Es ist in diesen Wochen wirklich nicht einfach für die Politik. Auf der einen Seite hat sie – das muss man auch mal sagen – am Anfang der Corona-Krise wirklich schnell Hilfsmaßnahmen auf den Weg gebracht, gigantische Rettungsprogramme aufgelegt und die Ausrichtung des Gesundheitswesens, vor allem der Krankenhäuser, auf eine erwartete Vielzahl an COVID-19-Patienten auch finanziell zu stützen versucht innerhalb eines auf betriebswirtschaftliche Effizienz getrimmten und für solche Sondersituationen nun überhaupt nicht geeigneten Fallpauschalensystems. Und wo man der Schnelligkeit halber große Schneisen in den Wald schlägt, da kann es nicht ausbleiben, dass es zahlreiche umbeackerte Teile gibt und einige hinten runtergefallen sind. Die sich dann natürlich zu Wort melden und auch gerettet oder wenigstens ein wenig aufgefangen werden möchten. Und auch viele von denen, die durchaus ein paar Monate durchhalten können, wollen an die große Wassertränke der staatlichen Mittel.
Mein derzeitiges Prachtstück aus der Kuriositätenkammer der Subventionssuchenden ist das deutsche Bestattungswesen: »Auch die deutschen Sarghersteller fordern Geld vom Staat«, kann man dieser Meldung entnehmen: Deutsches Bestattungsgewerbe fordert Staatshilfe. Hoppla, wird da selbst der gutmütigste Rettungsapostel ausrufen: Gestorben wird immer, die Zahl der Todesfälle geht doch nicht wegen Corona zurück, eher das Gegenteil wird immer wieder behauptet (vgl. für die Zahlenfetischisten dazu die vom Statistischen Bundesamt zur Verfügung gestellte und laufend aktualisierte Sonderauswertung zu Sterbefallzahlen des Jahres 2020). So ist das. Aber die Meldung klärt uns sogleich auf über die Intentionen der Bestatter: »Ihr Geschäft leidet zwar gar nicht unter der Coronakrise – aber sie ärgert der lästige Wettbewerb mit Firmen aus Osteuropa.«
Klar, wenn die Politik schon mal dabei ist, in einem für Normalsterbliche unglaublichen Volumen Geldbeträge zur Rettung vor diesem und jenen aufzulegen und zu verteilen, da kann man ja auch mal versuchen, auf den an Fahrt gewinnenden Zug aufzuspringen und etwas von der wertvollen Fracht abzugreifen.
Vor dem Hintergrund der Vielzahl an Begehrlichkeiten und auch äußerst fragwürdigen bevorstehenden (?) milliardenschweren Subventionspaketen (man denke hier an die aus den Reihen der Automobilindustrie geforderten steuerfinanzierten Kaufprämien als Absatzankurbelungsprogramm für VW & Co., das auf einem eigenen „Auto-Gipfel“ bei der Kanzlerin bereits vorbesprochen und dem eine wohl vor allem politpsychologischen Wartefrist bis Anfang Juni verordnet wurde), spricht für die Politik eine Menge dafür
➔ zum einen weitere und ausufernde Subventionswünsche mit großer Vorsicht und notwendiger Distanz zu behandeln bzw. abzublocken und
➔ die Mittel zu fokussieren auf die Bereiche, die wirklich in existenzbedrohender Not sind und denen durch die staatlichen Maßnahmen beide Füße weggezogen worden sind (man denke hier an weite Teile der Gastronomie oder die vielen Solo-Selbstständigen, die in den personenbezogenen Dienstleistungen unterwegs sind oder waren).
Zugleich sollte man meinen, dass die immer begrenzten Mittel vor allem auf die ausgerichtet werden, die sich ganz unten befinden und bei denen die Not am größten ist. Sollte man meinen.
Vom Sozialschutz-Paket zum Sozialschutz-Pakt II
Mit dem Sozialschutz-Paket (Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 27. März 2020) wurden Sofortmaßnahmen ergriffen, um den gravierenden negativen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in einem ersten Schritt schnell zu begegnen. Kernelemente des ersten Pakets sind erleichterte Voraussetzungen für den Zugang zum Kurzarbeitergeld sowie zu den Grundsicherungssystemen und eine Bestandssicherung für soziale Dienstleister.
Nun soll nachgelegt bzw. nachgesteuert werden: Mit dem „Sozialschutz-Paket II“ soll der Rettungs- und Schutzschirm des Sozialschutz-Paketes für die Betroffenen weiter und vor allem über einen längeren Zeitraum gespannt werden. Dazu liegt ein Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) vor (Bundestags-Drucksache 19/18966 vom 05.05.2020) – sowie insgesamt vier Anträge der Grünen und Linken, in denen vor allem zum Kurzarbeitergeld sowie hinsichtlich eines weitergehenden sozialen Schutzes vor allem für einkommensschwache Haushalte eigene Vorschläge unterbreitet werden. In diesem Beitrag soll es um eine besonders auffällige Leerstelle im vorliegenden Gesetzentwurf der Koalitionsparteien gehen: für die Menschen in Armutslagen ist nichts drin im neuen Sozialschutz-Paket bzw. das, was man hier als Ersatzlösung anbietet, wird sich als Luftbuchung erweisen.
Abgesenkte Hürden beim Zugang in das Grundsicherungssystem für die Neuen, nichts für die anderen
Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass eine bedeutsame Leistung des Sozialschutz-Pakets I darin bestand, mit Blick auf die vielen durch den plötzlichen Shutdown mit existenziellen Problemen konfrontierten Solo- und Kleinstselbstständigen die Zugangshürden in die bestehende Grundsicherung, also in das Hartz IV-System, abzusenken. Vgl. dazu den Beitrag Hartz IV als temporärer Rettungsanker für die in ihrer Existenz bedrohten Coronavirus-Krisenopfer? Und was für (andere) einkommensschwache Haushalte getan werden könnte bzw. müsste vom 23. März 2020. Man hat für den den Zeitraum vom 1. April bis zum 30. September 2020 befristete Sonderregelungen das SGB II betreffend auf den Weg gebracht, um die Absenkung der Zugangshürden praktisch umzusetzen:
➞ Für alle Anträge auf SGB II-Leistungen, die in dem genannten Zeitraum gestellt werden, soll für einen Zeitraum von 6 Monaten ab der Antragstellung keine Vermögensprüfung stattfinden.*
➞ Die Angemessenheit der Aufwendungen für Kosten der Unterkunft soll befristet außer Kraft gesetzt und generell unterstellt werden. Deshalb sollen für die Dauer von sechs Monaten pauschal für alle Neuantragsteller deren Unterkunftskosten als angemessen anerkannt werden und auch keine weitere Prüfung erfolgen (müssen), ob dem so ist.**
➞ Für die Dauer von sechs Monaten erfolgt eine unkomplizierte vorläufige Bewilligung von Leistungen unter Berücksichtigung des von der leistungsberechtigten Person prognostizierten Einkommens.
➞ Die Bundesregierung kann dieses Zeitfenster per Verordnung noch bis Ende 2020 verlängern, wenn sie dafür Bedarf sieht.
*) Die Regelung soll sicherstellen, dass die durch die Coronakrise wirtschaftlich besonders Betroffenen angesichts des nur vorübergehenden Bezugs von Grundsicherungsleistungen nicht zunächst ihre Ersparnisse aufbrauchen müssen. Außerdem soll es so schneller Leistungen geben, weil nicht erst die Vermögensverhältnisse aufwändig geprüft werden müssen. Allerdings muss man wie immer im Leben genau hinschauen: Gesetzliche Grundlage ist der neu gefasst § 67 SGB II. Dort heißt es im Absatz 2 scheinbar eindeutig: »Abweichend von den §§ 9, 12 und 19 Absatz 3 wird Vermögen für die Dauer von sechs Monaten nicht berücksichtigt.« Aber man sollte weiterlesen: »Satz 1 gilt nicht, wenn das Vermögen erheblich ist; es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.« Alles klar? Die Grundintention ist klar: Existenzbedrohte Selbständige können in der Coronakrise leichter Geld von den Jobcentern bekommen. Aber: Wer offenbar Vermögen zu verbergen hat, profitiert von der Neuregelung nicht, so Martin Keller in seinem Beitrag Corona bietet kein Schlupfloch für versteckte Ersparnisse mit Bezug auf eine Entscheidung des Landessozialgerichts München (Beschl. v. 20.4.2020, Az. L 16 AS 170/20 B ER). Das Problem liegt in der Formulierung „erhebliches“ Vermögen. Wie immer wirft so ein unbestimmter Rechtsbegriff juristische Fragen auf; die Schwelle zur Erheblichkeit ist auch nicht legaldefiniert.
**) Man muss diese Regelung für die Neuantragsteller auch vor dem Hintergrund sehen und einordnen, dass im bestehenden Hartz IV-System den Leistungsempfängern erhebliche Beträge aus den Regelleistungen entzogen werden, weil ein Teil ihrer Unterkunftskosten als „nicht angemessen“ bewertet wird, so dass die KdU-Leistungen nach oben gedeckelt sind, die Differenzbeträge sind von den Grundsicherungsempfängern aus eigener Tasche zu finanzieren – wir reden hier bundesweit über mehr als 600 Mio. Euro ungedeckter Unterkunftskosten.
Nun gibt es seit Beginn der Krise den Hinweis und die Forderung, dass man den Menschen, die schon teilweise seit vielen Jahren in der Grundsicherung sind, angesichts der umfassenden Beschränkungen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens mit einer zusätzlichen Leistung unter die Arme greifen sollte. Für viele Betroffene haben sich unmittelbar mit dem Shutdown massive Probleme ergeben, so hatten beispielsweise viele Tafeln ihren Betrieb eingestellt.
Bereits am 22. März 2020 hatte sich – aufgepasst – die FDP-Bundestagsfraktion zu Wort gemeldet und über Twitter diese Forderung aufgestellt:
#HartzIV-Empfänger/innen sind von #COVID-19 besonders betroffen, u.a. weil Tafeln ud günstige Geschäfte schleißen & das Schulessen wegfällt. Wir fordern daher eine temporäre Erhöhung der #Grundsicherung um 15 Prozent (20 Prozent für Alleinerziehende)! #Mehrbedarf #Coronoakrise
Die Forderung der FDP würde bedeuten, dass die Hartz IV-Bezieher monatlich mindestens 64,80 Euro, bei 20 Prozent Zuschlag 86,40 Euro mehr erhalten würden.
Und in meinem Beitrag vom 23. März 2020 hatte ich eine darüber hinausgehende Forderung des Erwerbslosen- und Sozialhilfevereins Tacheles zitiert, die am 21.03.2020 Vorschläge zum Umgang mit der Corona-Krise für einkommensschwache Haushalte vorgelegt hatten (am 26. April 2020 wurde eine 2. Version veröffentlicht).
Neben einer „Corona-Einmalzahlung“ für SGB II-, SGB XII-, AsylG-, KIZ-, WoGG- und geringverdienen Haushalte in Höhe von 500 Euro/250 Euro wurde ein „Corona-Zuschlag“ im Sinne einer temporären Erhöhung der SGB II-, SGB XII-, AsylbLG-Regelbedarfe in Höhe von 100 Euro monatlich gefordert. Die (damalige) Begründung für diese befristete Anhebung der Regelbedarfe: »Damit sollen Mehrkosten für gesundes, vitaminreiches und ausgewogenes Essen abgefedert werden. Dies ist Voraussetzung für die Stärkung des Immunsystems und Schutz vor Krankheiten. Zudem fällt die kostenlose Essensversorgung von Kindern wegen Kita- und Schulschließungen weg. Die Tafeln schließen und die Lebensmittelpreise steigen. Ältere, kranke und behinderte Menschen werden Probleme bei der Beschaffung von Lebensmitteln haben und sich teilweise mit Lebensmitteln beliefern lassen müssen. Dies ist mit erheblichen Mehrkosten verbunden. Ferner soll damit einkommensschwachen Menschen der Risikogruppen die Möglichkeit gegeben werden mit Taxi oder sonstigen Verkehrsmitteln zu Ärzten und Therapeuten zu kommen.«
Ich hatte meinen Beitrag vom 23. März 2020 mit diesen Worten beendet: »Es bleibt zu hoffen, dass die Bundesregierung die konkreten Vorschlag aufgreift und in ihre Gesetzgebung in dieser Woche noch einbaut.«
Das hat sie damals nicht gemacht und auch der vorliegende Gesetzentwurf der Koalitionsparteien enthält zu diesem so wichtigen Punkt nichts.
Dabei ist der Handlungsbedarf offensichtlich: »In der Coronakrise werden viele Lebensmittel teurer. Menschen in Grundsicherung trifft das besonders hart, immer mehr kommen zur Tafel. Doch die Bundesregierung lehnt Hartz-IV-Zuschüsse bisher ab«, so Katharina Koerth in ihrem Beitrag Grundverunsicherung. »Bezieher von Grundsicherungsleistungen wie Hartz IV treffen die Folgen der Pandemie besonders hart: Sie müssen mit wenig Geld auskommen, obwohl viele günstige, haltbare Lebensmittel ausverkauft sind und sich Nahrungsmittel im März so stark verteuert haben wie seit zweieinhalb Jahren nicht mehr … Inzwischen haben auch Gerichte bestätigt, dass Hartz-IV-Empfängern kein Mehrbedarf für den Maskenkauf oder das Anlegen von Lebensmittelvorräten zusteht. Wenn dann noch die ehrenamtliche Unterstützung ausbleibt, kann es eng werden.«
Und die bislang vorliegenden Daten des Statistischen Bundesamtes zur Preisentwicklung, die den April noch gar nicht erfasst haben, verdeutlichen das Problem gerade für die Grundsicherungshaushalte (und darüber hinaus für die vielen im Niedrigeinkommensbereich, die knapp über den Hartz IV-Schwellen liegen):
Vor diesem Hintergrund hat sich Anfang Mai 2020 eine Initiative zahlreicher Verbände und Organisationen gebildet, die unter dem Motto 100 Euro Mehr Sofort. Solidarisch für sozialen Zusammenhalt und gegen die Krise »allen Menschen, die auf existenzsichernde Sozialleistungen angewiesen sind, einen pauschalen Mehrbedarf von 100 Euro monatlich unbürokratisch zukommen zu lassen.«
Und was sagt die Bundesregierung? Dazu Katharina Koerth: »Das Bundesarbeitsministerium teilt auf Anfrage mit, man arbeite daran, „soziale Härten in der Corona-Pandemie abzufedern“ und nennt als Beispiel den beschlossenen einfacheren Zugang zur Grundsicherung und zum Kinderzuschlag sowie eine Lösung, die eine Lieferung von kostenlosen Schulmittagessen ermöglichen soll.« Und die Betroffenen werden auf die Zukunft verwiesen, beispielsweise so: »Die Regelsätze umfassten … mehr als nur Lebensmittel – „bei der Frage, welche Auswirkungen Erhöhungen von Lebensmittelpreisen haben könnten, kann es folglich nur um einen Teilbetrag gehen“. Erhöhte Preise glichen sich normalerweise „zumindest teilweise im Jahresverlauf auch wieder aus“. Man würde beobachten, ob die Preissteigerungen stärker als sonst und dauerhaft seien.« Am ausgestreckten Arm verhungern lassen, so könnte man das zusammenfassen.
Nun gab es am 11. Mai 2020 eine öffentliche Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages (vgl. hierzu Anhörung zum sozialen Schutz während der Corona-Krise sowie die aufschlussreiche Zusammenstellung der schriftlichen Stellungnahmen zu dieser Anhörung von Organisationen und Einzelsachverständigen). Bei dieser Anhörung wurde nicht nur auf das Problem hingewiesen, sondern auch hervorgehoben, dass sowohl die Grünen wie auch die Linken mit eigenen Anträgen hier konkrete Alternativen zum Nichtstun vorgelegt haben: Dazu von den Grünen der Antrag „Mit einem Corona-Aufschlag in der Grundsicherung das Existenzminimum sichern“, Bundestags-Drucksache 19/18705 vom 21.04.2020 sowie von den Linken der Antrag „Sozialen Schutz auch während der COVID-19-Pandemie umfassend gewährleisten“, Bundestags-Drucksache 19/18945 vom 05.05.2020.
Ein Blick auf das, was die Grünen fordern: Als befristete Akutmaßnahme für die Zeit der Corona-Krise sollte daher ein Aufschlag auf die Regelsätze in der Grundsicherung nach den Sozialgesetzbüchern (SBG) II und XII und dem Asylbewerberleistungsgesetz gewährt werden, um existentielle Notlagen zu verhindern und sicherzustellen, dass sich für die Ärmsten die Situation nicht weiter verschärft. Konkret wird
➞ ein monatlicher Zuschlag auf den Regelsatz in der Grundsicherung nach SGB II und XII sowie im Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von 100 Euro monatlich für Erwachsene gefordert. Die Mehrbedarfszuschläge für behinderte, (chronisch) kranke, schwangere und alleinerziehende Menschen werden ebenso anteilig erhöht.
➞ Um den Wegfall verschiedener Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) sowie steigende Kosten etwa für Lebensmittel zu kompensieren, wird ein monatlicher Zuschlag für anspruchsberechtigte Kinder und Jugendliche in Höhe von 60 Euro monatlich gewährt und automatisch ausgezahlt.
Im Antrag „Sozialen Schutz auch während der COVID-19-Pandemie umfassend gewährleisten“ der Linken werden darüber hinausgehende Forderungen aufgestellt: So sollen das Arbeitslosengeld II und alle weiteren Leistungen, die das Existenzminimum absichern sollen (die Hilfe zum Lebensunterhalt, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und die Asylbewerberleistungen) rückwirkend zum 01.03.2020 um 200 Euro pro Person pro Monat erhöht werden. Als zweite Komponente ist vorgesehen: Für schulpflichtige Kinder soll ein einmaliger Zuschuss für Computer und weitere IT-Ausstattung gewährt werden. Der Zuschlag soll 500 Euro betragen und über das Bildungs- und Teilhabepaket gewährt werden, damit er alle Familien erreicht, die ALG II, Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung bei Erwerbsminderung, Wohngeld, Kinderzuschlag und Asylbewerberleistungen beziehen.
Man muss nicht nur vor dem Hintergrund der noch weitergehenden Forderungen der Linken den Vorschlag der Grünen als eine Art „Kompromissangebot“, ein „Entgegenkommen“ an die Koalitionsfraktionen verstehen. Aber auf deren Seite ist weiterhin kein „Entgegenkommen“ zu registrieren, ein dringend erforderlicher wenigstens befristeter Zuschlag für die Grundsicherungsleistungsempfänger wird es wohl nicht geben.
Und wie ist es dann wenigstens mit der in Aussicht gestellten „Lösung, die eine Lieferung von kostenlosen Schulmittagessen ermöglichen soll“?
Das nun ist leider ein weiteres Beispiel für den Versuch, völlig berechtigte Anliegen mit lebensfremden Nicht-Lösungen zu erschlagen, die sich mit Blick auf eine Umsetzung für viele betroffenen Menschen schlichtweg als Luftbuchung erweisen werden.
Das Problem: Für viele Kinder und Jugendliche fallen die bislang in den für sie relevanten Institutionen zur Verfügung gestellten kostenlosen Essen weg, weil die Einrichtungen geschlossen waren (und sind). Hier nun beabsichtigen Union und SPD diese „Lösung“:
»Während der COVID-19-Pandemie sind Schulen, Kindertagesstätten und Kindertagespflege zeitweise geschlossen oder nur für eine Notbetreuung geöffnet. Vielfach steht dort keine gemeinschaftliche Mittagsverpflegung zur Verfügung. Eine warme Mittagsmahlzeit muss anderweitig eingenommen werden. Damit hilfebedürftige Kinder, Schülerinnen und Schüler auch in dieser Situation durch das sogenannte Bildungspaket unterstützt werden, gilt § 28 Absatz 6 in der Zeit vom 1. März 2020 bis 31. Juli 2020 (Ende des Schuljahres) mit der Maßgabe, dass insoweit auf die Tatbestandsmerkmale der Gemeinschaftlichkeit und – bei Schülerinnen und Schülern – auf die schulische Verantwortung oder einen Kooperationsvertrag zwischen Schule und Hort verzichtet wird.« (BT-Drs. 19/18966, S. 36).
In anderen Worten: Wenn es keine gemeinschaftliche Essen mehr geben kann, dann sollen die Essen eben zu den Kindern und Jugendlichen nach Hause kommen, sie sollen individuell beliefert werden. Die geplante Neuregelung sieht vor, dass für leistungsberechtigte Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Aufwendungen für die häusliche Belieferung mit zubereitetem Mittagessen befristet für den Zeitraum vom 1. März 2020 bis 30. Juni 2020 und beschränkt auf Schließtage von Montag bis Freitag anerkannt werden, soweit diese den zuvor für gemeinschaftliches Mittagessen anerkannten Preis je Essen nicht übersteigen. Denn die Kosten immer im Blick heißt es im Gesetzentwurf: Die »Aufwendungen für das gelieferte Mittagessen (werden) nur bis zur Höhe des Preises je Essen anerkannt, der bereits vor der Einrichtungsschließung berücksichtigt wurde.« Im Gesetzentwurf findet man diese aufschlussreiche (Nicht-)Quantifizierung: »Die Kosten im Zusammenhang mit der Mittagsverpflegung sind nicht quantifizierbar. Bei durchschnittlichen Kosten von 5 Euro je Mittagessen ergäben sich Mehrkosten von 3,5 Mio. Euro je 10.000 teilnehmenden Kindern und Jugendlichen.« Mit 5 Euro soll das dargestellt werden? Das ist unrealistisch.
Hier muss man zu dem Ergebnis kommen, dass eine völlig lebensfremde und in der Praxis in die Leere laufende „Lösung“ vorgeschlagen wird. Kinder und Jugendliche, die bisher von einem kostenlosem Mittagessen profitiert haben, werden auf einen in praxi nicht einlösbaren Anspruch verwiesen. Allein die im Gesetzentwurf vorgesehene Restriktion, dass der zuvor für gemeinschaftliches Mittagessen anerkannte Preis je Essen nicht überschritten werden darf, wird eine praktische Umsetzung verhindern, denn natürlich fallen allein aufgrund der Lieferung Zusatzkosten an, die aber nicht gedeckt sein werden. Man wird entweder keine Anbieter finden oder wir bekommen „bestenfalls“ einen extrem infrastrukturabhängigen Flickenteppich mit zahlreichen weißen Flecken der Nicht-Versorgung.
Das ist keine Lösung, das ist eine Zumutung.
Insofern sind solche Reaktionen verständlich: „Armutspolitische Enttäuschung“: Verbände kritisieren Sozialschutzpaket II massiv.
Nun könnte man ja abschließend noch darauf hinweisen, dass das Sozialschutz-Paket II erst im Entwurf vorliegt und nach der öffentlichen Anhörung den weiteren parlamentarischen Gang der Dinge antreten wird, bevor es zu einer endgültigen Verabschiedung kommen wird. In diesem Zusammenhang könnte es doch sein, dass sich bei den Abgeordneten der Regierungsfraktionen christliche Nächstenliebe gepaart mit ur-sozialdemokratischen Solidaritätsempfindungen Bahn brechen und … Ja, es könnte sein. Theoretisch.