Mindestlohn auch für die Arbeit der Strafgefangenen? Das Bundesverfassungsgericht verhandelt darüber. Es wird sich aber wahrscheinlich nichts ändern

Am Tag der Arbeit des Jahrs 2022 wurde die vom Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nunmehr auch als Gesetzentwurf in das Parlament eingebrachte, im Wahlkampf des vergangenen Jahres versprochene Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde sicher in vielen Reden als eine erfreuliche und erfolgreiche Sache hervorgehoben. Ansonsten hätte es noch Jahre gedauert, bis man die 12 Euro erreicht hätte. Im Umfeld des „Entwurfs eines Gesetzes zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn und zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung“, BT-Drs. 20/1408 vom 13.04.2022 gibt es nun natürlich einen Aufschrei aus dem Lager der Arbeitgeberfunktionäre, die schlagzeilenträchtig mit einer möglichen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht drohen – und dafür zwei Auftragsgutachten eingekauft haben (vgl. dazu 12 Euro waren schon beschlossen – Jetzt eskaliert der Streit um den „Staatslohn“). Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hat gleich zwei Gutachten in Auftrag gegeben, die – wenig überraschend – zum Schluss kommen, dass der Mindestlohn in die Tarifautonomie eingreife und womöglich sogar gegen das Grundgesetz verstoße. Die Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit eines solchen Vorstoßes: »Allzu große Chancen räumen Juristen dem Verband allerdings nicht ein.«

In der öffentlichen Diskussion wenig beachtet wird der gesetzliche Mindestlohn an einer ganz anderen Stelle tatsächlich vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt. Da geht es allerdings nicht um seine Erhöhung, sondern um die Nicht-Gewährung dieser Lohnuntergrenze. Konkret geht es um die Vergütung der Arbeit der Strafgefangenen in den Justizvollzugsanstalten unseres Landes.

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Die Ambivalenz der „Ein-Euro-Arbeit“ im Knast und die seit Jahren offene Frage der Rentenversicherung von Strafgefangenen

Wer hat diese Bilder nicht vor Augen – aneinandergekettete Strafgefangene, die im Straßenbau schuften müssen. Früher war die Arbeit in „Chain Gangs“ eine besondere Bestrafung und auch die abschreckende Wirkung auf die Bevölkerung spielte eine Rolle. Nun wird man einwenden, dass das von ganz weit gestern ist. Und richtig: Vor allem in den amerikanischen Südstaaten waren die „Chain Gangs“ früher weit verbreitet – bis sie bereits 1955 im ganzen Land abgeschafft wurden. Also fast. Denn 2012 berichtete die FAZ mit einer Fotostrecke über Maricopa County in Arizona. Dort wurden die aneinandergeketteten Arbeitstrupps im Jahr 1995 wieder eingeführt – für weibliche Strafgefangene. Ansonsten spielt die Arbeit der Strafgefangenen im US-amerikanischen Strafvollzug eine weiterhin wichtige Rolle und angesichts der quantitativen Ausmaße – derzeit  sitzen mehr als 2,2 Millionen Menschen in US-Gefängnissen, das ist fast ein Viertel der weltweit Inhaftierten – überrascht es denn auch nicht, dass deren Billigst-Arbeit auch eine enorme ökonomische Bedeutung hat. Bis hin zu nur auf den ersten Blick skurrilen Aspekten wie der Unverzichtbarkeit der Knacki-Arbeit bei der Bekämpfung der Waldbrände in Kalifornien (dazu der Beitrag Ein sehr spezielles Billiglohnmodell in den USA: Warum man in Kalifornien Gefangene nicht vorzeitig aus dem Knast lassen möchte und was das mit den Waldbränden und ihrer Bekämpfung zu tun hat vom 18. November 2014). Nun sind die Verhältnisse in Deutschland, was den Strafvollzug angeht, wahrlich andere als in den USA. Nicht nur hinsichtlich der Haftbedingungen, sondern allein schon aufgrund der quantitativen Dimensionen.

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USA: Gefängnisse als lukrative Profitquelle, Reformimpulse des Bundes und das Aufbegehren einiger Insassen. Und bei uns?

Die USA sind ein in jeder Hinsicht großes Land. Groß, sehr groß, ist auch die Zahl der Menschen, die sich hinter Gittern befinden. Insgesamt sitzen mit 2,2 Millionen Menschen in den USA mehr Bürger im Gefängnis als in Russland und China zusammen. Verglichen mit Deutschland liegt die Quote neunmal höher pro Kopf der Bevölkerung.  Die USA stellen fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber 25 Prozent der Gefängnisinsassen. Seit 1980 hat sich die Zahl der Einsitzenden von 500.000 auf 2,2 Millionen mehr als vervierfacht. Und die meisten wird es auch nicht überraschen, dass es vor allem Schwarze und Latinos sind, die einsitzen. Beide Gruppen stellen 30 Prozent der Bevölkerung, aber mehr als 60 Prozent der Gefängnisinsassen. Einer von 35 männlichen Schwarzen und einer von 88 Latinos sitzt derzeit im Gefängnis. Dagegen sitzt nur einer von 214 weißen Männern in einer Haftanstalt. Das Thema Knast fasziniert und polarisiert in den Vereinigten Staaten. Auf der einen Seite: Die Netflix-Serie „Orange is the New Black“ ist Kult, sie spielt hinter Gittern. Davor gab es andere Serien wie „Prison Break“. Auf der anderen Seite war Barack Obama der erste Präsident überhaupt, der ein Gefängnis besucht hat. Dazu der Beitrag Obama verlangt Reform des US-Strafrechts von Marcus Pindur aus dem Juli 2015: »Die Visite in der Bundeshaftanstalt El Reno ist Teil seiner Bemühungen, eine Strafrechtsreform zu erreichen. Amerikas Gefängnisse sind nach Ansicht vieler Demokraten und Republikaner zu voll, die harten Strafen treffen Angehörige ethnischer Minderheiten überproportional. Das El-Reno-Gefängnis in Oklahoma ist in vieler Hinsicht durchschnittlich. 1.300 Gefangene, mittlere Sicherheitsstufe, zu fast 50 Prozent überbelegt. Die meisten Insassen sitzen wegen kleinerer Drogenvergehen ein, müssen aber teilweise drakonische Strafen verbüßen.«

„Hier sind junge Leute, die Fehler gemacht haben. Fehler, die sich nicht viel von denen unterscheiden, die ich gemacht habe, und die viele von Ihnen gemacht haben“, so Barack Obama beim Besuch des Gefängnisses.

Man muss sich das mal vorstellen: »In den 90er-Jahren, während der Crack-Kokain-Epidemie, führten viele Bundesstaaten drakonische Strafen selbst für kleinere Drogenvergehen ein. Wer in Kalifornien beispielsweise dreimal bei einem Drogendelikt erwischt wird, und seien es nur wenige Gramm Marihuana, den muss der Richter qua Gesetz lebenslang ins Gefängnis schicken.«

Selbst auf der republikanischen Seite gibt es Unterstützung für Obamas Anliegen einer Strafrechtsreform, beispielsweise vom Gouverneur Chris Christie, der so zitiert wird:

„Wenn wir schon Leute ins Gefängnis stecken, dann müssen wir ihnen etwas Sinnvolles zu tun geben, sie sollten nicht nur den ganzen Tag fernsehen. Wir sollten zum Beispiel darauf dringen, dass sie einen Highschool-Abschluss nachholen, damit ihre Chancen nach der Freilassung besser sind.“

Das war vor einem Jahr. Wie sieht es aktuell aus? Warum hat sich bislang so wenig getan? Man liegt nicht falsch mit der Annahme, dass es Interessen, mächtige Interessen geben muss, die einer solchen Reform entgegenstehen. Darüber berichtet Frank Wiebe in seinem Artikel Das lukrative Geschäft mit dem Knast.  Er weist darauf hin, dass viele Gefangene in privaten Haftanstalten einsitzen, und die bringen das große Geld. Die Politik will das ändern – zum Ärger der Aktienbesitzer.

»Sally Yates, stellvertretende Generalstaatsanwältin des Landes, möchte auf Bundesebene den Strafvollzug verbessern und sich von privaten Gefängnisbetreibern verabschieden.«
In einem Memorandum hat die Staatsanwältin ausgeführt:

»„Private Gefängnisse spielten eine wichtige Rolle in einer schwierigen Periode, aber im Lauf der Zeit hat sich gezeigt, dass sie im Vergleich zu den staatlichen Einrichtungen schlechter abschneiden. Sie bieten im Strafvollzug einfach nicht dasselbe Niveau an Service, Programmen und Ressourcen; sie bringen auch keine deutliche Kostenersparnis.“
Noch wichtiger aber ist: „Sie bieten nicht dasselbe Maß an Sicherheit.“ Es habe sich als schwierig erwiesen, Erziehungsprogramme in private Einrichtungen auszulagern – diese Programme seien aber wichtig, um Rückfälle von entlassenen Häftlingen zu vermeiden … Yates will daher bestehende Verträge auslaufen lassen und letztlich die privaten Gefängnisse ganz loswerden.«

Dieses von der Presse veröffentlichte interne Memorandum hat ganz handfeste Auswirkungen gehabt:

»Als Folge dieser Ankündigung brachen die Aktienkurse der privaten Gefängnisbetreiber dramatisch ein. Die Papiere von Corrections Corporation of America etwa rutschten um 35 Prozent ab. Das Unternehmen wurde 1983 gegründet und ist der größte private Gefängnisbetreiber der USA mit über 60 Einrichtungen und 90.000 Betten. Im ersten Halbjahr 2015 erzielte das Unternehmen 911 Millionen Dollar Umsatz und 104 Millionen Gewinn nach Steuern.«

Und das, obwohl die Ankündigung nur einen kleineren Teil der Gefängnisse betrifft, denn: »Die Bundesregierung kann … nur über die Bundesgefängnisse entscheiden. Die weitaus größere Zahl der Insassen befindet sich im Gewahrsam der 50 Bundesstaaten, die in großem Umfang über eigene Gefängnisse verfügen. Ebenfalls unberührt von der neuen Regelung bleiben offenbar auch Verträge der Einwanderungsbehörde mit privaten Anbietern.«

Nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund der kommerziellen, profitgetriebenen Interessen wird es nicht einfach werden, die verfehlte Strafvollzugspolitik in den USA zu verändern (vgl. dazu bereits auch meinen Blog-Beitrag Ein sehr spezielles Billiglohnmodell in den USA: Warum man in Kalifornien Gefangene nicht vorzeitig aus dem Knast lassen möchte und was das mit den Waldbränden und ihrer Bekämpfung zu tun hat vom 18. November 2014), obgleich es gute Gründe dafür gibt:

»Bereits seit einigen Jahren gibt es Versuche, die Zahl der Gefangenen zu senken – zum Teil aus humanitären Gründen, zum Teil aber auch, weil die Gefängnisse teuer sind. Zudem setzt sich die Erkenntnis durch, dass gerade in problematischen Stadtteilen häufig Jugendliche schon früh wegen kleiner Delikte hinter Gittern landen und dort erst zu richtigen Verbrechern werden.
Außerdem führen lange Gefängnisstrafen für Väter dazu, dass die Mütter mit allen Finanz- und Erziehungsproblemen alleine klar kommen müssen, was zur Benachteiligung der Kinder und damit oft gleich wieder zum Abrutschen in die Kriminalität führt«, so Frank Wiebe in seinem Artikel.

Auch Andreas Ross beschäftigt sich in seinem Beitrag Wie Amerika seine Gefangenen besser behandeln will mit dem Thema. Er berichtet von einer Gefangenenrevolte im Mai 2012 in einer Justizvollzugsanstalt des Bundes in Mississippi, die von dem privaten Gefängniskonzern Corrections Corporation of America betrieben wird. Die Forderungen der Gefangenen werden so zitiert: „Wir wollen besseres Essen, ärztliche Versorgung, Aktivitäten, Kleidung. Und wir wollen etwas Respekt!“

Aber auch Ross weist darauf hin, dass der Vorstoß für eine Justizreform seitens des Bundes nur eine sehr kleine Minderheit der Gefangenen insgesamt betrifft: Insgesamt haben wir 2,2 Million Gefangene in den USA. Von den knapp 200.000 Häftlingen des Bundes wurde noch nicht einmal jeder Achte in eine von dreizehn privaten Einrichtungen eingewiesen. Und von dem angekündigten Abschied von den privaten Betreibern ist auch nicht die Einwanderungspolizei betroffen, die kaum eigene Gefängnisse besitzt und die Inhaftierung zu deportierender Ausländer fast vollständig externen Dienstleistern überlässt.

»Die großen Gefängniskonzerne dürften weiterhin das Ohr maßgeblicher Politiker haben. Vor allem ihre Personalkosten fallen niedriger aus, weil Bundesstaaten als Arbeitgeber oft großzügigere Löhne und Sozialleistungen bieten müssen. Doch nach Ansicht der Kritiker führt gerade das zu einem Mangel an qualifizierten Wärtern und Betreuern, wodurch wiederum Sicherheits- und Gesundheitsrisiken entstünden.« Damit legt Ross den Finger auf eine klaffende Wunde. Er selbst formuliert das so: » In der Lobbymacht des in den vergangenen drei Jahrzehnten geradezu explodierten Wirtschaftszweigs liegt vielleicht das grundlegendste Problem, das die Privatisierung verursacht hat. Mit Wahlkampfspenden, Lobbying und „Formulierungshilfen“ für ehrenamtliche Volksvertreter versuchen sie, ihre Interessen durchzusetzen. Und das ist leicht zu ergründen: Wenn immer mehr Personen immer länger weggesperrt werden, dann locken umso saftigere Profite.«
Und gleichsam als Ausblick, der mehr als nachdenklich stimmen sollte:

»Den gegenläufigen Trend haben die Gefängniskonzerne natürlich nicht erst jetzt erkannt. Längst bieten sie den Staaten ihre Dienste auch auf den Gebieten des Drogenentzugs und der Betreuung geistig Kranker an. Immer mehr Politiker mögen in Rehabilitationsprogrammen die Lösung für ein gesellschaftliches Großproblem sehen. Für manche Unternehmen sind sie die nächste Wachstumsbranche.«

Und was ist mit den Betroffenen selbst? Über eine Entwicklungslinie berichtet Jürgen Heiser in diesem Artikel: Wider das Sklavensystem: US-Gefangene planen am 9. September landesweiten Streik in den Gefängnissen.

»Ab dem 9. September werden sich die Insassen zahlreicher US-Gefängnisse mit Arbeitsstreiks gegen ihre sich dramatisch verschlechternde Lage zur Wehr setzen. Das gab ein Aktionsbündnis bekannt, in dem sich Gruppen zusammengeschlossen haben, die Gefangene in ihrem Kampf um ihre Rechte und gegen den institutionellen Rassismus im Land unterstützen. Nach monatelangen Vorbereitungen gehen die Organisatoren derzeit von einer Beteiligung in wenigstens 20 US-Bundesstaaten aus.«

Der 9. September wurde nicht ohne Grund für die geplante Aktion ausgewählt: Der Tag »markiert den 45. Jahrestag eines Aufstands in der Haftanstalt von Attica im Norden des US-Bundesstaats New York. 1.500 Insassen, vorwiegend Schwarze und Latinos, erhoben sich 1971 gegen die unhaltbaren Zustände in dem berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis … Dabei starben 30 Gefangene und neun Wärter.«

Wogegen richten sich die geplanten Proteste?

»Die Kritik richtet sich hauptsächlich gegen den seit Jahren wachsenden Druck auf die Insassen, weil die Haftanstalten überfüllt sind, die medizinische Versorgung miserabel ist und Resozialisierungs- oder Wiedereingliederungsprogramme kaum noch existieren. Den zunehmend höheren Strafurteilen steht die immer seltenere Aussetzung der Strafen zur Bewährung gegenüber. So wächst das Heer rechtloser Zwangsarbeiter in der lukrativen Gefängnisindustrie staatlicher und privater Vollzugsanstalten. Wer dort keinen Willen zu arbeiten zeigt und sich nicht absolut der Anstaltsdisziplin unterwirft, verliert jeden Anspruch auf Hafterleichterungen oder vorzeitige Entlassung, wird statt dessen isoliert oder mit Besuchsverboten und ähnlichem schikaniert.«

Maßgeblicher Akteur ist die „Formerly Incarcerated, Convicted People and Families Movement“ (FICPFM), eine von Exgefangenen und ihren Familien gegründete Bürgerrechtsorganisa­tion im kalifornischen Oakland. Für den 9. und 10. September hat die FICPFM ihre erste nationale Konferenz nach Oakland einberufen.

Es tut sich also einiges, aber so bitter das klingen mag: Wirklich tiefgreifende Reformen sind erst dann zu erwarten, wenn die Kosten des irrsinnigen Strafvollzugssystems entsprechende Maßnahmen auslösen und gleichzeitig sollte man sich darüber bewusst sein, dass es in den USA zahlreiche Widerstände gegen eine Lockerung des Strafvollzugs gibt, die neben den ökonomischen Interessen der Gefängnisindustrie in Rechnung zu stellen sind.

Und bei uns?

Schauen wir zuerst auf die europäische Ebene. Hierzu hat Frieder Dünkel, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Universität Greifswald und Präsident der European Society of Criminology, einen aktuellen Beitrag verfasst unter der Überschrift The rise and fall of prison population rates in Europe:

»Europe in the early 2000s was rather clearly divided in the “good” and the “bad” countries on this basis. On the one hand we had the “good” Scandinavian countries, with very low prison population rates, and on the other hand Eastern European countries of the old Soviet empire, in particular Russia, the Ukraine and the Baltic states. These Eastern “bad guys” were competing with the US, the nation boasting the highest incarceration rates in the world, with more than 700 prisoners per 100.000 of the population.«

Bis in die frühen 2000er Jahre kann man in den Daten einen Anstieg der Zahl der Inhaftieren in Europa erkennen, was als Ausdruck des „punitive turn“ interpretiert wurde. England und Wales standen als Prototypen für das “neo-correctional model”.

Doch das hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Beispiel Niederlande: »Data for some Western European countries … indicate astonishing changes in prison population rates. The Netherlands, with traditionally low levels in the 1980s experienced a quadruplicating prison population by 2006, and then a decrease in the following 10 years by 46% (from 128 to 69).« In Deutschland hat die Zahl der Gefangenen seit 2003 um 22 Prozent abgenommen. Aber dieser Trend einer Abnahme der Gefangenenzahlen wird als nicht gesichert angesehen, denn »there is a great deal of uncertainty about future developments: The refugee problem could lead to a new wave of incarceration and the moderate crime policy development in some countries, such as Germany, could be reversed by terrorist acts and influence the penal climate … New right wing populist parties, although not yet part of the government, demanded tough crime policies, not only for extraditing foreigners and migrants more easily, but also for sentencing “ordinary” offenders.«

Auf der Ebene der Inhaftierten selbst kann berichtet werden, dass im Mai 2014 von mehreren Inhaftierten der JVA Tegel in Berlin die Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) gegründet worden ist. Das Anliegen und die Forderungen verweisen auf sozialpolitische Kernfragen. So kann man dem Selbstporträt der Organisation entnehmen:

»Die GG/BO stellt die soziale Frage hinter Gittern: kein Mindestlohn, keine Rentenversicherung, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kein Kündigungsschutz, kein „Hartz IV“ für Beschäftigungslose in der Haft – das ist die Realität des bundesdeutschen Strafvollzugs für Inhaftierte.
Die GG/BO, die vor und hinter den Gefängnismauern existiert, leitet aus dieser sozial- und arbeitsrechtlichen Diskriminierung Kernforderungen ab: Einbeziehung der inhaftierten Beschäftigten in den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn und in die komplette Sozialversicherungspflicht, Abschaffung der Arbeitspflicht, Aufstockung des Taschengeldsatzes und vor allem volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern.«

Zuweilen wird darüber auch in den Medien berichtet (vgl. z.B. Rente und Mindestlohn – auch hinter Gitter), sowie beispielsweise in dem Artikel Mindestlohn hinter Gittern von Janina Brühl aus dem Januar 2015. Zu dem Zeitpunkt ging es vor allem um den gesetzlichen Mindestlohn, der zum 1. Januar 2015 eingeführt worden ist, aber von dem die arbeitenden Gefangenen nicht profitieren:

»Sie kleben Tüten, polstern Sessel oder bauen Faltkartons zusammen. Zehntausende Häftlinge müssen in deutschen Gefängnissen arbeiten. Für die Bundesländer lohnt sich das, 150 Millionen Euro haben sie 2013 so eingenommen, die Häftlinge profitieren weniger: Sie verdienen zwischen sieben und 16 Euro – am Tag. Viele Insassen wollen sich das nicht mehr gefallen lassen, immer mehr schließen sich zu einer Art Knast-Gewerkschaft zusammen. Es begann vergangenen Sommer in Berlin, nun breitet sich die Idee in Nordrhein-Westfalen aus: Von der Justizvollzugsanstalt (JVA) Willich aus koordiniert der Gefangene André Schmitz, der wegen Drogenbesitzes einsitzt, die Arbeit im Westen. 100 Mitglieder hat er in kurzer Zeit gewonnen, bundesweit sind es bereits gut 400 aus 30 Gefängnissen. „Wir kämpfen gegen Ausbeutung“, sagt Schmitz. Zwei Ziele hat die Gruppe: Der neue Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde soll auch für arbeitende Häftlinge gelten. Und der Staat soll für sie in die Rentenversicherung einzahlen. Denn für die Zeit der Knastarbeit fehlt den Gefangenen im Alter die Rente.«

Und schon sind wir mittendrin in den Tiefen und Untiefen des deutschen Sozialrechts. In dem Artikel wird der Strafrechtsexperte Bernd Maelicke zitiert: »Häftlinge seien bereits in der Arbeitslosenversicherung, warum also nicht auch in der Rentenversicherung? „Bei lebenslang sind das schnell mal 15 Jahre, in denen ein Gefangener arbeitet, aber nichts für seine Rentenkasse zusammenkommt. Da ist Altersarmut zwangsläufige Folge“, sagt Maelicke. Das empfänden viele Häftlinge als doppelte Bestrafung.«

Matthias Birkwald, der Rentenexperte der Linken-Fraktion im Bundestag, verweist darauf, dass laut Gesetz nur derjenige einen Rentenanspruch erwirbt, der freiwillig arbeitet. Doch in 13 der 16 Bundesländer herrscht hinter Gittern Arbeitspflicht. Deshalb müssten alle Länder die Arbeitspflicht abschaffen, fordert Birkwald.

Und erneut werden wir Zeugen unterlassenen Tuns in der Vergangenheit und den Folgen einer Föderalisierung in Verbindung mit Bundesländern, die Haushaltsprobleme haben, denn:

»Eigentlich sollte das Problem seit 37 Jahren gelöst sein: Das Strafvollzugsgesetz von 1978 sieht eine Sozialversicherung für Gefangene vor – der Bund hat das nur nie umgesetzt. Seit der Föderalismusreform kümmern sich die Länder um die Gefangenen. Sie müssten den Arbeitgeberanteil zahlen, die meisten wollen das aber nicht.«

An dieser Stelle setzt ein neuer Vorstoß an: Der Deutsche Verein für öffentlich und private Fürsorge hat im Juni 2016 Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung verabschiedet und veröffentlicht, die sich genau auf diesen vor über dreißig Jahren im Gesetz verankerten Punkt der Einbeziehung in die Rentenversicherung (§§ 190, 198 Abs. 3 StVollzG) beziehen.

Der Deutsche Verein empfiehlt dem Gesetzgeber

  • Strafgefangene in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen und hierzu ein entsprechendes Bundesgesetz zu verabschieden,
  • in diesem Gesetz niederzulegen, dass der Anknüpfungspunkt für die Leis- tung von Beiträgen jede im Vollzugsplan festgelegte und gegen Arbeitsentgelt geleistete Arbeit, arbeitstherapeutische oder sonstige Beschäftigung sowie gegen Ausbildungsbeihilfe geleistete Teilnahme an einer Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung oder anderen ausbildenden oder weiterbildenden Maßnahmen ist,
  • mit diesem Gesetz sicherzustellen, dass im Strafvollzug geleistete Arbeit in Anbetracht der zur Bemessung ungeeigneten geringen Verdienste der Gefangenen vollständig – d.h. sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerbeitrag – in einer angemessenen Höhe der Bezugsgröße getragen wird.

»Aufgrund der landesrechtlichen Kompetenz im Strafvollzug bedarf ein solches Gesetz der Zustimmung der Länder. Der Deutsche Verein appelliert an die Länder, einem Bundesgesetz zur Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung zuzustimmen.«

Wir werden sehen, dass die damit verbundenen Kosten nicht erwarten lassen, dass der Vorstoß demnächst bzw. überhaupt umgesetzt wird.

Abbildung 1: Dünkel, Frieder (2016): The rise ans fall of prison population rates in Europe 

Immer weniger, immer billiger, immer schlechter? Der Verfallsprozess öffentlicher Dienstleistungen und was der Knast mit dem zum Kunden deklarierten Bürger (nicht) zu tun hat

Schon seit vielen Jahren müssen wir einen Verfallsprozess in
Teilbereichen der öffentlichen Dienstleistungserbringung erleben, der sich aus
mehreren Quellen speist. Generell kann man beobachten, dass viele öffentliche
Dienstleistungen quantitativ eingedampft wurden, also immer weniger Leistungen
erbracht werden – nicht verwunderlich ist dabei, dass das vor allem in
personenbezogenen Dienstleistungsbereichen stattfindet, denn die sind mit
entsprechenden Personalkosten verbunden. Tendenziell kann man sagen, dass –
analog zu dem, was  in „normalen“ Unternehmen
passiert – diejenigen, die geblieben sind, deutlich mehr machen müssen als
früher. Dieser grundsätzliche Rationalisierungsprozess, der im Bereich der
öffentlichen Dienstleistungen immer schon verzögert abgelaufen ist im Vergleich
zu  dem, was viele Arbeitnehmer in der
„normalen“ Wirtschaft erleben mussten und müssen, wird angereichert um eine
weitere Dimension, die ebenfalls eine Kopie dessen ist, was wir in den
profitorientierten Betrieben erleben – immer billiger soll die Arbeit gemacht
werden, zumindest aber Teile der Arbeit. Ob durch Leiharbeit und neuerdings
verstärkt über Werkverträge, über Tarifflucht oder Ausgliederung – im Bereich
der öffentlichen Dienstleistungen läuft das oftmals über Auslagerung aus dem
bislang staatlichen Bereich im Sinne einer Privatisierung, die das dann eben
„billiger“ erledigen können, weil beispielsweise deren Beschäftigte nicht
tarifgebunden arbeiten müssen oder zu niedrigeren Tarifen als die bislang
öffentlich Beschäftigten. Zuweilen auch, weil diese Dritten tatsächlich
ökonomisch effizienter arbeiten als manche nicht nur verkrustet daherkommende
staatliche Einrichtungen.

Das war übrigens auch der Ausgangspunkt einer Entwicklung,
die unter dem Begriff „New Public Management“ Anfang der 1990er Jahre seinen
Siegeszug in den westlichen Gesellschaften angetreten hat. Der Soziologe Colin
Crouch, der den Begriff der „Postdemokratie“ geprägt hat, wirft in seinem
Artikel Kunde statt
Bürger
einen kritischen Blick auf das, was da seit den 90er Jahren passiert
ist. 1993 »erschien in den USA das Buch „Der innovative Staat. Mit
Unternehmergeist zur Verwaltung der Zukunft“ von David Osborne und Ted Gaebler.
Die Idee fand in vielen Ländern Anklang, vor allem aber bei der OECD
(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).« Da ist sie
wieder, die OECD, die ja auch beispielsweise für die Pisa-Studien
verantwortlich zeichnet, die bekanntlich und wahrlich nicht unumstritten
erhebliche „Reform“prozesse in den Bildungssystemen vieler Länder ausgelöst
hat.

Interessant ist der Hinweis von Crouch, dass es am Anfang
dieser Entwicklung keineswegs um einen Generalangriff auf den öffentlichen
Dienst und den Staat an sich ging. »Keiner der Autoren war ein Feind des
öffentlichen Dienstes. Vielmehr befürchteten sie, dass er ineffizient und
zunehmend unnahbar werde, weil er von jenem Wettbewerbsdruck verschont war, der
privaten Anbietern Anreize zu ständigen Verbesserungen gerade auch im Bereich
der Kundenfreundlichkeit gibt. Sie wollten den öffentlichen Sektor retten,
indem sie Verfahren vorschlugen, um diesem Problem entgegenzuwirken«, so
Crouch. Wie so oft werden wir auch hier mit einer Entwicklung konfrontiert, die
mit einer guten oder zumindest diskussionswürdigen Absicht startet, dann aber
im weiteren Verlauf instrumentalisiert und deformiert wird. Ein zentraler
Ausgangsvorwurf der Vertreter des „New Public Managements“ an den öffentlichen
Dienst alten Zuschnitts war, »er habe seine Nutzer nicht als Menschen, sondern
gleichsam als Objekte betrachtet, weshalb es zu erheblichen Verbesserungen für
diese führen müsse, wenn sie den Status von „Kunden“ erhielten.« Aus einer
unbefangen-naiven Sicht erscheint das als ein durchaus ehrenwertes Anliegen,
das ja auch deshalb auf fruchtbaren Boden gefallen ist, weil viele Menschen,
die in zahlreichen staatlichen Systemen eher die Erfahrung des Bittstellertums
gemacht haben (und machen), der Kundenbegriff assoziiert ist mit der „Kunde als
König“ und damit die Hoffnung auf einen besseren Umgang.

Colin Crouch sieht Großbritannien als einen besonderen
Treiber dieser Entwicklung und die Transformation der Labour Partei unter Tony
Blair, der 1994 Vorsitzender wurde, zu „New Labour“ ist Ausdruck dieser
Geisteshaltung einer auf Markt und Wettbewerb und Abbau klassischer Steuerungsmechanismen
des Staates setzenden Philosophie. In diesem Kontext darf daran erinnert
werden, dass die „Hartz-Kommission“ 2002 umfangreiche Anleihen beim britischen Jobcenter-Modell
gemacht hat, die dann in die Vorschläge der Kommission und in die „Hartz-Gesetze“
eingeflossen sind:

»Den Nutzer öffentlicher Dienstleistungen als „Kunden“ zu
bezeichnen, ist zunächst einmal eine britische Spezialität (die in Deutschland
von der Bundesagentur für Arbeit übernommen wurde). Eine Zeit lang haben die
Behörden sogar mit dem Gedanken gespielt, Gefängnisinsassen zu „Kunden“ zu
erklären, für die man immerhin die Dienstleistung des Freiheitsentzugs
erbringe. Aus den offiziellen Verlautbarungen des britischen Transportwesens
indes ist das Wort „Fahrgast“ komplett verschwunden, dort ist nur mehr von
„Kunden“ die Rede.«

Auf die Gefängnisse werden wir gleich noch wieder zu
sprechen kommen.
Dann bringt Crouch einen interessanten Satz: »Das einzige
Merkmal, das den „Kunden“ von anderen Dienstleistungsnutzern unterscheidet, ist
seine Absicht, den fraglichen Service käuflich zu erstehen.« Genau daran kann
man aber mit Blick auf Arbeitslose oder Knastinsassen oder Teilnehmer an einer
Jugendhilfemaßnahme zweifeln.

Ein weiterer Aspekt ist darin zu sehen, dass das
„Kunden“-Konzept unvermeidlich eine Ungleichheit impliziert, die sich mit dem
Konzept eines mit Rechten ausgestatteten Staatsbürgers nicht verträgt. In jedem
privatwirtschaftlichen Unternehmen werden Kunden mit hoher Kaufkraft besser
behandelt als solche mit geringer – es gibt im privaten Sektor keine
Entsprechung zum staatlichen Konzept der Gleichheit vor dem Gesetz, so Crouch.
Man könnte hier eine Ursprungsquelle erkennen für äußerst umstrittene Konzepte
einer Kategorisierung von hilfesuchenden Menschen in der Arbeitsverwaltung nach
ihrer jeweiligen – unterstellten bzw. ihnen zugeschriebenen – „Marktnähe“, aus
der dann ganz unterschiedliche Konsequenzen für die Ausgestaltung des „Fördern
und Fordern“ resultieren.
Der entscheidende Punkt: Die Differenzierung der Kunden nach
ihrer „Werthaltigkeit“ ist in der normalen Wirtschaft eine absolut logische
Konsequenz, die allerdings ihre Schattengesichtigkeit offenbart, wenn man diese
Logik auf öffentliche Dienstleistungen überträgt. Crouch verdeutlicht das an
einem illustrativen Beispiel aus der britischen Diskussion:

»Im August 2009 erklärte der Konservative Mike Freer, damals
Vorsitzender der Bezirksverwaltung des Londoner Stadtbezirks Barnet, die
Kommune wolle sich mit ihrem Dienstleistungsangebot künftig am „Modell Ryanair“
orientieren. Die Bezirksverwaltung werde den Bürgern elementare
Dienstleistungen kostenlos zur Verfügung stellen und sie für alles darüber
Hinausgehende zur Kasse bitten.
So sollten etwa Bewohner kommunaler Altenheime einfache
Mahlzeiten kostenlos erhalten, besseres Essen aber nur gegen Aufpreis. Wer eine
Baugenehmigung beantragen wolle, könne gegen Entrichtung einer Gebühr in der
Warteliste nach vorne rücken, ähnlich wie die Passagiere (oder vielmehr Kunden)
von Ryanair per Aufschlag einen bestimmten Sitzplatz erwerben können. In
Anlehnung an den Namen einer anderen Fluggesellschaft sprechen Befürworter wie
Kritiker des Konzepts auch vom „easyCouncil“ … In Barnet hat man inzwischen
so gut wie alle öffentlichen Aufgaben an Privatfirmen outgesourct, die Mehrzahl
an Unternehmen der Capita Group. Bürger, die sich mit einem Anliegen ans
Rathaus wenden, werden an eines der vielen Callcenter der Firma verwiesen.
Infolgedessen verfügt die Kommunalverwaltung heute nicht mehr über die nötige
Sachkompetenz, um die Qualität der fremdvergebenen Dienstleistungen zu
beurteilen. Sie beschäftigt beispielsweise keine eigenen Juristen mehr – und
geht damit einen großen Schritt weiter, als es Billigfluglinien je auch nur
erwägen würden.« (vgl. zu Barnet auch den Artikel Outsourced
and unaccountable: this is the future of local government
).

 Immer weniger und immer schlechter kann man auch bei uns an
vielen Stellen beobachten. Zu welchen – nur auf den ersten Blick kuriosen –
Effekten der nur noch als pathologisch zu bezeichnende „Immer-weniger-Personal“-Wahn
führen kann, soll das folgende Beispiel illustrieren: Unter der Überschrift Häftlinge
prügeln sich, weil Wärter fehlen
berichtet Frank Bachner über die Situation
in der Justizvollzuganstalt Berlin-Tegel. Mehr als 800 Männer sitzen in der JVA
Tegel ein. Oft müssen sie fast den ganzen Tag in der Zelle bleiben – und werden
deshalb immer aggressiver, was nicht wirklich verwundern sollte. „Wenn du 23
Stunden eingeschlossen bist und in der Zelle kein Radio und keinen Fernseher
hast, drehst du durch. Dann züchtet man dort regelrecht Bomben.“ Mit diesen
Worten wird ein ehemaliger Häftling zitiert. Aus Sicherheitsgründen produziert
man ein Sicherheitsrisiko, so lässt sich das zusammenfassen, denn natürlich
weiß man, dass das Wegschließen keine gute Sache ist:

»Aber es geht nicht anders. Wärter fehlen. Wärter, die
Freistunden beaufsichtigen, Wärter, die in den Betrieben aufpassen, Wärter, die
bei den Sportstunden kontrollieren. Und wenn Wärter fehlen, müssen die
Gefangenen notfalls in ihren Zellen bleiben, 23 Stunden lang. Aus
Sicherheitsgründen.«

21 Stellen im Vollzugsdienst sind derzeit nicht besetzt,
19 Stellen sollen im kommenden Jahr wegfallen. Und die, die auf dem Papier da
sind, müssen es nicht auch in der Realität sein. Im August gab es an einem Tag
einen Krankenstand von 17,7 Prozent.

Im August gab es in Tegel in der Nähe der Essensausgabe eine
Massenschlägerei. „Diese Prügelei wundert mich nicht, das ist die Folge des
Personalmangels“, so wird ein Beschäftigter der JVA zitiert. Und noch ein weiteres
Beispiel aus dem August dieses Jahres, das die ganze Skurrilität der möglichen
Folgen des Personalmangels aufzeigen kann:

»In der JVA Plötzensee griff in der Freistunde ein
Gefangener eine Wärterin mit einem Besteckmesser an. Andere Gefangene überwältigten
ihn und führten ihn in eine gesicherte Zelle. Gefangene, nicht Wärter. Die
standen nicht zur Verfügung.«

Jetzt wird die Arbeit der Vollzugsbeamten schon
„outgesourct“ an die Gefangenen, sorry: an die Kunden der Justizverwaltung. Und
das System kann froh sein, dass das sogar funktioniert.
Und auch die Bedeutung von Arbeit kann man diesem
Fallbeispiel entnehmen:

»Es gibt Teilanstalten in Tegel, die zeitweise nur mit der
Hälfte des geplanten Personals arbeiten. Und wenn für einen der 14 Betriebe …
genügend Aufsichtspersonal fehlt, wird der Betrieb an diesem Tag geschlossen.
Die Gefangenen müssen dann in ihren Zellen bleiben. Im ersten Halbjahr 2015 gab
es in Tegel an 37 Tagen Betriebsschließungen. 37 Impulse, die eine gefährliche
Spirale in Gang bringen können. Wer nicht arbeitet, verdient kein Geld, wer
kein Geld verdient, kann sich weniger Kaffee und Zigaretten kaufen, eine
wichtige Währung im Gefängnis. Dann kann man auch weniger tauschen. 23 Stunden
in der Zelle kommen noch dazu. Kein Kaffee? Keine Zigaretten? Für einen
Gefängnispsychologen, der große Anstalten kennt, ist das eine
Horrorvorstellung: „Für viele sind Kaffee und Zigaretten ein Ventil. Die dienen
auch zum Spannungsabbau. Wenn sie es nicht haben, setzt sie das noch mehr unter
Spannung.“ 23 Stunden in der Zelle erhöhen den Druck.«

Aber in der JVA Tegel werden trotzdem Stellen gestrichen, eine
Folge von „Organisations- und Strukturänderungen“. Auch so ein Folterbegriff
für ganz viele Arbeitnehmer heute.
Perspektiven der Fortschreibung dieser Entwicklung?
Outsourcing ist das Stichwort. Dass man unsere 5-Euro-T-Shirts in Myanmar oder
demnächst wo auch immer produzieren lässt, daran haben wir uns ja schon – seien
wir ehrlich – gewöhnt. Und das osteuropäische Billigstarbeiter unser
Hackfleisch machen, da wird zwar die Nase gerümpft, aber die meisten wenden
sich beim Gedanken an Massentötungen im Sekundentakt schnell wieder anderen
Themen zu. Aber wie wäre es mit diesem Beispiel aus der Knast-Welt?

»Zu viele Häftlinge, zu wenig Platz. Norwegen hat ein
Problem mit der Unterbringung von Straftätern. Praktisch: In den Niederlanden
stehen viele Zellen leer. Oslo mietet kurzerhand ein komplettes Gefängnis – die
niederländischen Vollzugsbeamten gleich mit.«

Das kann man dem Artikel Oslo
schickt Straftäter in die Niederlande
entnehmen. »Schon seit 2010 sitzen
650 belgische Straftäter in einem von einem Belgier geleiteten niederländischen
Gefängnis in Tilburg ein. Für die Norweger gilt ebenso wie für die Belgier: Im
Strafvollzug gilt das Recht des Heimatlandes. Die Vollzugsbeamten in
Norgerhaven wurden dementsprechend geschult. Sie mussten auch ausreichend
Englisch lernen, um sich mit den Häftlingen verständigen zu können.« Das sind
doch Perspektiven. Für die Apologeten des New Public Management. Die werden
sich freuen und sicher „Effizienzvorteile“ durch „intelligente Arbeitsteilung
aufgrund von Kostendifferentialen“ bestimmen können.
Aber für die Gesellschaft stellt sich die Frage, ob und wie
wir von der Rutschbahn des immer weniger, immer billiger und immer schlechter
in der öffentlichen Daseinsvorsorge runterkommen können. 

Jugendgewalt und Jugendkriminalität zwischen medialem Aufgussthema, ernüchternden Befunden aus der Forschung und einem „skeptischen Restgefühl“

In regelmäßigen Abständen wird man vor dem Bildschirm konfrontiert mit einer natürlich bedrohlich daherkommenden punktuellen Skandalisierung des Themas Jugendgewalt und generell Jugendkriminalität, nicht selten hinterlegt mit dem Hinweis auf eine überproportionale Beteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund und gerne mit einem besonderen Fokus auf die jugendlichen „Intensivtäter“, die ja auch tatsächlich schon früh eine „beeindruckende“ Liste an Straftaten aufweisen können. Vor kurzem war es wieder soweit. Eine ganze Packung wurde dem normalen Fernsehzuschauer serviert:

Am 19.11.2014 konnte man im ARD-Fernsehen Das Ende der Geduld sehen, eine fiktive Geschichte rund um die Jugendrichterin Corinna Kleist. Es handelt sich um die fiktionale Aufarbeitung der Geschichte der echten Jugendichterin Kirsten Heisig. Hinzu kam eine Dokumentation zum Themenabend: „Tod einer Richterin – Auf den Spuren von Kirsten Heisig“. Und damit das nicht alleine stehen bleibt, wurde an diesem Abend das Thema auch bei „Anne Will“ aufgerufen. Die Sendung wurde breit rezensiert, vgl. beispielsweise Wer stoppt die jungen Intensivtäter? oder Der Ausländer ist natürlich der Kriminelle. Katrin Hummel erinnert in ihrem Beitrag an Kirsten Heisig: »Die Berliner Jugendrichterin legte mit dem „Neuköllner Modell“ die Grundlage dafür, dass jugendliche Straftäter schneller vor Gericht gestellt werden. Sie ragte mit ihrer Vorgehensweise heraus und machte sich viele Feinde. Ihre eigenen Probleme blieben verborgen. 2010 nahm sie sich das Leben.« Das angesprochene „Neuköllner Modell“, das auf Heisig zurückgeht, soll zur ef­fek­ti­ve­ren Straf­ver­fol­gung von ju­gend­li­chen Straf­tä­tern füh­ren. Diese soll­ten sich bei klei­ne­ren De­lik­ten in ei­nem ver­ein­fach­ten Ju­gend­straf­ver­fah­ren mög­lichst schnell nach der Tat vor Ge­richt ver­ant­wor­ten müs­sen. „Schnell“ meint meist drei bis fünf Wochen. 

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