Hartz IV-Austria ante portas? Österreich soll am deutschen Hartz IV-Wesen genesen. Für so einen Vorschlag gibt es Fassungslosigkeit und viel Kritik

Deutschland ist bekanntlich eine weltmeisterliche Exportmaschine – und offensichtlich gehen nicht nur Autos der Premiumklasse, Maschinen aus dem Schwabenland, Chemieprodukte für Landwirtschaft und Kriegsführung über den Ladentisch, sondern auch politische Vorlagen. Griechenland muss das gerade erleben – und jetzt werden aus unserem Nachbarland Österreich Importwünsche hinsichtlich eines der in Deutschland selbst umstrittensten sozialpolitischen Produkte der jüngeren Vergangenheit angemeldet: Hartz IV.

Konkret geht es nicht um irgendwelche Hinterbänkler, die das Sommerloch füllen wollen, sondern um den österreichischen Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP), der in einem Interview so zitiert wird: »Es ist auch deshalb schwer, Arbeitskräfte zu finden, weil das Arbeitsloseneinkommen fast genauso hoch ist wie das Arbeitseinkommen. In Deutschland gibt mit Hartz IV ein Modell, das offenbar besser funktioniert.« Diese Äußerung hat nun eine breite und heftige Diskussion ausgelöst. Hartz IV kommt in Österreich an, so ist einer der Artikel dazu überschrieben.

Allerdings gibt es parteiübergreifend heftigen Gegenwind: Zu hohes Arbeitsloseneinkommen: Hagel an Kritik für Schelling. Zuerst einmal eine kurze Skizzierung des bestehenden Sicherungssystems bei Arbeitslosigkeit in Österreich, denn dann wird verständlich, warum das auf so viel Widerspruch stößt.

In »manchen Punkten ist das österreichische Arbeitslosengeld-System … sogar schlechter als die deutschen Hartz-Regelungen. Wer in Österreich seine Arbeit verliert, bekommt unmittelbar nach dem Jobverlust weniger Arbeitslosengeld als in Deutschland. Zumindest, was die Nettoersatzrate betrifft: In Deutschland beträgt das Arbeitslosengeld 65 Prozent des vorher verdienten Nettolohns, in Österreich sind es nur 55 Prozent. Sie wurde seit den 1990er Jahren sukzessive reduziert. 1993 sank die Nettoersatzrate, die von der Höhe des letzten Gehalts berechnet wird, von 57,9 Prozent auf 57 Prozent 1995 auf 56 Prozent und in weiterer Folge im Jahr 2000 auf 55 Prozent. Österreich hat damit eine der niedrigsten Nettoersatzraten beim Arbeitslosengeld Europas. Die Bezugsdauer ist gestaffelt, je nach Alter und Beschäftigungsdauer erhält man 20, 30, 39 bzw. 52 Wochen lang Arbeitslosengeld … Danach kann man Notstandshilfe beantragen. Sie ist unbefristet und macht 95 Prozent des vorher bezogenen Arbeitslosengeldes. Das wiederum ist vergleichsweise viel im internationalen Vergleich. Wer also in Österreich länger arbeitslos bleibt, für den ändert sich bei der Höhe des Arbeitslosengeldes bzw. der Notstandshilfe wenig. Langzeitarbeitslose in Deutschland stürzen dagegen ab.« (Hervorhebungen nicht im Original). Die Sozialhilfe der Bundesländer ist mittlerweile ersetzt worden durch die Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS). Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung besteht aus 2 Teilen: 620,87 Euro Grundbetrag und  206,96 Euro Wohnkostenanteil pro Monat. Zusammen sind das 827,83 Euro. Für Kinder gibt es jeweils 149,01 Euro. Je nach Bundesland können höhere Beiträge sowie Ergänzungsleistungen ausgezahlt werden, z.B. wenn die tatsächlichen Wohnkosten höher sind. Wenn der Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe niedriger ist als die Mindeststandards der Bedarfsorientierten Mindestsicherung und kein relevantes Vermögen vorhanden ist, kann eine ergänzende Mindestsicherungsleistung bezogen werden.
Wie man unschwer sehen kann, finden wir in Österreich eine Systematik, die es auch mal in Deutschland mit dem Arbeitslosengeld und der (unbefristeten, ebenfalls am ehemaligen Arbeitseinkommen orientierten) Arbeitslosenhilfe gegeben hat, bis die Arbeitslosenhilfe mit der damaligen Sozialhilfe nach dem BSHG zum Arbeitslosengeld II nach dem SGB II zusammengelegt wurde. Zum anderen ist die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes kürzer als die beim Arbeitslosengeld I in Deutschland, danach aber gibt es die Notstandshilfe, die bei marginaler Absenkung dem vorherigen Arbeitslosengeld entspricht.

Insofern wäre eine Orientierung am deutschen Hartz IV-Modell tatsächlich für viele Arbeitslose ein herber Einschnitt.

Wie auch bei uns in Deutschland wird die Debatte mit den gleichen Vorurteilen und auch schlichten Unwahrheiten geführt, bei denen es lediglich darum geht, Stimmung zu machen gegen die Arbeitslosen. Bislang der einzige, der den Finanzminister öffentlich unterstützt, ist der  ÖVP-Generalsekretär Gernot Blümel, der mit diesen Worten zitiert wird: Der Finanzminister habe »vollkommen recht, dass Arbeitsanreize fehlen, wenn die erhaltenen Leistungen ohne Arbeit fast genauso hoch sind wie ein Arbeitseinkommen. Genau hier gilt es anzusetzen.« Fast genauso hoch wie ein Arbeitseinkommen ist angesichts der schon skizzierten Ersatzraten beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe kein Euphemismus mehr, sonder schlichtweg falsch. So auch die innerösterreichische Kritik:

»“Fassungslos über so viel arrogante Unwissenheit“ reagieren die Grünen Abgeordneten Birgit Schatz und Judith Schwentner. „Bei einer Nettoersatzrate von 55 Prozent könne man kaum davon sprechen, dass das Arbeitslosengeld auch nur annähernd so hoch sei wie ein angemessenes Erwerbseinkommen. Fakt sei vielmehr, dass Arbeitslosigkeit in Österreich wegen des niedrigen Arbeitslosengeldes der Einstieg in die Armut sei. Für Sozialsprecherin Schwentner ist mit Schellings Aussagen klar, dass dieser keine Ahnung von der Realität habe.«

Dazu auch der Blog-Beitrag Weltfremde Politik: Die Mär vom faulen, reichen Arbeitslosen mit ein paar Rechenbeispielen.

Wie bei uns wird natürlich reflexhaft das Argument der mangelnden Arbeitsanreize wie eine Monstranz von denen vor sich hergetragen, die auf eine Absenkung der Sozialleistungen zielen. Dazu hat sich auch das Arbeitsmarktservice (AMS) als österreichische Pendant zur Bundesagentur für Arbeit zu Wort gemeldet:

»AMS-Chef Johannes Kopf hielt in einem früheren Interview … die Anreize eine Arbeit aufzunehmen, in Österreich für groß genug. Einen Sonderfall ortete er aber: „Wenn zum Beispiel eine Frau mit den Kindern zu Hause ist und der Vater ein Fall für die Mindestsicherung, dann ist diese für die Familie so hoch, wie er oftmals kaum allein verdienen kann. Das ist eine Inaktivitätsfalle. Da müsste es die Möglichkeit geben, die Mindestsicherung bei der Arbeitsaufnahme teils weiter zu beziehen.“«

Damit beschreibt er eine Problematik, die wir auch in Deutschland kennen, die aber primär mit den Sicherungsdefiziten in anderen Bereichen wie dem Familienlastenausgleich zu tun haben.

Und zu der Ausgangsthese von dem angeblich zu hohen Arbeitslosengeld in Österreich finden wir bei der OECD in dem Anfang Juli veröffentlichten aktuellen Beschäftigungsausblicks für unser Nachbarland den folgenden Hinweis: »Besonders hoch ist in Österreich laut OECD die Einkommensungleichheit. Dies lasse sich durch chronische Arbeitslosigkeit, niedriges Kompetenzniveau einiger Bevölkerungsgruppen und das generell niedrige Arbeitslosengeld erklären« (OECD: Österreich sollte AMS-Budget aufstocken). Das Budget für das Arbeitsmarktservice (AMS) sollte erhöht werden, schlägt die OECD vor.

Man kann nur hoffen, dass sich die Österreicher nicht in die Hartz IV-Falle locken lassen. Die müssen nicht die gleichen Fehler machen wie wir.

Arbeitswelten: In der Fleischindustrie ist alles besser geworden! Wirklich? Und beim Daimler sprudeln die Gewinne – und die Fremdvergabe boomt

Viele werden sich erinnern an die Reportagen, Dokumentationen und Artikel, in denen die Verhältnisse im „Billigschlachthaus“ Deutschland angeprangert wurden, vor allem die Ausbeutung osteuropäischer Werkvertragsarbeiter, nicht nur hinsichtlich einer extrem niedrigen Bezahlung, sondern auch angesichts teilweise nur noch als kriminell zu bezeichnender Unterbringungsverhältnisse. Und keiner möge behaupten, dass mediale Berichterstattung nichts verändern kann – sie kann Druck aufbauen, Politiker zum Jagen tragen, Verbesserungen auslösen. Das war gerade in dieser Schmuddel-Branche der Fall (vgl. dazu auch den Beitrag Billig, billiger, Deutschland. Wie sich die Umsätze in der deutschen Fleischindustrie verdoppeln konnten und warum der Mindestlohn ein fragiler Fortschritt ist vom 15.11.2014). Zugleich lehrt die Erfahrung, dass man immer wieder die Dinge auf Wiedervorlage legen muss, um nachzuschauen, ob die Veränderungen nur angekündigt oder temporärer Natur waren und sich zwischenzeitlich eventuell die alten Verhältnisse wieder eingestellt haben. »Etwa ein Jahr ist es her, dass die Fleischbranche feierlich Besserung gelobte: Die Ausbeutung osteuropäischer Billiglöhner, von Subunternehmen in die Schlachthöfe geschickt, sollte ein Ende haben, ebenso die Unterbringung der Menschen in Schrottimmobilien zu Wuchermieten.« So beginnt ein Artikel von Karl Doeleke, mit der allerdings die Hoffnungen relativierenden Überschrift Zweifel an Reformen in der Fleischindustrie. Damals wurde ein Verhaltenskodex der Fleischwirtschaft ins Leben gerufen, der auch Mindestlohn und soziale Standards für Wohnungen regelt. Überwacht werden soll der von unabhängigen Wirtschaftsprüfern. Hört sich gut an. Nun aber hat die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ das gemacht, was bereits angedeutet wurde – den Sachverhalt nicht nur auf Wiedervorlage legen, sondern ihn auch mit Leben füllen, in dem einige scheinbar einfache Fragen gestellt werden: Werden die Regeln im Kodex alle umgesetzt? Welche Schlachtkonzerne verpflichten ihre Subunternehmer dazu? Wie wird die Einhaltung überwacht? Die Antworten darauf fielen sparsam aus.

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Arbeitszeit: Schneller und vor allem immer mehr, wenn es denn der einen Seite passt. Zur Arbeitgeber-Forderung nach einer „Flexibilisierung“ des Arbeitszeitgesetzes

Was war das wieder für eine kurze Aufregungswelle in den Medien – zu einem Thema von ganz grundsätzlicher Bedeutung, mit dem man allerdings normalerweise sehr verlogen umgeht. Aber der Reihe nach: Kampf um den Acht-Stunden-Tag, so martialisch hat Birgit Marschall ihren Artikel überschrieben: »Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat die Diskussion darüber eröffnet, ob die starren Vorgaben im Arbeitszeitgesetz gelockert und an die veränderte digitale Arbeitswelt angepasst werden müssen. Die Arbeitgeber fordern, die täglich zulässige Höchstarbeitszeit von acht Stunden abzuschaffen.« Das nun wiederum hat das Ministerium nicht nur nicht bestätigt, sondern dementiert. Sie, also die Ministerin, habe derzeit nicht vor, am Arbeitszeitgesetz was zu machen. Auf der anderen Seite stehen solche Zitate im Raum:

„Flexiblere Arbeitszeiten und die Orientierung am Ergebnis, nicht an der Präsenz im Büro können auch den Beschäftigten zugutekommen“, sagte die SPD-Politikerin unlängst auf einem Fachkongress in Berlin. Dazu hat Nahles einen Dialog mit Arbeitgebern und Gewerkschaften gestartet, das in ein neues Arbeitszeitgesetz münden könnte. Also doch irgendwie?

Ausgangspunkt der aktuellen Debatte ist ein Positionspapier der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die bereits im Mai dieses Jahres zur Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt das Positionspapier Chancen der Digitalisierung nutzen veröffentlicht hat. Darin findet sich neben vielen anderen Punkten auch die Forderung nach einer Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes.

Der Arbeitgeberverband bettet die Forderung nach einer „Arbeitszeitflexibilisierung“ ein in die modern daherkommende Debatte, die um die Schlagworte von der „Industrie 4.0“ und „Arbeit 4.0“ kreist. Und da geht es nicht nur um die hier im Mittelpunkt stehende Infragestellung arbeitszeitgesetzlicher Regelungen, sondern auch um andere heiße Eisen, wie man beispielsweise diesem Zitat aus dem Positionspapier der BDA entnehmen kann:

»Die Digitalisierung fördert Spezialisierung und Arbeitsteilung. Die Bedeutung (industrienaher) Dienstleistungen und die Bedeutung von Werk- und Dienstverträgen werden daher wie damit im Zusammenhang stehende Geschäftsmodelle zunehmen. Eine weitere Regulierung dieser etablierten Vertragsformen würde eine erfolgreiche Digitalisierung erschweren.«

Insgesamt haben wir es mit einem Wünsch-dir-was-Katalog der Arbeitgeber zu tun:

»Beschäftigung wird deshalb stärker als bisher den Anforderungen schwankender Auftragslagen folgen müssen. Ein Mittel, dies zu ermöglichen, ist eine flexible Arbeitszeit. Ein anderes Mittel ist die Unterstützung von Zeitarbeit und befristeter Beschäftigung … Befristung und Zeitarbeit dürfen daher nicht durch neue Belastungen begrenzt werden. Zeitarbeit und insbesondere die sachgrundlose Befristung müssen auch künftig für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen ohne neue Beschränkungen zur Verfügung stehen.«

Das richtet sich primär gegen die beabsichtigten bzw. möglicherweise drohenden Regulierungsversuche seitens der Bundesregierung und um die zu verhindern, fordert die BDA vorsichtshalber ein „Belastungsmoratorium“.

Zur Arbeitszeit findet man in dem Positionspapier die folgenden Ausführungen – wobei es vor allem um die Frage geht, was denn nun die Digitalisierung mit einer Veränderung des Arbeitszeitgesetzes zu tun haben könnte (S. 3):

»Insbesondere im verarbeitenden Gewerbe aber auch bei Büroberufen und Wissensarbeit wird auch künftig die eigentliche Arbeit im Betrieb stattfinden. Aber für einige Berufsgruppen ergeben sich neue Möglichkeiten ortsungebundenen Arbeitens – beispielsweise durch cloud computing … über Zeitzonen hinweg stattfindende Kommunikation wird in manchen Fällen durch gesetzlich vorgegebene tägliche Höchstarbeitszeiten erschwert.
Um hier mehr Spielräume zu schaffen und betriebliche Notwendigkeiten abzubilden sollte das Arbeitszeitgesetz deshalb von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit umgestellt werden.«

Der eine oder andere wird sich an dieser Stelle fragen, wo genau denn hier eigentlich das Problem liegt. Das Arbeitszeitgesetz schreibt eine tägliche Höchstarbeitszeit von acht Stunden vor, die bis auf 10 Stunden pro Tag ausgedehnt werden kann, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Eine nochmalige Ausdehnung aus 12 Stunden pro Tag auf Antrag ist heute schon möglich und zugleich gibt es eine ganze Reihe an Ausnahmetatbeständen, die nach dem Gesetz möglich und zulässig sind.
»Da auch der Samstag ein Werktag ist, begrenzt das Gesetz die zulässige Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden. Es gibt aber viele Ausnahmen, etwa für Klinikpersonal, Beamte, Soldaten und leitende Angestellte. Zudem wird die Einhaltung selten kontrolliert«, so zu Recht Birgit Marschall in ihrem Artikel. Und sie zitiert erneut unsere Bundesarbeitszeitministerin Nahles – vor dem Hintergrund der Tatsache, wie es a) heute schon vielerorts läuft und b) dass das Arbeitszeitgesetz kaum bis gar nicht kontrolliert wird, zeigt das leider erneut, dass sich manche von herausgegriffenen, wenn überhaupt dann nur theoretisch existierenden „Problemen“ beeindrucken lassen. Hier das Zitat von Frau Nahles:

„Ein Arbeitgeber hat mich angesprochen: Wenn ein Mitarbeiter früher geht, um bei den Kindern zu sein, und abends auf dem Handy schnell noch eine dienstliche E-Mail erledigt, darf er nach dem Arbeitszeitgesetz eigentlich morgens nicht ins Büro kommen. Ist das nicht ein Hemmschuh für flexible Arbeitszeiten? Ich meine: Da hat er durchaus recht!“

Theoretisch vielleicht je nach Fallkonstruktion, aber praktisch passiert das genau doch jeden Tag, ohne dass jemals so ein Fall verfolgt wurde. Ohne irgendwelche Probleme oder gar Gerichtsverfahren. Wo also liegt das Problem? Vor allem, wo könnte das Problem liegen, wenn man nun hingehen würde und wie seitens der Arbeitgeber gefordert den formalen Deckel die tägliche Arbeitszeit betreffend beseitigt und auf eine wöchentliche Arbeitszeitobergrenze verweist?
Im Grunde geht es um den zu legalisierenden vollflexiblen Zugriff auf die Arbeitnehmer. Wie anders ist so eine Äußerung zu interpretieren?

»Auch Hans-Peter Klös vom arbeitgebernahen Institut der Wirtschaft, Mitglied des von Nahles ins Leben gerufenen Beraterkreises, sagte: „Der gesetzliche Korridor passt nicht mehr in eine Welt, die 24 Stunden am Tag in Echtzeit online unterwegs ist.“ Die Flexibilitätsanforderungen der Wirtschaft müssten mit legitimen Schutzansprüchen der Arbeitnehmer in Einklang gebracht werden. „Der Gesetzgeber wird den gesetzlichen Arbeitszeitrahmen lockern müssen.“ Tarif- und Betriebsparteien müssten mehr selbst regeln.«

Da hilft es auch nicht, wenn Gewerkschafter darauf verweisen, dass in allen bisherigen Fällen, in denen betriebliche oder tarifvertragliche Regelungen beispielsweise zum mobilen Arbeiten vereinbart worden sind, das Arbeitszeitgesetz keine Hürde dargestellt hat.

Aber man sollte auf die Formulierungen achten. Tarif- und Betriebsparteien müssen mehr selbst regeln (können), so der Mann vom arbeitgeberfinanzierten Institut der deutschen Wirtschaft. Nun wird dem einen oder anderen an dieser Stelle einfallen: Was aber ist in den vielen Branchen und Unternehmen, in denen es solche Regelungen gar nicht geben kann, weil es sich um tarifvertragsfreie Zonen handelt und auch gar keine Betriebsräte vorhanden sind? Zu denen gehören beispielsweise Branchen wie das Hotel- und Gaststättengewerbe. Und gerade hier gibt es ein gehöriges Interesse an einer „Flexibilisierung“ des Arbeitszeitgesetzes.

Ich habe in meinen Beiträgen zum Mindestlohngesetz immer wieder darauf hingewiesen, dass gerade hier das Problem oftmals weniger bis gar nicht die Höhe des Mindestlohns ist, sondern der Tatbestand, dass in der Praxis nicht selten die tägliche Höchstarbeitszeit nach dem Arbeitszeitgesetz verletzt wurde und wird, was aber bislang nie wirklich problematisch war, weil das Arbeitszeitgesetz quasi nicht kontrolliert wurde. Das ändert sich aber mit dem Mindestlohngesetz und den Prüfungen durch den Zoll, ob der Mindestlohn auch wirklich gezahlt wurde. Da es sich um einen Mindest-Stundenlohn handelt, müssen die Kontrolleure ermitteln, wie viele Stunden denn gearbeitet wurde. Wenn bei diesen Prüfungen herauskommt, dass das Arbeitszeitgesetz nicht eingehalten wurde, dann droht auf einmal realer Ärger.

Wenn man dann noch berücksichtigt, dass immer mehr Arbeitnehmer nicht nur einen, sondern zwei oder noch mehr Jobs haben, dann kann man sich ganz schnell vorstellen, dass hierbei viele Arbeitnehmer gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen.
Und seien wir ehrlich – die vielen Arbeitnehmer, die in betriebsrats- und tarifvertragsfreien Zonen arbeiten, werden angesichts des Machtgefälles zu den Arbeitgebern kaum eine realistische Chance bekommen, auf eine Einhaltung der Arbeitszeit zu pochen.

Dabei ist die Realität doch schon längst – und nicht selten muss man anfügen: leider – weiter. Zwei von drei Arbeitnehmern machen Überstunden, so ein Artikel, der über eine neue Studie berichtet: »Viele bekommen die Überstunden weder bezahlt noch durch Freizeit ersetzt. Vor allem ältere Arbeitnehmer klotzen richtig ran«, so Silvia Dahlkamp.

»Über 40 Prozent aller Angestellten bleiben pro Tag im Schnitt eine Stunde länger, 16 Prozent sogar zwei Stunden. Vier Prozent aller Arbeitnehmer gaben an, dass sie sogar eine 65-Stunden-Woche haben. Dabei kommen in großen Firmen und Konzernen im Schnitt mehr Überstunden zusammen als bei Mittelständlern.
Im Alter von 59 Jahren haben die meisten endlich den Überstundengipfel erklommen. Doch kurz vor der Rente wird es nicht etwa ruhiger, im Gegenteil: Dann stehen gerade Altgediente besonders unter Strom, klopfen vier bis fünf Überstunden die Woche oder noch mehr.«

Sie bezieht sich auf Erkenntnisse aus dem Arbeitszeitmonitor 2015, der von dem Portal gehalt.de veröffentlicht worden ist. Auch das IAB berichtet regelmäßig über seine Abschätzung des Überstundenvolumens. Für eine aktuelle Zusammenfassung vgl. den Artikel Ich bleibe heute wieder länger. »In keinem anderen Land im Euroraum machen Arbeitnehmer im Schnitt so viele Überstunden wie in Deutschland. Und nicht einmal die Hälfte der Überstunden wird vergütet.« Dabei geht es hier nur um die Überstunden, die nicht später in Freizeit ausgeglichen werden.
»Unbezahlte Mehrarbeit ist … im Dienstleistungssektor üblicher als in der Industrie. Ferner leisten vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer generell mehr Überstunden als Teilzeitkräfte. Auch bei einem höheren Arbeitslosigkeitsrisiko seien Beschäftigte eher zu Überstundenarbeit bereit.«

Wie die Situation gerade im Dienstleistungsbereich und bei den „Wissensarbeitern“ ist, verdeutlicht eine Tagung, die am 03. Juli 2015 durchgeführt wurde: Fachtagung „Immer schneller – immer mehr. Zeit- und Leistungsdruck bei Wissens- und Dienstleistungsarbeit“, veranstaltet von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Die Folien zu den einzelnen Vorträge kann man dort abrufen.

Fazit: Die „neue“ Debatte über das Arbeitszeitgesetz ordnet sich ein in die allgemeinen Deregulierungsforderungen der Arbeitgeber, die weit darüber hinaus reichen. Neu mag vielleicht sein, dass die Bundesarbeitsministerin auf der Suche ist nach Andockstellen bei den Arbeitgebern, nachdem sie diese mit Mindestlohn, Rente mit 63 und anderem Teufelszeug aus deren Sicht genervt hat. Dafür wäre dann das Arbeitszeitgesetz eine geeignetes Opfer, denn bereits heute kontrolliert man dessen Einhaltung kaum – außer im neuen Kontext des Mindestlohngesetzes.

Aber man sollte und darf an dieser Stelle nie vergessen – auch wenn die Regelungsarchitektur des Arbeitszeitgesetzes aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit stammt, in der die Menschen in eine Fabrik oder ein Büro gegangen und wieder rausgekommen sind und Arbeit und Freizeit klar abgegrenzt waren, was sich in Teilbereichen der Arbeitswelt tatsächlich ändert bzw. ändern wird, so muss man doch sehen, dass die arbeitszeitgesetzlichen Regelungen eben auch die Funktion haben (sollten), die Arbeitnehmer zu schützen. Wie man diesen Schutz meint organisieren zu können, dass ist doch die Eine-Million-Euro-Frage. Denn es besteht kein Zweifel – in einem Unternehmen wie Daimler wird die Abstimmung mit dem Betriebsrat kein Problem sein, auch aufgrund der enormen gewerkschaftlichen Verankerung in dem Unternehmen. Aber bei den vielen anderen wird es anders aussehen.

Nachwehen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Betreuungsgeld

Die von allen Seiten vorgenommene politische Instrumentalisierung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich einer Verfassungwidrigkeit als Bundesleistung aufgrund der Nicht-Zuständigkeit des Bundes – also eine verfassungsrechtlich formale, keine inhaltlich das Betreuungsgeld an sich bewertende Entscheidung – war absehbar. So, wie das nunmehr vorliegende Urteil des BVerfG an sich von allen Experten auch erwartet wurde – und insofern hätte man von den zuständigen Stellen auch erwarten dürfen, dass sie sich Gedanken machen, wie man denn zumindest mit den bestehenden Fällen umgeht. Und dann muss man zur Kenntnis nehmen: »Bis Mitte August will Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) einen konkreten Vorschlag vorlegen, wie es für die Eltern weitergeht, die bereits Betreuungsgeld erhalten oder Anträge vor dem Urteil gestellt haben«, berichtet Markus Sievers in seinem Artikel Eltern werden beim Betreuungsgeld bis Herbst zappeln gelassen. Wohlgemerkt, an dieser Stelle geht es nicht darum, ob es in Zukunft eine ähnliche oder die gleiche Leistung als Länderleistung geben soll – was übrigens das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich zugelassen hat. Sondern es geht um die Eltern – derzeit immerhin 455.000 Fälle bundesweit – die schon im Betreuungsgeldbezug sind. Und in einem zweiten Schritt darum, wie man mit denen verfährt, die einen Antrag auf diese Geldleistung gestellt haben, bevor das Verfassungsgericht seine Entscheidung getroffen hat. Was sagt die nun formal nicht mehr zuständige Bundesbetreuungsgeldministerin Manuela Schwesig dazu: »„Klar ist, dass die Familien, die heute schon Betreuungsgeld bekommen, nicht zurückzahlen müssen, was sie bereits bekommen haben. „Die Familienministerin strebt auch an, dass die Familien, die das Betreuungsgeld bereits beziehen, das auch weiterhin bekommen.“ So lässt sie zumindest eine Sprecherin ihres Ministeriums verkünden.

Dass das erste klar sein sollte, ist klar. Denn dass die Leute eine Leistung zurückzahlen sollten, die sie auf der Basis eines im Nachhinein für verfassungswidrig erklärten Gesetzes bekommen haben, wäre ja noch schöner. Für die schweren handwerklichen Fehler der Regierung bluten, das geht gar nicht. Aber der zweite Punkt ist schon einigermaßen skandalös – man muss erwarten dürfen, dass sich die Beamten im Bundesfamilienministerin im Vorfeld der Entscheidung aus Karlsruhe, die ja nun wirklich nicht überfallartig dahergekommen ist, darüber nachgedacht haben, wie man mit der Situation umgeht, wenn das Gericht keine explizite Übergangsregelung in das Urteil schreibt, wie es dann auch gekommen ist, vor allem hinsichtlich der laufenden Fälle, denn die brauchen irgendeine Form der Planungssicherheit. Von außen betrachtet handelt es sich um eine Variante von offensichtlicher Arbeitsverweigerung, vor allem im Zusammenspiel, dass man sich bis Anfang September Zeit nehmen möchte und wird, um über den weiteren Gang der Dinge zu beraten.

Und dazu gehören nicht nur die Fragen, wie man mit den Altfällen umgeht oder den noch auf Basis des alten Rechts gestellten Anträgen – sondern vor allem um die Frage, wie es denn nun weitergeht und das aufgehängt an der Frage, was man mit dem für das Bundesbetreuungsgeld im Bundeshaushalt eingestellten und eingplanten Mitteln machen will. Hier entzündet sich dann der eigentliche „Betreuungsgeldstreit 2.0“ (so bereits mein Hinweis in dem Beitrag Isch over. Das Betreuungsgeld scheitert an den Klippen des Bundesverfassungsgerichts und ein Betreuungsgeldstreit 2.0 steht vor der Tür vom 21. Juli 2015).

Vereinfacht gesagt stehen sich hier zwei Lager gegenüber. Das eine will die Mittel – im laufenden Bundeshaushalt sind 900 Mio. Euro etatisiert, bis zum Ende er Legislaturperiode geht es um weit mehr als drei Mrd. Euro – für den Kita-Ausbau und die Anhebung der Qualität in den Kindertageseinrichtungen verwenden. Auf der gegenüberliegenden Seite steht das derzeit etwas waidwunde Bayern, das sich selbst gegenüber der eigenen Bevölkerung gefesselt hat mit der Feststellung, in Bayern wird das Betreuungsgeldgeld auf alle Fälle weiterleben. Und das soll „natürlich“ nicht aus Landesmitteln finanziert werden, sondern aus dem Haushaltstopf des Bundes, in dem die dort eingestellten Mittel an die Bundesländer verteilt werden.

Das nun wiederum bringt einen Grauton in die scheinbare Polarität Betreuungsgeldgegner hier und Bayern da. Denn gegen eine Umverteilung der Mittel haben sicher auch andere Bundesländer nichts, vor allem, wenn sie nicht zweckgebunden erfolgt – und nur so könnte das ja gehen, nachdem die Auszeichung der Mittel gebunden an die Leistung Betreuungsgeld nunmehr zumindest für die Zukunft nicht mehr zulässig ist. Damit im Zusammenhang steht dann wieder die erste Problemstellung, also die Weiterfinanzierung der Altfälle, denn das muss ja nun auch praktisch organisiert werden zwischen dem Bund und den Bundesländern.

Und dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass Bayern offensichtlich nicht allein steht mit seiner Liebesbeziehung zu dieser Geldleistung, denn Timo Frasch und Rüdiger Soldt berichten unter der Überschrift CDU will mit Betreuungsgeld punkten: »Die CDU-Spitzenkandidaten in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg setzen auf Familienpolitik als Gewinnerthema. Das von Karlsruhe beerdigte Betreuungsgeld wollen sie wiederbeleben – in neuer Form.« Beispiel Rheinland-Pfalz: Die CDU-Vorsitzende Julia Klöckner, die im kommenden Frühjahr die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Malu Dreyer ablösen möchte, setzt auf ein „Landesfamiliengeld“.

»Gedacht ist an eine Ausweitung des Kreises der Berechtigten auf alle Familien, wobei „finanziell nicht signifikant über die frei werdenden Bundesmittel“ hinausgegangen werden könne. Parallel werde geprüft, so Klöckner, ob eine besondere Berücksichtigung kinderreicher Familien möglich ist.«

Diese Formulierung zeigt, dass hier offensichtlich das Thema nur instrumentalisiert werden soll für eine Wahlkampfstrategie, die rot-grüne Landesregierung auf dem Feld der Familienpolitik anzugreifen. Denn die logischen Widersprüche, folgt man dem Absatz, sind offensichtlich. Es soll nicht mehr ausgegeben werden als bislang über Bundesmittel für das Betreuungsgeld in seiner bisherigen Form zur Verfügung gestellt wurden, gleichzeitig soll das aber auf alle Familien ausgeweitet und eine besondere Berücksichtigung kinderreicher Familien ins Auge gefasst werden. Man muss nicht lange nachdenken, dass wir es hier mit einem klassischen Verteilungsproblem zu tun bekommen würden.

Im grün-rot regierten Baden-Württemberg muss sich Guido Wolf, der Spitzenkandidat und CDU-Fraktionsvorsitzende, offensichtlich noch sortieren:

»Wolf will sich derzeit noch nicht festlegen, ob er den Wählern ein vom Land finanziertes Betreuungsgeld versprechen wird oder eventuell das von der grün-roten Regierung 2012 abgeschaffte Landeserziehungsgeld (ursprüngliche Kosten: 63 Millionen Euro pro Jahr) wieder einführen will.«

Der stellvertretende Landes- und Fraktionsvorsitzende Winfried Mack wird etwas deutlicher: „Wir wollen den Familien in jedem Fall eine zusätzliche Landesleistung anbieten, ob man nun das Betreuungsgeld so übernimmt, wie es die Bayern vorhaben, oder ob man die Zahlung vom Einkommen abhängig macht wie früher beim Landeserziehungsgeld, das müssen wir beraten.“  In jedem Fall will die Landes-CDU 178 Millionen Euro vom Bund haben, wenn das Betreuungsgeld als Bundesleistung wegfällt.

Damit werden wir uns also in den kommenden Monaten und dann noch im Gefechtslärm der Landtagswahlkämpfe im Südwesten der Republik herumschlagen müssen.

Aber auch die derzeit jubilierenden Gegner der Betreuungsgeldes mit ihrer Absicht, die frei werdenden Mittel in den Kita-Ausbau und vor allem in eine Verbesserung der Kita-Qualität zu stecken, sollten einen Gang zurückschalten und sich verdeutlichen, welche Sprünge man mit den Mitteln machen könnte, auch wenn sie sich vollständig durchsetzen würden. Max Haerder hat seine Gedanken dazu unter die Überschrift Warum 900 Millionen Euro eher Peanuts sind gestellt: Zunächst einmal weist er richtigerweise darauf hin, dass aufgrund des Vertrauensschutzes, den übrigens auch die Verfassungsrichter angesprochen haben, den schon im Leistungsbezug befindlichen Eltern das Geld weitergezahlt werden muss, was die für eine anderweitige Nutzung zur Verfügung stehende Summe schon mal verkleinert. Außerdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass es auch eine Lösung für die Fälle geben wird, wo der Antrag vor dem Urteil der BVerfG gestellt worden ist. Folge: »Diese Umstände bedeuten für den Bundeshaushalt … konkret, dass Manuela Schwesig noch bis ins Jahr 2017 hinein einen nicht geringen Posten für das Betreuungsgeld reservieren muss, der eben nicht für andere Aufgaben verwendet werden kann.« Aber selbst wenn man von der Bruttosumme in Höhe von 900 Mio. Euro ausgehen würde, muss man das wie alles im Leben relativ sehen:

»In den vergangenen Jahren hat der Bund schon das Fünffache der besagten Summe, 4,5 Milliarden Euro nämlich, in den Ausbau der Kitas investiert. Das bestehende Sondervermögen „Kinderbetreuungsausbau“ wird in diesem Jahr allein um 550 Millionen Euro aufgestockt. Auch an den laufenden Betriebskosten der Länder beteiligt sich der Bund in diesem und im nächsten Jahr ohnehin schon mit 845 Millionen Euro, ab 2017 werden es dann 945 Millionen sein … Nur die kommunalen Arbeitgeber (ohne private und kirchliche Einrichtungen) stehen für etwa 30 Prozent der Erzieher an Kitas. Für dieses knappe Drittel des Gesamt-Personals werden jährlich rund 4,6 Milliarden Euro bezahlt. Gegenwärtig läuft zudem eine Tarifrunde, in der Verdi deutliche Lohn-Steigerungen durchsetzen will – danach käme wohl noch eine dreistellige Millionensumme dazu. Pro Jahr.«

Hier enden die Überschlagsrechnungen des Herrn Haerder – und genau an dieser Stelle müssten die eigentlich notwendigen, seit langem überfälligen Entscheidungen anfangen. Gemeint ist der seit Jahren immer wieder vorgetragene Bedarf, die 16 unterschiedlichen Kita-Finanzierungssysteme wenigstens hinsichtlich einer rationalen Kostenträgerschaft und damit Mittelaufbringung endlich auf eine andere Grundlage zu stellen. Denn bei allen Unterschieden in der konkreten Ausgestaltung der Finanzierungssysteme zwischen den einzelnen Bundesländern lassen sich doch zwei eklatante Strukturfehler identifizieren: Zum einen ist das System der Kindertagesbetreuung – zu dem übrigens nicht nur die Kitas gehören, sondern auch die Kindertagespflege – unterfinanziert, es fehlen mehrere Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr, nur um an die Referenzwerte der OECD und auch bestimmter Länder zu kommen, zum anderen aber sind wir konfrontiert mit einer eklatanten Fehlfinanzierung dergestalt, dass die Kommunen der Hauptkostenträger sind, während der schon fiskalisch profitierende Bund (und die Sozialversicherungen) nur etwas (bzw. gar nicht) an der Finanzierung beteiligt sind. Genau diese Finanzierungsarchitektur müsste man vom Kopf auf die Füße stellen – ein realisierbares Modell für eine Regel- und zweckgebundene anteilige Mitfinanzierung des Bundes liegt seit längerem vor, vgl. dazu Stefan Sell: Die Finanzierung der Kindertagesbetreuung vom Kopf auf die Füße stellen. Das Modell eines „KiTa-Fonds“ zur Verringerung der erheblichen Unter- und Fehlfinanzierung der Kindertagesbetreuung in Deutschland, Remagen 2014.

Wer, wenn nicht eine große Koalition könnte diese fundamentale Neuordnung der Finanzierungsstruktur angehen und mit den Bundesländern umsetzen?

Aber nichts da. Das Thema wird eingedampft auf die symbolpolitischen Aspekte und von beiden Seiten instrumentalisiert für teilweise nicht einmal billige, sondern nur noch peinliche Polemik mit dem Ziel der Aufmerksamkeitserscheischung. Ein weiterer Fall von struktureller Arbeitsverweigerung.

Isch over. Das Betreuungsgeld scheitert an den Klippen des Bundesverfassungsgerichts und ein Betreuungsgeldstreit 2.0 steht vor der Tür

Isch over, so würde es der Bundesfinanzminister Schäuble zum Thema Betreuungsgeld auf der Basis eines Bundesgesetzes und als Bundesleistung ausdrücken müssen nach dem heutigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die ersten Sätze bei der Urteilsverkündung hatten es schon in sich:

»§§ 4a bis 4d Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz in der Fassung des Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes (Betreuungsgeldgesetz) vom 15. Februar 2013 (Bundesgesetzblatt I Seite 254) sind mit Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.«

Unvereinbar und nichtig – ab sofort. Aus und vorbei mit diesem jüngsten Sprößling in der langen Reihe „familienpolitischer“ Leistungen. Das hätte man schneller und billiger haben können, denn die zentrale Begründung des Verfassungsgerichts für das – übrigens einstimmig im 1. Senat gefällte – Urteil wurde bereits vor und im Gesetzgebungsverfahren von Expertenseite vorgetragen und eine Verfassungswidrigkeit damit vorhergesagt. Aber „man“ wollte das unbedingt durchboxen, vor allem die CSU in Bayern hatte diese skurrile Geldleistung zu einer „Freistaatsangelegenheit“ aufgepumpt, auf die man partout nicht meinte verzichten zu können. Und der Trennungsschmerz und die zugefügte Watsche scheinen so heftig zu sein, dass sich CSU-Politik am heutigen Tag der Urteilsverkündung nicht nur in ihren Reaktionen als schlechte Verlierer gerierten, sondern trotzig würde sofort bekannt gegeben, dass das Betreuungsgeld weiterleben wird, also in Bayern zumindest, als Landesbetreuungsgeld. Wobei man nicht vorschnell vom Begriff Landesbetreuungsgeld darauf schließen sollte, dass das dann auch aus der bajuwarischen Schatulle finanziert werden wird, sondern man fordert von Berlin das Bundesgeld, um damit das eigene Betreuungsgeld auch in Zukunft auszahlen zu können. Das nun wiederum kollidiert mit der Gegenseite, in diesem Fall eine übergroße Mehrheit, die sofort eine Umwidmung der im Bundeshaushalt 2015 eingestellten 900 Mio. Euro für den Kita-Ausbau einfordert. Genau an dieser Stelle wird sich in den kommenden Wochen der Betreuungsgeldstreit 2.0 entwickeln und möglicherweise durch den Brandbeschleuniger Sommerloch zu einer massiv aufgeblasenen Veranstaltung innerhalb der Großen Koalition ausarten.

Aber was genau hat das Bundesverfassungsgericht heute eigentlich entschieden? Es hat nicht, wie manche Jubelmeldungen der Betreuungsgeldgegner den Anschein erwecken, diese Geldleistung aus inhaltlichen Gründen verworfen, beispielsweise weil dadurch „bildungsferne“ Schichten davon abgehalten werden, ihre Kinder frühzeitig in die Kita zu geben oder weil diese Leistung überkommene Rollenmodelle zwischen den Geschlechtern verfestigen könnten. Diese Punkte, die von der klageführenden Seite auch vorgebracht worden sind, spielen überhaupt keine Rolle in der Entscheidung, denn das BVerfG hat sich zurückgezogen auf das, wofür es primär zuständig ist: Eine Zuständigkeitsprüfung innerhalb des föderalen Systems.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Pressemitteilung zu seinem Urteil vom 21. Juli 2015 – 1 BvF 2/13 kompakt mit der Kernaussage der Entscheidung überschrieben: Keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Betreuungsgeld. Zu den wesentlichen Erwägungen des Senats, der zu der Entscheidung geführt hat, erfahren wir:

»Die Regelungen zum Betreuungsgeld sind dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zuzuordnen … Der Begriff „öffentliche Fürsorge“ ist nicht eng auszulegen. Er setzt voraus, dass eine besondere Situation zumindest potentieller Bedürftigkeit besteht, auf die der Gesetzgeber reagiert. Dabei genügt es, wenn eine – sei es auch nur typisierend bezeichnete und nicht notwendig akute – Bedarfslage im Sinne einer mit besonderen Belastungen einhergehenden Lebenssituation besteht, auf deren Beseitigung oder Minderung das Gesetz zielt. Dies ist beim Betreuungsgeld der Fall.
Die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG sind jedoch nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift hat der Bund – u. a. im Bereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG – das Gesetzgebungsrecht nur, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich machen.
Die Regelungen sind nicht zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erforderlich … Das bloße Ziel, bundeseinheitliche Regelungen in Kraft zu setzen oder eine allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse zu erreichen, genügt hierfür nicht …
Die Erforderlichkeit des Betreuungsgeldes zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ergibt sich auch nicht daraus, dass der Ausbau der Kindertagesbetreuung von Bund und Ländern seit Jahren gefördert wird und es darum einer Alternative zur Inanspruchnahme von Betreuung durch Dritte bedürfte. Das Merkmal der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zielt auf den Ausgleich von Nachteilen für Einwohner einzelner Länder zur Vermeidung daraus resultierender Gefährdungen des bundesstaatlichen Sozialgefüges, nicht aber auf den Ausgleich sonstiger Ungleichheiten.«

Und dann kommt ein wichtiger Passus aus der Entscheidung vor dem Hintergrund der Argumentation der Betreuungsgeldbefürworter, man wolle durch diese Leistung diejenigen, die keine öffentlich finanzierte Kindertagesbetreuung in Anspruch nehmen, „kompensieren“ – ein Argument, das auf der gegnerischen Seite schon immer größte Belustigung ausgelöst hat, denn würde man den Tatbestand einer Kompensationsleistung für die Nicht-Inanspruchnahme einer anderen öffentlich subventionierten Leistung akzeptieren, dann würde sich ein ganzes Universum an möglichen Kompensationsforderungen eröffnen:

»Auch der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet weder dem Bundes- noch dem Landesgesetzgeber, ein Betreuungsgeld zu gewähren, um eine vermeintliche Benachteiligung gegenüber jenen Eltern zu vermeiden, die einen öffentlich geförderten Betreuungsplatz in Anspruch nehmen. Das Angebot öffentlich geförderter Kinderbetreuung steht allen Eltern offen. Nehmen Eltern es nicht in Anspruch, verzichten sie freiwillig, ohne dass dies eine verfassungsrechtliche Kompensationspflicht auslöste.«

So ist das.

Und zu den bereits erwähnten inhaltlichen Infragestellungen des Betreuungsgeldes aus der Klageschrift will das Gericht sich nicht äußern, denn: »Die vom Antragsteller aufgeworfene Frage, ob die angegriffenen Vorschriften mit den Grundrechten vereinbar sind, bedarf keiner Antwort, weil die Bestimmungen wegen der fehlenden Gesetzgebungskompetenz nichtig sind.«

Wie geht es weiter? Auf alle Fälle stehen – das muss an dieser Stelle gleich angemerkt werden – keineswegs die gesamten 900 Mio. Euro, die im Bundeshaushalt etatisiert sind, zur anderweitigen Verwendung zur Verfügung, denn es gibt einen Bestandsschutz für die Eltern, die sich bereits im Bezug befinden (derzeit 455.000 Fälle, die Leistungen werden weiter finanziert werden müssen.
Wie bereits erwähnt, wird Bayern versuchen, bei den anstehenden Verhandlungen in der Großen Koalition die eingeplanten Mittel über eine anteilige Verteilung auf die Bundesländer zu bekommen, um keine eigenen Landesmittel einbringen zu müssen. Aber es ist absehbar, dass Bayern selbst im Falle einer Nicht-Verteilung der Bundesmittel auf ein bayerisches Betreuungsgeld nicht wird verzichten können – zu tief hat man sich bereits in eine Fortführung um jeden Preis reingeritten. Also wird man im aus Sicht Bayerns schlimmsten Fall auch auf eigene Landesmittel zurückgreifen.

Wohlgemerkt, für eine in mehrfacher Hinsicht fragwürdige, in Teilen sogar total unsinnige Geldleistung (vgl. aus den vielen Beiträgen auf dieser Seite zum Thema nur beispielhaft Ach, das Betreuungsgeld. 150 Euro eingeklemmt zwischen dem Bundesverfassungsgericht, den nicht nur bayerischen Inanspruchnehmern, den ostdeutschen Skeptikern und logischen Widersprüchen vom 14. April 2015).

Für eine Leistung, über die berichtet wird: »In einer Umfrage des Deutschen Jugendinstituts hatten 90 Prozent der Eltern angegeben, das Betreuungsgeld habe überhaupt keinen Einfluss auf ihre Entscheidung zur Kinderbetreuung.«