbereichs ermöglichen, rechtzeitig Alternativen anzudenken, zu entwickeln und auszuprobieren, die wir brauchen, um Betreuung und Pflege im häuslichen Umfeld besser, menschenwürdiger zu organisieren.
Man ahnt schon, warum man entweder gerne „nur“ skandalisierend über diesen Bereich diskutiert oder lieber auf Tauchstation geht und nach dem Rollenmodell der drei Affen das Thema durch Nicht-Behandlung wegzuwünschen hofft.

Das Aktenzeichen 1 Ca 2686/17 sollten sich Leiharbeiter und Equal Pay-Umgeher merken. Ein wahrlich wegweisendes Urteil

Am 11. März 2018 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Die angeblich so drangsalierte Leiharbeit boomt vor sich hin und (nicht nur) die Kassiererinnen einer Supermarktkette erleben die niederen Realitäten des Geschäfts am eigenem Leib. Darin ging es zum einen um den neuen Beschäftigungsrekord der Leiharbeitsbranche – trotz der im vergangenen Jahr, als am 1. April 2017 die Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) in Kraft getreten ist, von manchen an die Wand gemalten Horrorszenarien angesichts der Würgegriffs der Regulierung. Darüber hinaus wurde in dem Beitrag auch kritisch die Erfolgsversprechen der ehemaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) auf den Prüfstand gestellt:
»1. Wir stärken gute Löhne durch die wirksame Umsetzung des „Equal Pay“-Grundsatzes („gleicher Lohn für gleiche Arbeit“) nach neun Monaten. 2. Wir verhindern unbegrenzte Leiharbeit mit der Einführung einer Überlassungshöchstdauer von grundsätzlich 18 Monaten.«
So die verheißungsvolle Ankündigung aus dem Bundesarbeitsministerium. Es wurde aufgezeigt, dass man das nicht allzu wörtlich nehmen darf und dass es zahlreiche Umgehungsmöglichkeiten gibt. Als Beispiel wurde die Jubelbotschaft, dass die Leiharbeiter nach neun Monaten „equal pay“ bekommen, also die gleiche Bezahlung wie die Stammbelegschaft, genauer unter die Lupe genommen. Erster Einwand: Tarifvertragliche Regelungen können auch als Schlechterstellung daherkommen, denn die 9 Monate können über solche Vereinbarungen bis zu 15 Monaten gestreckt werden. Der zweite und hier besonders relevante Einwand: Zeiträume vorheriger Überlassungen durch denselben oder einen anderen Verleiher an denselben Entleiher sind auf die Wartezeit von equal pay anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen nicht mehr als drei Monate liegen. Wenn sie darüber hinaus reichen, dann fängt das Spiel wieder von vorne an. Und die in einem gut gemeinten Referentenentwurf ursprünglich mal vorgesehenen sechs Monate Wartezeit sind unterwegs in Berlin verloren gegangen.

In dem Beitrag wurde ein konkretes Beispiel zitiert, über das der SWR berichtet hat: »Jahrelang arbeiteten die Leiharbeiterinnen Carmen H. aus Reutlingen und Birgit J. aus Tübingen bei der Supermarktkette „real“ an der Kasse. Seit dem 1. Januar hätten die beiden eigentlich Anspruch auf den gleichen Lohn wie die Stammbelegschaft – so steht es im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG). Doch statt gleicher Bezahlung wurde den beiden von ihrer Zeitarbeitsfirma zu Beginn des Jahres gekündigt … „real“ behauptet, man könne es sich nicht leisten, den Kassiererinnen „Equal Pay“, also den gleichen Lohn wie der Stammbelegschaft, zu zahlen – das geht aus den Gerichtsunterlagen hervor, die dem SWR vorliegen.« Vgl. dazu auch den Bericht Kein gleicher Lohn für gleiche Arbeit des Fernsehsenders SWR vom 8. März 2018.

Und nun erreicht uns diese Nachricht, die auf dem Blog arbeitsunrecht.de von Jessica Reisner unter der Überschrift Leiharbeit: Wegweisendes Urteil gegen Umgehung von equal pay in einen lesenswerten Artikel gegossen wurde. Auch hier geht es um die Kette real – und um Kassiererinnen, die als Leiharbeiterinnen in den Filialen eingesetzt werden.

»Die Erste Kammer des Arbeitsgerichts Mönchengladbach verkündete am 20.03.2018 ein Urteil, das Leiharbeitsfirmen und Unternehmen, die den Anspruch auf gleiche Bezahlung systematisch umgehen, deutschlandweit aus der Ruhe bringen dürfte … Geklagt hatte Heike O., die bereits seit 2013 für den Verleiher Mumme Personalservice GmbH als Kassiererin bei der Handelskette real gearbeitet hatte. Rund fünf Jahre (!) kassierte sie in der real-Filiale in Grevenbroich. Mumme kündigte ihr zum 31.12.2017, exakt 9 Monate nach in Kraft treten der Reform des Arbeitnehmerüberlassugsgesetzes (AÜG) zum 01.04.2017. So erging es auch Kolleg*innen aus der selben real-Filiale, die alle bei der Mumme GmbH angestellt gewesen waren. Heike O. klagte als Einzige. Sie vermutete einen direkten Zusammenhang mit der Reform des AÜG: ab 01.01.2018 hätte Heike O. Anspruch auf gleiche Bezahlung wie fest angestellte Kassierer*innen gehabt … Die Mumme GmbH stellt Heike O. statt dessen eine Wiedereinstellung zum 02.04.2018 und erneute Beschäftigung als Kassiererin bei real in Aussicht – ohne Anspruch auf equal pay. Eine Beschäftigung für die Zwischenzeit konnte die Mumme GmbH angeblich nicht finden.«

Das ist schon eine dreiste Nummer – das Entleihunternehmen, in diesem Fall real – will die Leiharbeiter dauerhaft beschäftigen, ihnen aber nicht den zustehenden Lohn nach neun Monaten zahlen. Also kegelt man die aus dem Unternehmen, bietet zugleich aber an, sie nach der „Karenzzeit“ von drei Monaten wieder zu beschäftigen, „selbstverständlich“ ohne equal pay. Und das Verleihunternehmen möchte da gerne mitmachen, aber für die drei Monate Zwangspause „natürlich“ nicht zahlen. Man könnte bilanzieren: Ein Fall wie aus dem Lehrbuch für Umgehungsstrategien.

Aber die Betroffene Heike O. hat sich gewehrt und ist vors Gericht gezogen. Jessica Reisner zitiert in ihrem Artikel die Argumentation des Anwalts der Klägerin,  Daniel Labrow, nach der eine fehlende Einsatzmöglichkeit für drei Monate und einem Tag nicht ausreichend für eine Kündigung des Personalvermittlers sei:

„Es handelt sich hierbei um einen Präzedenzfall als Resultat der Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG), zu dem bislang offenbar noch kein Urteil ergangen ist. Dieses Urteil ist für alle über einen längeren Zeitraum bei einem Entleiher eingesetzten Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter bedeutsam, die zur Vermeidung des bei einem mehr als neunmonatigen Einsatz bei einem Entleiher gem. § 8 Abs. 4 AÜG entstehenden Anspruchs auf die gleiche Bezahlung wie die Stammbelegschaft oder mit der Begründung, dass für wenige Monate keine Einsatzmöglichkeit bestehe, gekündigt worden sind.“

Und das Arbeitsgericht hat sich dem angeschlossen. Die Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Mönchengladbach bringt schon in der Überschrift den zentralen Punkt zum Ausdruck: „Die Kündigung einer Leiharbeitnehmerin ist nicht schon dann gerechtfertigt, wenn der dauerhafte Einsatz beim Kunden auf dessen Wunsch für drei Monate und einen Tag unterbrochen wird, obwohl ein Beschäftigungsbedarf durchgehend besteht“. Die Begründung des Gerichts für die Entscheidung:

»Der Arbeitgeber habe nicht dargelegt, dass die Beschäftigungsmöglichkeit für die Klägerin für einen hinreichend langen Zeitraum fortgefallen sei. Die fehlende Einsatzmöglichkeit für drei Monate und einem Tag sei insoweit nicht ausreichend. Es sei Sinn und Zweck des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, dem Einsatz von Leiharbeitnehmern zur Erledigung von Daueraufgaben entgegenzuwirken. Dadurch, dass die Beklagte fast ausschließlich für das eine Einzelhandelsunternehmen tätig sei, würde die Geltung des Kündigungsschutzgesetzes praktisch aufgehoben, wenn allein die fehlende Einsatzmöglichkeit zur Rechtfertigung der Kündigung ausreichen würde. In einem solchen Fall sei auch der Grund für die fehlende Einsatzmöglichkeit zu berücksichtigen.«

Das ist deutlich. Und wenn das Bestand hat, dann wird das enorme Folgen mit sich bringen. Dazu Jessica Reisner: »Die Metro AG, zu der die Einzelhandelskette real Group Holding GbmH gehört, dürfte das Urteil genauso aufschrecken wie Leiharbeitsfirmen, die die Regelungen des AÜG systematisch unterlaufen und darauf vertrauen, dass kein Leiharbeiter klagt. Denn betroffen dürften zig Tausend Leiharbeitnehmer sein, die um ihren nach 9 Monaten im gleichen Betrieb erworbenen Anspruch auf gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit geprellt werden.«