In diesen Tagen wird man im Kontext der merkwürdigen Debatte über eine „Abschaffung von Hartz IV“ (vgl. dazu beispielsweise Die abgehobene und letztendlich verlogene Hartz IV-Debatte vom 8. April 2018) immer wieder auf die Vision eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ angesprochen, mit dem man dann doch das bestehende Grundsicherungssystem ablösen könne. Unabhängig von der eigenen Positionierung bei der Frage, wie man zu der grundsätzlichen Idee bis hin zu einer möglichen (?) Umsetzung steht, wurde man gleichzeitig mit solchen Meldungen konfrontiert: Finnland stellt bedingungsloses Grundeinkommen für Arbeitslose ein: »Fans des bedingungslosen Grundeinkommens hatten große Hoffnung in den Versuch gesetzt. Doch nun lässt die Regierung das Experiment auslaufen«, berichtet Jakob Schulz in seinem Artikel. Der Beitrag bezieht sich sich auf diese Meldung aus dem britischen „Guardian“: Finland to end basic income trial after two years: »Government rejects request for funds to expand scheme and plans stricter benefits rules.« Nun wird der eine oder andere schon an dieser Stelle die Stirn runzeln und sich fragen – „stricter benefits rules“? Was hat das noch mit der Bedingungslosigkeit beim Grundeinkommen zu tun, die ja der entscheidende Unterschied ist zu allen anderen heute dominierenden Formen einer eben nicht-bedingungslosen Absicherung?
Um was genau geht es hier? Seit Januar 2017 bekommen 2.000 zufällig ausgewählte Arbeitslose zwischen 25 und 58 ein monatliches Grundeinkommen von 560 Euro erhalten. Die Zahlung ist bedingungslos, die Empfänger müssen keine Jobs suchen oder Jobangebote annehmen. Wer einen Arbeitsplatz findet, bekommt die Summe trotzdem weiter.
Nun muss man gerade im Lichte der aktuellen Debatte darauf hinweisen, dass das „Experiment“ von vornherein auf zwei Jahre bis Ende 2018 begrenzt war. Am Ende des Jahres 2018 soll – und wird – es auslaufen. Insofern sind die Meldungen, Finnland würde den Versuch „abbrechen“ oder gar Finland is killing its experiment with basic income nicht korrekt, denn die zeitliche Begrenzung war so geplant und das ist immer auch so kommuniziert worden. Die Irritationen lassen sich vielleicht dadurch erklären, dass es aus den Reihen der Forscher, die das Projekt begleiten, Forderungen gab und gibt, den Versuch a) zu verlängern und zugleich b) auszuweiten, um die möglichen Erkenntnisse zu vergrößern.
So zitiert Jon Henley in seinem Artikel einen der an dem Versuch beteiligten Forscher, Olli Kangas:
“Two years is too short a period to be able to draw extensive conclusions from such a big experiment. We should have had extra time and more money to achieve reliable results.”
Diesen Aspekt hat auch Reinhard Wolff in seinem Artikel Etwas mehr Geduld, bitte aufgegriffen: »Beim Forschungsinstitut der Sozialversicherungsbehörde Kela, wo Kangas und sein Team verschiedene Modelle für einen solchen Versuch ausgearbeitet hatten, hatte man aber, wenn schon nicht auf eine unmittelbare Fortsetzung, so doch auf eine Perspektive gehofft, wie es danach weitergehen könnte. „Aber der Eifer der Regierung ist verflogen“, konstatierte Kangas … Dem Wunsch von Kela, zusätzliche Mittel bereitzustellen, habe die Regierung nicht entsprochen.« Auch wenn es positiv sei, dass der Versuch überhaupt stattfinde, könnten seine Begrenzungen und die mangelhafte Vorbereitung „das experimentelle Design zerstören“, hatte Kangas in einem Interview mit dem finnischen Rundfunk schon im Januar die Regierung kritisiert, berichtet Wolff. „Wenn man wirklich wissen will, wie das Grundeinkommen funktioniert, muss man genügend Ressourcen bereitstellen“, wird Kangas zitiert. Eine Begrenzung auf zwei Jahre werde die Teilnehmer nicht wirklich dazu veranlassen, grundlegende Weichenstellungen über ihr weiteres Leben zu treffen. Andere Erfahrungen aus dem Ausland zeigten, „dass Veränderungen erst im zweiten und dritten Jahr beginnen“: „Dann wagen es die Teilnehmer nämlich, ihr Leben radikaler zu verändern als zuvor, zum Beispiel durch Ausbildung für einen neuen Beruf.“
»Schon als die Kela-Experten das erste Forschungsdesign entwarfen, schwebte ihnen Größeres vor. Im aktuellen Experiment bekommen nur 2000 Arbeitslose das Grundeinkommen. Kangas und seine Kollegen wollten Vergleichsgruppen einbeziehen, etwa Selbstständige und Angestellte, insgesamt 10.000 Personen, über einen längeren Zeitraum. Doch die Regierung schreckte vor den hohen Kosten zurück und brachte stattdessen eine deutlich abgespeckte Variante an den Start«, berichtet Kristina Antonia Schäfer in ihrem Artikel Studienleiter: Experiment zum Grundeinkommen nicht gescheitert.
Bereits vor dem Beginn des Modellversuchs in Finnland wurde hier am 8. Dezember 2015 dieser Beitrag veröffentlicht – mit einigen kritischen Anmerkungen zu dem Design des Modellversuchs: Das bedingungslose Grundeinkommen könnte kommen – möglicherweise, in Finnland. Und dann erst einmal als „experimentelles Pilotprojekt“. So wurde damals im Vorfeld noch von einem möglichen Grundeinkommen in Höhe von 800 Euro für jeden Erwachsenen gesprochen (aus denen dann später die 560 Euro für eine überschaubare Versuchsgruppe geworden sind). Und auch die Größe der Versuchsgruppe war damals noch ambitionierte: So wurde Ohto Kanninen vom Tank research centre zitiert mit der Option »testing the idea by paying 8,000 people from low income groups four different monthly amounts, perhaps from €400 to €700.«
Und einige Monate später, am 9. Oktober 2016, habe ich hier diesen Beitrag veröffentlicht: Experimente an Lebenden mit kleiner Dosis. In Finnland und den Niederlanden geht es um ein bedingungsloses Grundeinkommen light und Sozialhilfe-Laborversuche. Darin findet man diese kritischen Anmerkungen zum letztendlich beschlossenen Ansatz in Finnland:
➔ Man muss »berücksichtigen, dass der Betrag von 560 Euro so niedrig ist, dass man davon in Finnland nicht komfortabel leben kann, mithin also von dieser Seite von vornherein wieder ein Zwang zur Arbeit eingebaut ist, der den Idealisten unter dem großen und sehr breiten Dach dessen, was als „bedingungsloses Grundeinkommen“ tituliert wird …, sicher nicht gefallen kann und wird.«
➔ »Weitere Restriktion im Design des geplanten Experiments: Nur Arbeitslose sollen das Geld erhalten, die ohnehin auf staatliche Hilfe angewiesen sind.«
➔ »Man könnte … die These in den Raum stellen, dass das alles nicht oder wenn, dann nur marginal mit dem zu tun hat, worum es bei einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ eigentlich geht oder gehen sollte und dass die beobachtbare Verengung auf die Prüfung einer Komponente, nämlich die Wirkungen auf die Erwerbsarbeitsanreize, zu einer Fehlwahrnehmung des Konzepts an sich beitragen wird.«
Als eben nicht nur methodisch kritisches Fazit kann man festhalten, dass es sich eben nicht wirklich um ein Experiment das bedingungslose Grundeinkommen betreffend handelt, denn das würden ja alle und eben nicht nur die Arbeitslosen bekommen (müssen) und dann auch nicht auf (nur) zwei Jahre befristet – ein Problem, das jetzt angesichts des bevorstehenden (und geplanten) Endes des befristeten Modellversuchs wieder thematisiert wird.
Und das Jahr 2018 begann am 1. Januar in diesem Blog mit dem hier überaus relevanten Beitrag Alle Welt schaut auf Finnland und das (angebliche) Experiment mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Kaum einer auf die anderen Arbeitslosen. Dort wurde der bereits herausgearbeiteten Befund, dass es sich aufgrund grundsätzlicher Konstruktionsprobleme nicht wirklich um ein Experiment im klassischen Sinne handelt, erneut aufgegriffen und erweitert. Die dort entwickelte Kritik hat hervorgehoben, »dass ein richtiges Experiment anders aufgebaut sein müsste, also neben einer Versuchs- auch eine ordentliche Kontrollgruppe enthalten müsste und das man dann nicht während der Laufzeit des Experiments gewichtige Rahmenbedingungen für eine der beiden Gruppen verändern darf.« Genau das aber ist passiert, worauf auch Jon Hanley in seinem aktuellen Artikel berichtet, denn die Regierung in Finnland »has also introduced legislation making some benefits for unemployed people contingent on taking training or working at least 18 hours in three months.« “The government is making changes taking the system away from basic income,” so wird Miska Simanainen von der finnischen Sozialversicherung Kela zitiert.
Dazu in meinem Beitrag vom 1. Januar 2018: Ausgehend von den 2.000 Arbeitslosen als Teilnehmer des Modellversuchs muss man die restlichen 190.000 Arbeitslosen bedenken, die von diesem Versuch nicht erfasst werden und die als „Kontrollgruppe“ fungieren. Denn bei denen sind dagegen von Beginn dieses Jahres an die Bedingungen für den Leistungsbezug deutlich verschärft worden.
Die neue Regelung verlangt von allen Arbeitslosen, dass sie binnen einer Dreimonatsperiode jeweils eine Beschäftigungszeit von mindestens 18 Stunden, ein Einkommen aus selbständiger Arbeit von wenigstens 241 Euro oder die Teilnahme an einem einwöchigen Weiterbildungsprogramm nachweisen müssen. Falls sie das nicht können, werden ihnen die Leistungen für das folgende Vierteljahr um jeweils 4,65 Prozent gekürzt.
Und nicht genug, dass die Rahmenbedingungen geändert werden während der Modellversuch schon läuft – offensichtlich wird die Verschärfung der Bezugsbedingungen für die Arbeitslosenunterstützung auch noch mit expliziter Bezugnahme auf das seit einem Jahr laufende Experiment mit dem bedingungslosen Grundeinkommen light begründet: »Nun soll die Auswirkung auf die Beschäftigung durch das Grundeinkommen-Experiment mit den Resultaten des „Aktivierungsmodells“ verglichen werden«, so Reinhard Wolff in seinem Artikel Finnlands Arbeitslosengeldreformen: Die Kehrseite des Grundeinkommens.
Das alles wird die Aussagefähigkeit des – vorher bereits aus den angesprochenen methodischen Gründen mehr als fragwürdigen – „Experiments“ in Finnland erheblich beschädigen.
Nach diesem Ausflug in die Mühen und Bemühungen des Ausprobierens in Finnland wieder zurück nach Deutschland. Auch bei uns tobt die Diskussion über das Pro und Contra eines „bedingungslosen Grundeinkommens“. Dabei kann man immer wieder beobachten, dass gerade aus den Reihen der Gewerkschaften bzw. gewerkschaftsnaher Wissenschaftler teilweise massive Kritik an dem Ansatz vorgetragen wird. Nur eine Auswahl aus den neueren Veröffentlichungen dazu:
➔ Christina Tönshoff, Ruth Brandherm und Robert Philipps (2017): (K)ein Bedingungsloses Grundeinkommen, bitte! Lehren aus der Debatte um den Sozialstaat der Zukunft. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017
➔ Gerhard Bäcker (2017): Grundeinkommen: besinnungslos bedingungslos? IAQ-Standpunkt 2017-03, Duisburg: Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ), 2017
➔ Verdi Bundesvorstand (2017): Bedingungsloses Grundeinkommen. Risiken und Nebenwirkungen einer wohlklingenden Idee, Berlin, Dezember 2017
Nun hat sich auch die größte Industriegewerkschaft der Welt, die IG Metall, zu dem Thema zu Wort gemeldet mit dieser Veröffentlichung:
➔ Tanja Smolenski, Katrin Mohr, Silke Bothfeld (2018): Bedingungsloses Grundeinkommen. Gegenmodell zum Sozialstaat 4.0. Arbeitspapier 4/2018, Frankfurt: IG Metall-Vorstand, FB Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik, 2018
Ausgangspunkt der Positionierung der IG Metall ist diese Diagnose: »Die aktuelle Debatte um eine erreichbare Alternative zur kapitalistischen Erwerbsarbeit mündet rechts wie links häufig in Vorschlägen zum bedingungslosen Grundeinkommen: ein Einkommen für jede und jeden, das an keine Bedingung geknüpft ist und das der Höhe nach einen Grundstock zum Leben bietet«, so Tanja Smolenski, Leiterin des Funktionsbereichs Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik des IG Metall-Vorstands. Ein Gedanke, der viele Menschen fasziniert. Und die Faszination muss man auch vor diesem Hintergrund des Bestehenden sehen und einordnen:
»Bisher wird in Deutschland die soziale Sicherheit entlang der Erwerbstätigkeit organisiert. Soziale Sicherheit folgt in fast allen Bereichen der Höhe des Einkommens und der Dauer der Erwerbstätigkeit. Diese Grundlogik hängt aufs Engste mit unserer Tarifpolitik und unseren gewerkschaftlichen Errungenschaften zusammen. So wird auch der Leistungsgedanke (der sich im Entgeltsystem niederschlägt) in die Systeme der sozialen Sicherung übertragen. Tritt der Notfall ein, greifen uns die Systeme der sozialen Absicherung unter die Arme – und versagen dabei immer häufiger. Warum das so ist? Weil Arbeitsformen, Einkommen und Lebensläufe sich schneller verändern als die Sozialversicherungen. Je größer die Unstimmigkeiten werden, desto lauter wird die Kritik am gesamten System. Und je düsterer die Perspektiven sind, desto radikaler wird die Debatte.«
Aber diesen Weg der „Radikalisierung“ will die IG Metall ganz offensichtlich nicht mitgehen. Die Ablehnung bewegt sich dabei zwischen zwei Polen. Zum einen: »Das Grundeinkommen ist so attraktiv für viele, weil es auch die bedenkt, die jenseits des klassischen Erwerbsverlaufs leben und arbeiten. Außerdem scheint es besonders attraktiv zu sein für alle, die die Vorhersagen zur Beschäftigungsentwicklung (Digitalisierungs- und Folgen der Dekarbonisierung) ängstlich und unsicher machen.« Aber eben auch: »Es kommt aber auch all denjenigen entgegen, die schon lange einen Abbau des Sozialstaates fordern.«
Die IG Metall kommt zu diesem Fazit, dessen Herleitung man in dem Arbeitspapier nachlesen kann:
»Die vermeintlich einfache Lösung führt in die Irre. Die Verfechterinnen und Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens gehen von falschen Annahmen über (die Zukunft der) Arbeit aus. Das bedingungslose Grundeinkommen bringt den meisten Menschen nicht mehr soziale Sicherheit, sondern weniger. Es hebt gesellschaftliche Spaltungen nicht auf, sondern verstärkt sie. Es bedroht Löhne, Standards am Arbeitsmarkt und die Grundlagen gewerkschaftlicher Handlungsmacht. Zudem ist das Konzept keine realistische Perspektive, denn es geht an den Gerechtigkeitsvorstellungen des Großteils der Bevölkerung vorbei und erfordert eine gigantische, politisch völlig unrealistische Umverteilung. Das bedingungslose Grundeinkommen kann deshalb für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter kein positiver Bezugspunkt in der Auseinandersetzung um die Zukunft des Sozialstaats sein.«
Nun werden viele Befürworter des Ansatzes eines bedingungslosen Grundeinkommens argumentieren, dass die Ablehnung des Konzeptes durch die Gewerkschaften bzw. deren Vertreter nicht wirklich überraschend daherkommt, denn sie selbst sind ja integraler Bestandteil des Systems der Erwerbsarbeit und haben mithin ein basales Interesse an der Aufrechterhaltung und Bestandssicherung des Systems als solches.
Und andere werden einwenden, man kann ja mit durchaus gewichtigen Argumenten die Vision eines bedingungslosen Grundeinkommens verwerfen, aber was ist denn die Alternative? Denn offensichtlich funktioniert das gewachsene System sozialer Sicherung immer weniger, was die IG Metall selbst konstatiert.
Die präsentierte Antwort auf diese Frage wird mit dem Terminus „Sozialstaat 4.0“ umschrieben. Dazu bereits aus dem Jahr 2015 dieser Beitrag von Jörg Hoffmann und Tanja Smolenski: Sozialstaat 4.0 –Tarifbindung und Arbeitszeit entscheiden. In dem neuen Arbeitspapier der IG Metall erfahren wir dazu:
»Nicht der Status quo wird abgesichert, sondern das, was im Laufe des Lebens geschehen könnte. Dabei werden neue Fälle und Situationen aufgegriffen – und neue Lösungswege beschritten. Nicht die Frage, wie jemand möglichst gut versorgt aus dem Arbeitsmarkt entlassen werden kann, steht im Mittelpunkt, sondern die Frage, wie jemand möglichst gesund bleibt, um die Erwerbstätigkeit fortzusetzen … Bedarfsgerechtigkeit gewinnt in dieser Betrachtung eine neue, qualitative Dimension, die immer nur umgesetzt werden kann, wenn der Einzelne Mitsprache erhält. Das kann tarifvertraglich oder gesetzlich verankert werden.«
Der sicher entscheidende und vor dem gewerkschaftlichen Hintergrund ja auch nicht unverständliche Kernbereich ist die – von vielen Apologeten des bedingungslosen Grundeinkommens sicher abweichende – Philosophie, dass auch in Zukunft die Erwerbsarbeit das zentrale Element in den Biografien der Menschen darstellen wird – aber anders als in der Vergangenheit erweitert um den Blick auf zahlreiche abweichende Konstellationen:
»Grundsätzliche Zielperspektive muss die möglichst durchgängige Erwerbsbiografie aller Beschäftigten sein. Dazu müssen auch Phasen, in denen andere gesellschaftlich notwendige Arbeit verrichtet oder an der Erlangung und Erhaltung von Qualifikationen gearbeitet wird, gesetzlich und tariflich besser abgesichert werden.«
Und die IG Metall kann durchaus – auf dem Papier, weil man natürlich genau hinschauen müsste, ob und wie das dann auch umgesetzt wird – darauf verweisen, dass sie selbst mit ihrer neuen Tarifpolitik versucht, den Ansatz auch praktisch auszuformen:
»Die Tarifverträge zur Weiterbildung und Qualifizierung, die wir in einigen Tarifgebieten der Metall- und Elektroindustrie abgeschlossen haben, sind ein Meilenstein auf dem Weg dorthin. In der jüngsten Tarifrunde haben wir einen neuen Einstieg in die Arbeitszeitverkürzung und die Unterstützung besserer Vereinbarkeit von Arbeit und Familie geschafft.«
Und auch die sozialen Sicherungssysteme und ihre (Nicht-)Funktionalität werden im Kontext der gewerkschaftlichen Kernaufgabe gesehen: »Die beste Unterstützung für erfolgreiche Lohnverhandlungen sind außerdem gute Lohnersatzleistungen, und keine Sicherungssysteme, deren Leistungen einen Zustand erzeugen, der nur unwesentlich besser als die blanke Armut ist … Die Absicherung bei Arbeitslosigkeit muss zuverlässig und belastbar sein und kein Notnagel, der die Konzessionsbereitschaft der Arbeitslosen drückt und sie dazu zwingt, niedrige Löhne oder gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen hinzunehmen.«
Und der Sozialstaat 4.0 sollte das Gegenteil sein eines Staat der Grundsicherung: »Ein wirksamer Sozialstaat muss es sich leisten können, Grundstrukturen sozialer Sicherung und Dienstleistungen bereitzustellen, die zum Lebensstandard einer Mittelschichtsgesellschaft passen. Er muss mehr sein als ein Mindestsicherungsstaat. Hierfür sind mehr staatliche Unterstützung und öffentliche Investitionen gefragt, nicht ein weniger oder nur ein bisschen mehr. Ziel muss gleichzeitig eine inklusive Vorstellung von Sozial- staatlichkeit bleiben, die es auch ihren schwächeren Mitgliedern ermöglicht, zum Durch- schnitt aufzuschließen, indem nicht nur Chancen eröffnet, sondern auch substanzielle Dienstleistungen bereitgestellt werden.«
Die grundlegende Philosophie der unterstellten Fortexistenz einer zentral um die Erwerbsarbeit kreisenden Gesellschaft wird auch an dem folgenden Passus erkennbar – und mit konkreten Weiterentwicklungsforderungen verknüpft:
»Auch in Zukunft wird Erwerbsarbeit der Kern sozialer Identitäten und der zentrale Platzanweiser in unserer Gesellschaft bleiben. Die Digitalisierung wird die Arbeit zwar tief greifend verändern, aber aller Voraussicht nach nicht dazu führen, dass Arbeitsplätze in großem Stil vernichtet werden. Für gute Chancen am Arbeitsmarkt wird es zentral auf gute Qualifikationen, lebenslange Weiterbildung und in manchen Fällen auch auf die Möglichkeit zur beruflichen Neuorientierung ankommen.
Statt vermeintlich überflüssige Arbeitskräfte durch ein bedingungsloses Grundeinkommen zu versorgen und damit die Verschärfung sozialer Ungleichheit zu riskieren, brauchen wir daher massive Anstrengungen in der Bildung und Weiterbildung. Das Schulsystem muss so aufgestellt werden, dass auch Kinder aus ärmeren oder bildungsferneren Schichten Chancen auf eine gute Ausbildung und eine berufliche Perspektive haben. Weiterbildung muss zu einer Selbstverständlichkeit im Arbeitsleben und zu einem öffentlichen Gut werden. Dazu brauchen wir ein Recht auf berufliche Weiterbildung, eine flächendeckende, unabhängige Beratungsinfrastruktur, bezahlte Auszeiten für berufliche Weiterbildung und deutlich mehr Angebote – sowohl seitens der Unternehmen als auch unter dem Dach der Bundesagentur für Arbeit. Deren Arbeitsförderung muss zudem neu ausgerichtet werden: Der Erhalt und Erwerb von Qualifikationen muss Vorrang vor schneller Vermittlung haben und die Zumutbarkeitskriterien müssen den Erhalt von Qualifikationen und des beruflichen Status gewährleisten.«
Soweit an dieser Stelle der Ausflug in die Gedankenwelt der IG Metall mit Blick auf das, was passieren müsste (anstelle eines wie auch immer ausgestalteten „bedingungslosen Grundeinkommens“). Deren Vertreter werden sich daran abarbeiten und ihre Zweifel, vor allem hinsichtlich der Grundannahmen des Modells, vortragen.
Die Debatte geht also weiter – und dabei werden uns die Finnen nicht weiterhelfen, selbst wenn irgendwann einmal die Auswertungen der Wissenschaftler den Ende des Jahres auslaufenden Modellversuch betreffend vorgelegt werden, wobei da noch einige Zeit ins Land gehen wird und muss. Aber derzeit, das lässt sich erkennen und behaupten, ist die Zeit nicht reif für eine derart fundamentale Veränderung, wie sie mit einem bedingungslosen Grundeinkommen verbunden wäre. Da müssten die Vertreter des Ansatzes noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Aber auch die eher graduellen, manche würden sagen „klassisch“ angelegten Reformperspektiven der IG Metall einen Sozialstaat 4.0 betreffend, erscheinen gegenwärtig vor dem Hintergrund der massiven Angriffe auf Teilbereiche der gegebenen sozialen Sicherung und der faktischen Abkoppelung eines Teils der Menschen von den Segnungen des bisherigen Sozialstaatsmodells schon an sich visionär und müssen hinsichtlich ihrer Realisierungswahrscheinlichkeit mit einem großen Fragezeichen versehen werden.
Gerne würde ich hier anderes schreiben wollen.