Die Rente könnte sicher sein, auch das Rentenniveau, wenn … Gestaltungsvorschläge angesichts der Baufälligkeit des „Drei-Säulen-Modells“ der Alterssicherung in Deutschland

Bekanntlich fällt es oftmals leichter, eine passgenaue und
ernüchternde Analyse sozialpolitischer Zusammenhänge vorzulegen, als
Lösungsvorschläge zu präsentieren oder wenigstens zur Diskussion zu stellen.
Dieser Aspekt wird manchem durch den Kopf gegangen sein bei der
Auseinandersetzung mit einer neuen Studie, die aufzeigen kann, dass das
„Drei-Säulen-System“ der Alterssicherung in Deutschland erhebliche Baumängel
aufweist: Ingo Schäfer zeigt in seiner Veröffentlichung Die
Illusion von der Lebensstandardsicherung. Eine Analyse der Leistungsfähigkeit
des „Drei-Säulen-Modells“
: „Auch wer heute über alle drei Wege spart, wird
nicht an das einstige Leistungsniveau der gesetzlichen Rente herankommen.“
Das Hauptproblem: Die Renten aus allen drei Säulen steigen nicht so stark wie
die Löhne und verlieren dadurch während des Bezugs massiv an Wert. Höchstens
zum Zeitpunkt des Renteneintritts kann eine idealtypische Umsetzung des
„Drei-Säulen-Modells“ wie von der Bundesregierung behauptet die
„Lebensstandardsicherung“, also das Verhältnis zwischen der Rente und
dem versicherten Einkommen (auch „Versorgungsniveau“ genannt),
zusagen – aber dann hört ja die Geschichte nicht auf und das Problem breitet sich
aus: Über die Jahre wird die Rente gemessen an den Löhnen erheblich an Wert
verlieren und das Verhältnis ständig schlechter, so Ingo Schäfer (vgl. hierzu
den Beitrag Die
Rente ist sicher. Immer weniger wert. Auch wenn man sich idealtypisch verhält
und alle drei Säulen bedient
vom 22.08.2015).

Aber was sollte und könnte
man tun, wenn man denn wollte? Dazu hat nun der Rentenexperte Johannes Steffen
eine interessante Veröffentlichung vorgelegt: Für
eine Rente mit Niveau. Zum Diskurs um das Niveau der Renten und das
Rentenniveau
, so hat er seine Ausarbeitung überschrieben. Darin findet man
nicht nur eine prägnante Zusammenfassung der rentenpolitischen Entwicklung vor
allem seit den „Rentenreformen“ der damaligen rot-grünen Bundesregierung Anfang
des Jahrtausends, sondern er zeigt Wege auf, die man gehen könnte, um das
Kardinalproblem des gesetzlichen Rentenversicherungssystems, also das sinkende
Rentenniveau, in den Griff zu bekommen. Seine besonders hervorzuhebende
Leistung besteht darin, dass die damals politisch beschlossene Absenkung des
allgemeinen Rentenniveaus, die seitdem gleichsam einen unantastbaren Charakter
zugeschrieben bekommen hat, nicht nur infrage gestellt, sondern auch eine
Umkehrung dieses rentenpolitischen Entwicklungspfades gefordert und mit
konkreten Schritten versehen wird.


»Zu Beginn des Jahrhunderts beschloss die rot-grüne
Bundesregierung eine drastische Absenkung des Rentenniveaus. Bis Anfang der
2030er Jahre wird der allgemeine Leistungsstandard der gesetzlichen Rente
demnach um rund 20 Prozent sinken. Staatlich geförderte betriebliche
Altersversorgung sowie private Altersvorsorge sollen die im Solidarsystem politisch
aufgerissene Sicherungslücke schließen.« Genau das ist nicht erreicht worden,
wie auch die Studie von Ingo Schäfer hat aufzeigen können.

Johannes Steffen weist dann auf einen systematischen, in der
allgemeinen Renten-Diskussion allerdings grob vernachlässigten Zusammenhang
hin:
In der Rentenpolitik gewinnen klientelgeleiteter Aktionismus
– dies gilt für große Teile des 
„Rentenpakets“ aus dem Jahr 2014 – und Placebo-Projekte die Oberhand, so
die in der vergangenen Wahlperiode gescheiterte und nun im Koalitionsvertrag
wieder aufgewärmte und mit dem Adjektiv „solidarisch“ drapierte  „Lebensleistungsrente“. Dazu Steffen: »Maßnahmen,
die immer auch als Ablenkungsmanöver vom derweil ungebremst weiter sinkenden
Rentenniveau politisch in Szene gesetzt werden – und Maßnahmen, die zwar das
Niveau der von ihnen begünstigten Renten anheben, die aber unter der geltenden
Anpassungsformel gleichzeitig zu einer Forcierung der Niveauabsenkung für alle
Renten beitragen.«

Das ist der entscheidende und leider sehr schmerzhafte
Punkt: Leistungsverbesserung für einige führen in der Gesamtheit aufgrund der
Mechanik der Rentenanpassungsformel dazu, dass das Kollektiv mit einer
Verschärfung der Rentenniveauabsenkung für alle konfrontiert wird, weil man
eben nicht an die Mechanik der Formel herangegangen ist.

Wie konnte es zu der gewaltigen Rentenniveauabsenkung
überhaupt kommen? Steffen verweist hier auf den fundamentalen Paradigmenwechsel
in der Rentenpolitik Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre und meint:

»Den Wechsel von einer am Leistungsziel orientierten
Einnahmepolitik (das Sicherungsziel
bestimmt die Beitragssatzhöhe
) hin zu einer am Beitragssatz orientierten
Ausgabenpolitik (die Beitragssatzhöhe
bestimmt das Sicherungsziel
).«

Zur Legitimation wurde damals zum einen auf die
demografische Entwicklung verwiesen sowie zum anderen aus der
„Standort“-Debatte der 1990er Jahre auf die angeblich nicht mehr stemmbaren
„Lohnnebenkosten“ für die Arbeitgeber aufgrund der steigenden Beitragssätze.
Hinzu kam damals »eine auf geradezu kindlichem Glauben an die unerschöpfliche
„Ergiebigkeit“ der kapitalmarktabhängigen Altersvorsorge gründende Lobpreisung
des Kapitaldeckungsverfahrens«, das dann in Form der „Riester-Rente“ in das
Alterssicherungssystem als weitere staatlich geförderte Säule eingezogen wurde.

Eine zentrale Folge des angesprochenen Paradigmenwechsels
hin zu einer am Beitragsziel orientierten Ausgabenpolitik: Der Beitragssatzanstieg
zur allgemeinen Rentenversicherung wurde faktisch auf maximal 20 Prozent bis
zum Jahr 2020 und maximal 22 Prozent bis zum Jahr 2030 gedeckelt. Und diese
Deckelung hatte Konsequenzen, denn auf der Ausgabenseite musste es nun
Ausgabenkürzungen geben – und diese nicht einmalig, sondern systematisch. Und
diese Systematik hat man realisiert über eine neue Rentenanpassungsformel, über
die dann die drastische Senkung des Rentenniveaus um rund ein Fünftel bis zu
Beginn der 2030er Jahre modelliert worden ist.
Nun ist es mittlerweile immer stärker bewusst geworden, dass
die Absenkung des Rentenniveaus im Zusammenspiel mit unterdurchschnittlichen
Einkommen (man denke hier an die vielen Niedriglöhner) und unvollständigen
Erwerbsbiografien aufgrund von Arbeitslosigkeit oder durch andere Gründe
bedingte Ausstiege aus der Beitragszahlung aus Erwerbsarbeit dazu führen muss,
dass es für bestimmte Personengruppen erhebliche Sicherungslücken im Alter
geben wird, die dazu führen werden, dass die Betroffenen auf ergänzende Leistungen
aus dem Grundsicherungssystem für Ältere angewiesen sind bzw. mit steigender
Tendenz sein werden. Darauf hat die Politik zu reagieren versucht, allerdings
wenig systematisch, wie Steffen argumentiert:

»So konzentrieren sich die wenig systematischen Ansätze von
CDU/CSU, SPD und GRÜNEN denn auch in der Hauptsache auf Maßnahmen und/oder
Instrumente, die eine Erhöhung von Anwartschaften im Einzelfall – Summe der
(persönlichen) Entgeltpunkte – zum Ergebnis haben (Anhebung des Niveaus der
Renten). Dieser Ansatz war schon für das zunächst gescheiterte Konzept der
sogenannten Lebensleistungsrente aus der vergangenen Wahlperiode kennzeichnend
und es findet seinen Niederschlag auch in dem von der großen Koalition für die
laufende Legislaturperiode angekündigten Vorhaben einer  „solidarischen Lebensleistungsrente“. So
sollen langjährig Versicherte mit 35 (bis 2023) bzw. 40 Versicherungsjahren und
nach Einkommensprüfung eine Aufwertung ihrer Pflichtbeitragszeiten erfahren,
sofern sie ansonsten – und bei (ab 2024) kontinuierlich betriebener privater
Vorsorge – im Alter auf weniger als 30 Entgeltpunkte kommen. Wird dieses Ziel
im Einzelfall verfehlt, so soll bei vorliegender sozialhilferechtlicher
Bedürftigkeit ein weiterer Zuschlag bis zu einer Gesamtsumme von 30
Entgeltpunkten gewährt werden. – Ähnlich der Ansatz der GRÜNEN in ihrem Konzept
einer Garantierente, die Versicherten bei Vorliegen von 30 und mehr
Versicherungsjahren mindestens 30 Entgeltpunkte garantieren soll.«

Beide Vorstöße kommen lobenswert daher, geht es doch darum,
den Bezug von bedürftigkeitsabhängigen Grundsicherungsleistungen nach
langjähriger Zugehörigkeit zum Pflichtversicherungssystem zu verhindern bzw. zu
reduzieren. Wer kann schon etwas dagegen haben? Aber:

»All diese Maßnahmen führen zweifelsohne zu einer
Verbesserung des Niveaus der Renten. Eine Wirkung, die im Übrigen allen
Maßnahmen zukommt, die die Guthaben auf den Versichertenkonten erhöhen. Vom
Niveau der (einzelnen) Renten streng zu unterscheiden ist das Rentenniveau und
dessen Entwicklung.«

Anders ausgedrückt: Die eine gut gemeinte Maßnahme wird
zumindest teilweise sofort wieder kompensiert durch die negativen Wirkungen,
die sich aus einer anderen Mechanik im Rentensystem ergeben, denn beim »Rentenniveau
… geht es nicht um den Umfang der Anwartschaften, also die Summe der
(persönlichen) Entgeltpunkte, sondern um deren Wert oder Bewertung.
Ausschlaggebend für den Wert der Anwartschaften ist die Höhe des aktuellen
Rentenwerts (AR). Infolge der politisch vorgegebenen Abkoppelung der Renten von
der Lohnentwicklung verlieren die Rentenanwartschaften (Entgeltpunkte) aber
kontinuierlich an Wert – immer verglichen mit dem jeweiligen Stand der Löhne.
Dieser Prozess der Entwertung von Anwartschaften wird von keiner der
aufgeführten Maßnahmen verzögert und erst recht nicht gestoppt; auch die
genannten Leistungsverbesserungen selbst sind daher von der Rentenniveausenkung
betroffen und verlieren im Laufe der Zeit kontinuierlich an Wert.«

Das alles wäre schon schlimm genug, aber es gibt noch einen
zweiten Hammer zu berücksichtigen:

»Im Zusammenhang mit der geltenden Anpassungsformel führen
sämtliche Leistungsverbesserungen ihrerseits zu einer Beschleunigung des
Wertverlustes der bereits berenteten wie auch aller noch nicht berenteten,
selbst der in Zukunft erst noch zu erwerbenden Anwartschaften.«

Es ist ein bitterer Zusammenhang, den Steffen aufzeigen
muss:

»Ein steigendes Niveau einzelner Renten führt unter der
geltenden Anpassungsformel zwingend zu einer (zusätzlichen) Verminderung des
Rentenniveaus für alle. Daher würden auch jene Maßnahmen, die der
Rentenversicherung derzeit beispielsweise zur Vermeidung steigender Altersarmut
politisch angedient werden, mit einer Dämpfung der Rentenanpassung und damit
einer zusätzlichen Senkung des Rentenniveaus für alle erkauft.«

Im weiteren Verlauf seiner Ausarbeitung belegt er diesen
allgemeinen Aspekt detailliert.
Bleibt die Frage: Was tun? Steffen plädiert für einen
rentenpolitischen „Reset“. Gemeint ist damit: Anhebung des Rentenniveaus auf
den Status quo ante. Es geht ihm also um eine sozialpolitische Rückbesinnung
auf die lebensstandardsichernde gesetzliche Rente.

Die Zielvorgabe eines lebensstandardsichernden Rentenniveaus
und dessen Stabilisierung im Zeitablauf erfordert eine neue
Rentenanpassungsformel. Hierbei sind unterschiedliche Wege möglich, je nachdem,
ob die Zielvorgabe Ausgangs- oder Endpunkt des Verfahrens ist (vgl. dazu
ausführlicher Steffen 2015: 22 ff.). Er präsentiert uns zwei Modifikationen der
Rentenanpassungsformel, mit denen man den einen Weg – „Die Renten folgen den
Löhnen“ – wie auch den anderen Weg – „das Leistungsziel dient als Vorgabe für
die Anpassungshöhe“ – beschreiten könnte.

Könnte, wenn man denn wollte.

Die Rente ist sicher. Immer weniger wert. Auch wenn man sich idealtypisch verhält und alle drei Säulen bedient

„Die Rente ist sicher“. Dieser legendäre Satz des damaligen Bundesrentenministers Norbert Blüm (CDU) in den 1980er Jahren hat mittlerweile Bonmot-Charakter, nachdem man die umlagefinanzierte Gesetzliche Rentenversicherung in ihrer öffentlichen Wahrnehmung sturmreif geschossen hat. Und die heutige Bundesregierung würde das so schlich auch nicht mehr sagen, tut es aber etwas weniger schlicht dennoch: So belehrt sie uns, dass eine zukunftseste Altersvorsorge auf drei Säulen ruhen müsse: der gesetzlichen Rente, der privaten und betrieblichen Vorsorge. Werden die drei Säulen genutzt, würde das Gesamtversorgungsniveau in fast allen Fällen langfristig ansteigen – trotz sinkendem Niveau der gesetzlichen Rente. Mit dem „Drei-Säulen-Modell“ sei also ein gleichwertiges oder gar höheres Gesamtversorgungsniveau möglich, als dies zuvor alleine die gesetzliche Rentenversicherung geleistet hat. Entspannt euch, so also die zusammengefasste Botschaft der Bundesregierung, hier zitiert nach dem ergänzenden Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht aus dem Jahr 2012. Aber stimmt das überhaupt? Auch dann, wenn sich die Betroffenen idealtypisch verhalten, also tatsächlich das tun, was die Bundesregierung von ihnen erwartet, also die mit den Rentenniveauabsenkungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung seit der Jahrtausendwende unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung einhergehenden Sicherungslücken durch private und betriebliche Altersvorsorge kompensiert?

Genau das ist die Fragestellung einer neuen Studie von Ingo Schäfer von der Arbeitnehmerkammer Bremen, die man im Original hier abrufen kann:

Ingo Schäfer: Die Illusion von der Lebensstandardsicherung. Eine Analyse der Leistungsfähigkeit des „Drei-Säulen-Modells“ (= Schriftenreihe der Arbeitnehmerkammer Bremen 01/2015). Bremen 2015

»Für seine Berechnungen ist Ingo Schäfer einen neuen Weg gegangen. Während bisher vor allem analysiert wurde, wie teuer die private Altersvorsorge ist und wie viel Rendite sie abwirft, oder dass zu wenige Menschen für das Alter vorsorgen, fragt sich der Experte: Funktioniert das Drei-Säulen-Modell denn überhaupt im idealtypischen Fall? Der idealtypische Fall ist eine Person, die immer durchschnittlich verdient, nie arbeitslos wird und auf allen Vorsorgewegen spart – also gesetzlich, privat und betrieblich, so Schäfer. Von dieser Voraussetzung geht auch die Bundesregierung seit den frühen 2000er Jahren bei ihren Modellrechnungen zum sogenannten „Gesamtversorgungsniveau in der Alterssicherung“ aus«, kann man der Mitteilung der Arbeitnehmerkammer Private Vorsorge kann Rentenlücke nicht schließen. Drei-Säulen-Modell in der Kritik vom 20.08.2015 anlässlich der Veröffentlichung der Studie entnehmen.

Schäfers Resümee ist frustrierend: „Auch wer heute über alle drei Wege spart, wird nicht an das einstige Leistungsniveau der gesetzlichen Rente herankommen.“
Das Hauptproblem: Die Renten aus allen drei Säulen steigen nicht so stark wie die Löhne und verlieren dadurch während des Bezugs massiv an Wert.

Höchstens zum Zeitpunkt des Renteneintritts kann eine idealtypische Umsetzung des „Drei-Säulen-Modells“ wie von der Bundesregierung behauptet die „Lebensstandardsicherung“, also das Verhältnis zwischen der Rente und dem versicherten Einkommen (auch „Versorgungsniveau“ genannt), zusagen – aber dann hört ja die Geschichte nicht auf und das Problem breitet sich aus: Über die Jahre wird die Rente gemessen an den Löhnen erheblich an Wert verlieren und das Verhältnis ständig schlechter, so Ingo Schäfer.

Es handelt sich um ein strukturelles Problem, denn in der gesetzlichen Rente sinkt politisch gewollt das Rentenniveau und die privaten Vorsorgeprodukte steigen während der Bezugsjahre kaum.
„Dadurch sinkt das Versorgungsniveau Jahr für Jahr während des gesamten Rentenbezugs. Gegenüber der Netto-Lohnentwicklung summiert sich dies auf einen Verlust von gut zehn Prozent bezogen auf einen Zeitraum von zwanzig Jahren“, rechnet Ingo Schäfer vor.

Als weitere Restriktion weist Schäfer wie auch viele Kritiker beispielsweise der gerne betriebenen „Rendite“-Berechnungen der privaten versus der gesetzlichen Rente auf den folgenden Tatbestand hin, der den meisten Bürgern nicht bewusst ist:
»Zusätzlich wird die Absicherung bei Erwerbsminderung und im Todesfall (für die Hinterbliebenen) massiv geschwächt. Beide Risiken sind im Gegensatz zur gesetzlichen Rente bei den Privatversicherungen in der Regel gar nicht oder nicht gleichwertig mit abgedeckt.«

Die Rentenniveauabsenkungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung wurden Anfang des Jahrtausends von Riester & Co. damit begründet, dass man den ansonsten unaufhaltsamen Anstieg des Beitragssatzes in seiner umlagefinanzierten Form (und damit der „Lohnnebenkosten“) nicht stoppen kann, wodurch die Arbeitgeber „gezwungen“ seien, Arbeitsplätze abzubauen. Auch hier ist der Befund ernüchternd:

»Anfang der 2000er Jahre gab es Berechnungen, dass der Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung ohne Leistungskürzungen auf 24 bis 26 Prozent ansteigen dürfte. Wirtschaftsnahe Forscher gingen sogar von 28 bis 29 Prozent aus. „Wenn man jetzt das Regierungsmodell von 22 Prozent Beitragssatz zur gesetzlichen Rente im Jahr 2030 plus vier Prozent Riester und zwei bis drei Prozent zusätzlicher Vorsorge nimmt, bewegen wir uns also am oberen Rand dessen, was einst vorhergesagt wurde“, so Ingo Schäfer. Dabei werde nicht berücksichtigt, dass dieser Beitragssatz im „Drei-Säulen-Modell“ bei weitem nicht ausreicht, um eine Lebensstandardsicherung wie früher die gesetzliche Rente zu gewähren und alle drei Risiken (Alter, Erwerbsminderung und Tod) abzusichern.«

Auf diese Zusammenhänge ist auch schon früher und an anderer Stelle deutlich hingewiesen worden, für einen systematischen Zugang sei hier auf die Arbeiten von Winfried Schmähl verwiesen, beispielsweise:

Winfried Schmähl: Warum ein Abschied von der „neuen deutschen Alterssicherungspolitik“ notwendig ist (= ZeS-Arbeitspapier Nr. 01/2011). Bremen: Zentrum für Sozialpolitik, 2015.

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass die Studie von Schäfer gerade von der Fallkonstellation einer idealtypischen Umsetzung des „Drei-Säulen-Modells“ ausgeht, aber aus der Debatte über Sinn und vor allem Unsinn der „Riester-Rente“ ist vielen in Erinnerung, dass gerade die unteren Einkommensgruppen gar nicht oder weit unterdurchschnittlich trotz staatlicher Förderung privat vorsorgen. Und auch eine betriebliche zusätzlichen Altersvorsorge ist bei denen, die gerade am meisten der Kompensation der abgesenkten Rentenleistungen aus der ersten Säule bedürfen, eher selten bis gar nicht gegeben. Im Ergebnis sind die bewusst produzierten Sicherungslücken noch weitaus dramatischer – und die geringer ausfallenden „Lebensstandardsicherung“ mag für viele ein Problem sein, für viele andere wird die – ceteris paribus – sichere Perspektive auf Altersarmut und Grundsicherungsrenten das größere Problem darstellen.

Der Mindestlohn läuft, bestimmte Arbeitnehmer dürfen sich monetär freuen und die Zahlen sprechen für sich

Man darf und muss an ihn erinnern – der allgemeine
gesetzliche Mindestlohn, der seit dem 1, Januar 2015 in Kraft gesetzt wurde und
der davor und in den Wochen danach für intensive Debatten in Deutschland
gesorgt hat. Aufgrund der überaus pessimistischen Vorhersagen zahlreicher
ökonomischer Auguren wurden gewaltige negative Auswirkungen auf den
Arbeitsmarkt in den Raum gestellt. „Job-Killer“ und andere Schmähzuschreibungen
machten die Runde. Aber schon damals gab es auch zahlreiche und gewichtige
Gegenstimmen, die darauf verwiesen, dass es sich bei den meisten „Prognosen“ um
interessengeleitete Stimmungsmache gegen das Instrument staatlicher Mindestlohn
an sich handelt und – weitaus bedeutsamer – dass viele damals hysterische
Wirtschaftswissenschaftler schlichtweg die andere Seite der Medaille vergessen
haben, dass höhere Löhne eben nicht nur höhere Kosten darstellen, sondern
gerade in dem Segment, in dem der Mindestlohn greift, also bei den unteren
Einkommensgruppen, immer auch einen hohen Nachfrageeffekt und damit beschäftigungschaffende
Wirkungen entfalten.

Nunmehr kann man der Print-Ausgabe der FAZ vom 18.08.2015
unter der Überschrift „Mindestlohn freut Arbeiter im Osten“ lesen: »Vor allem
Geringqualifizierte bekommen nun deutlich mehr Geld. Das Gastgewerbe stellt
sogar mehr Personal ein.« So einen eindeutigen Befund kann man natürlich nur
zähneknirschend stehen lassen und deshalb schiebt man sogleich mit Sorgenfalten
gezeichneter Stirn hinterher: »Wird das so bleiben?« Trotzdem stellt man zuerst
einmal die Fakten dar: »Die Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro je Stunde
hat vielen Geringverdienern zu Jahresbeginn einen Lohnsprung beschert. Un- und
angelernte Arbeiter haben ihren Bruttoverdienst deutlich gesteigert, vor allem
in Ostdeutschland; in einigen Branchen legten die Löhne sogar um mehr als 10
Prozent zu. Verdienste, die schon zuvor über 8,50 Euro lagen, haben
demgegenüber kaum auf den Mindestlohn reagiert.« Und woher hat die FAZ diese
Zahlen? Von der Bundesbank, die in ihrem Monatsbericht für den August 2015 die
Befunde der vierteljährlichen Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes
aufgearbeitet hat.

Die Ausführungen der Bundesbank finden sich in dem Beitrag Konjunktur
in Deutschland
und dort im Abschnitt „Beschäftigung und Arbeitsmarkt“ auf
den Seiten 54 ff. Dort kann man nachlesen:

»Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich im Frühjahr 2015 weiter
verbessert. Die Erwerbstätigkeit und die Zahl offener Stellen sind erneut
gestiegen, die Arbeitslosigkeit hat abgenommen. Die seit dem Jahresbeginn
auffallend kräftige Verringerung der Minijobs ist im Verbund mit der
vergleichsweise starken Expansion sozialversicherungspflichtiger Stellen in
einigen eher personalintensiven Dienstleistungssektoren wohl weitgehend als
Anpassungsreaktion der Unternehmen auf das Inkrafttreten des allgemeinen
gesetzlichen Mindestlohns zu interpretieren. Abgesehen von diesem
Umwandlungseffekt erscheinen die Auswirkungen der Mindestlohneinführung auf das
gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen im aktuell günstigen Konjunkturumfeld sehr
begrenzt.«

Noch in den zurückliegenden Wochen war der erkennbare
Rückgang der Zahl der Minijobber sofort (fehl)interpretiert worden im Sinne der
vorhergesagten zerstörerischen Wirkung auf die Beschäftigung. Allerdings hatte
ich beispielsweise bereits im April dieses Jahres in einer Expertise für die
rheinland-pfälzische Landesregierung (Sell, Stefan: 100 Tage
gesetzlicher Mindestlohn in Rheinland-Pfalz. Eine erste Bestandsaufnahme und
offene Fragen einer Beurteilung der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
.
Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 16-2015. Remagen 2015) darauf
hingewiesen: »Hinsichtlich des für Januar 2015 ausgewiesenen
überdurchschnittlich ausgeprägten Rückgangs der Zahl der geringfügig
Beschäftigte … kann man zum jetzigen Zeitpunkt keinesfalls von einem
„Wegfall“ von Arbeitsplätzen sprechen. Denn wir wissen derzeit schlichtweg
nicht, ob die Stellen ersatzlos gestrichen wurden oder ob es auf der
betrieblichen Ebene nicht Substitutionsprozesse gegeben hat, beispielsweise ein
„Upgrading“ bisher auf geringfügiger Basis Beschäftigter in den Bereich der
„normalen“, also sozialversicherungspflichtigen Teil- oder gar Vollzeit.«
(S.3). Und weiter: »… es kann und wird in einem bislang allerdings noch nicht
bestimmbaren Umfang zu einer Verschiebung von der bisherigen geringfügigen in
den teilzeitigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsbereich gekommen
sein oder aber eine Aufstockung der Arbeitszeit bei anderen in den Unternehmen
Beschäftigten bei Wegfall des Minijobs.« Vor dem Hintergrund der seit längerem
insgesamt positiven Verfasstheit des deutschen Arbeitsmarktes »kann ein Teil
der jetzt ausgewiesenen Rückgange bei den ausschließlich geringfügig
Beschäftigten auch damit zusammen hängen, dass Menschen, die bislang
unfreiwillig auf Minijobs verwiesen waren, weil sie eigentlich mehr und
„normal“ arbeiten wollen, die sich verbessernde Beschäftigungssituation nutzen,
um in „normale“, also sozialversicherungspflichtige Teilzeit- oder gar
Vollzeitbeschäftigung zu wechseln und die individuelle Arbeitsmarktlage damit
deutlich zu verbessern.« (S. 4)

Die Abbildung zur Arbeitsmarktentwicklung (Quelle: Bundesbank
Monatsbericht August 2015
, S. 55) verdeutlich auf einen Blick die insgesamt
positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt in den zurückliegenden
Jahren. Hinsichtlich der hier interessierenden Mindestlohn-Thematik fördert die
Bundesbank aus der Statistik einige interessante Aspekte ans Tageslicht, vor
allem hinsichtlich der bereits angesprochenen Minijobs, deren Rückgang von den
Mindestlohn-Kritikern als „Beleg“ für die arbeitsplatzzerstörende Wirkung der
staatlichen Lohnuntergrenze angeführt wird. Da kommt man mit den nunmehr
vorliegenden Daten zu ganz anderen Ergebnissen, die bereits frühzeitig – siehe
das Zitat aus meiner Expertise zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Zahlen noch
nicht vorlagen – als wahrscheinliches Szenario in den Raum gestellt wurde:

»Seit dem Jahreswechsel nimmt der Umfang der
sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gerade in denjenigen
Dienstleistungsbranchen recht stark zu, in denen ein überdurchschnittlicher
Anteil des Personalbestandes geringfügig beschäftigt ist. So war im Handel, im
Gastgewerbe, bei Verkehr und Lagerei sowie im Sektor Sonstige Dienstleister der
Anstieg sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung während der letzten sechs
Monate, für die Daten vorliegen und in denen Beschäftigungseffekte durch die
Mindestlohneinführung zu erwarten sind, in saisonbereinigter Rechnung mehr als
doppelt so hoch wie in vergleichbaren Perioden der letzten zwei Jahre. Zwischen
November 2014 und Mai 2015 wurden in diesen Branchen mehr als 60 000 Stellen
zusätzlich zum bisherigen Aufwärtstrend geschaffen. In diesem Zeitraum kam es in
allen Wirtschaftszweigen zusammengenommen zu einem Abbau von über 140 000
Minijobs … In den betrachteten Wirtschaftsbereichen ist … etwa die Hälfte
aller geringfügig Beschäftigten angestellt. Deshalb legen die Ergebnisse die
Schlussfolgerung nahe, dass eine Umwandlung oder Zusammenfassung in
sozialversicherungspflichtige Stellen als Reaktion auf die Einführung des allgemeinen
Mindestlohns stattgefunden hat.«

Anreize für eine solche Umwandlung sieht die Bundesbank auch
in dadurch realisierbaren Lohnnebenkosten. Das sieht dann so aus:

»Bei gleichem Brutto-Stundenlohn fallen für den Arbeitgeber
bei sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nur 20,7% Sozialversicherungsbeiträge
an, im Fall von Minijobbern inklusive Pauschalsteuern immerhin 30,9%. Da die geringfügig
Beschäftigten selbst allenfalls geringe Abgaben zahlen, konnten die Unternehmen
bislang für die hier höheren Abgaben zum Teil durch niedrigere Bruttolöhne
kompensiert werden. Für besonders niedrige Löhne besteht diese Möglichkeit
durch den Mindestlohn nicht mehr.«

Auf den S. 58-59 ihres Monatsberichts vertieft die
Bundesbank dann ihre Auseinandersetzung mit dem Mindestlohn in einem Exkurs: „Erste
Anhaltspunkte zur Wirkung des Mindestlohns auf den Verdienstanstieg“, dort auch
mit einer differenzierten Auseinandersetzung mit einzelnen
„mindestlohnrelevanten“ Branchen.

»Die Brutto-Stundenvergütungen (ohne Sonderzahlungen) der
un- und angelernten Arbeitnehmer in Ostdeutschland stiegen im Winter 2015 mit
9,3% beziehungsweise 6,6% etwa dreimal beziehungsweise doppelt so stark wie in
den oberen beiden Leistungsgruppen … In Branchen, die überwiegend niedrig vergüten,
ist im ersten Vierteljahr 2015 gleichfalls ein auffälliger Anstieg zu
verzeichnen. Dies gilt wieder insbesondere für die Stundenverdienste von
Vollzeitbeschäftigten im östlichen Bundesgebiet. In Westdeutschland ist ein
herausgehobener Anstieg nur in einigen Branchen wie der Beherbergung, der
Textilherstellung und der Nahrungsmittelindustrie zu beobachten … In Branchen
mit geringer Tarifbindung wie der ostdeutschen Gastronomie und dem Wach- und
Sicherheitsgewerbe stiegen die Verdienste im Winterquartal 2015 mit
zweistelligen Zuwachsraten gegenüber dem Vorjahr ebenfalls sehr kräftig. Zudem
sind bereits in den Vorperioden die Tarife vergleichsweise stark angehoben
worden, was auf Vorzieheffekte des flächendeckenden Mindestlohns hindeutet. In
den sehr gering tarifgebundenen Wirtschafts- zweigen Heime und Sozialwesen kam
es im Winter 2015 ebenfalls zu einem spürbaren Verdienstschub.«

 Selbst die FAZ legt in ihrem Artikel „Mindestlohn freut Arbeiter im Osten“ noch einen drauf:

»Vor allem das Gastgewerbe hatte vor der Einführung des
Mindestlohns vehement gewarnt, die höheren Lohnkosten würden zu einem starken
Personalabbau führen. Umso auffälliger ist aber, was der Branchenverband Dehoga
am Montag verkündete: Die Geschäfte der Gastronomen und Hoteliers seien im
ersten Halbjahr 2015 gut gelaufen, im Durchschnitt seien die Umsätze um 4,3
Prozent gestiegen. Damit nicht genug: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten im Hotel- und Gastgewerbe habe ein „Allzeithoch“ erreicht, so der
Verband.« Und weiter mit Daten der Bundesagentur für Arbeit: »Für Mai 2015 weist diese 986 600 Beschäftigte im Gastgewerbe aus. Das waren 5,7 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Im Osten hat sich die Zahl, trotz der besonders starken Lohnkostensteigerung, sogar um 6,1 Prozent erhöht. Eine Erklärung könnte sein, dass die Branche Minijobs in sozialversicherungspflichtige Stellen umgewandelt hat.«

Das hört sich nicht wirklich nach einem Jobkiller an.
 Vor dem Hintergrund der nun vorliegenden Daten kommt die
Bundesbank zu folgendem Fazit:

»Insgesamt deuten die Ergebnisse der Vierteljährlichen
Verdiensterhebung darauf hin, dass die Einführung des Mindestlohns die Lohnstruktur
stark beeinflusst hat. Besonders betroffen waren Geringqualifizierte und
Beschäftigte in niedrig vergütenden Wirtschaftszweigen in den neuen Bundesländern
sowie vermutlich die geringfügig Beschäftigten in ganz Deutschland … Der vom
Mindestlohn in diesen Bereichen am unteren Ende der Entgeltverteilung ausgelöste
Lohnzuwachs ist so stark, dass er sich auch in den Durchschnittsvergütungen niederschlägt.«

Einerseits eine massive Kritik an der abschlagsfreien „Rente ab 63“ und andererseits eine höchstrichterlich bestätigte Zwangsverrentung ab 63, die dazu führt, dass die zumeist armen Schlucker lebenslang noch ärmer bleiben werden

Man muss sich das mal klar machen: Da nehmen viele Menschen, die 45 Beitragsjahre nachweisen können, derzeit die von der Bundesregierung geschaffene abschlagsfreie „Rente ab 63“ in Anspruch. Und das wird an vielen Stellen bitter beklagt, ein „Aderlass“ für die deutsche Wirtschaft sei das, eine zusätzliche „Besserstellung“ der „glücklichsten“ Rentner-Generation, die es bislang gab und die es so nicht wieder geben wird. Gleichzeitig wird aber der Pfad in Richtung auf die „Rente ab 67“ keineswegs grundsätzlich verlassen, sondern die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters schreitet weiter voran, so dass die 67 für den Geburtsjahrgang 1964 gelten werden. Und man beklagt von interessierter Seite, dass die vorübergehende Ermöglichung einer abschlagsfreien Rente bereits ab dem 63. Lebensjahr – unter bestimmten, restriktiven Voraussetzungen – die beobachtbare Verlängerung des tatsächlichen Renteneintrittsalters nach oben nunmehr aufhält und bei den Arbeitnehmern falsche Erwartungen geweckt werden. Das gesetzliche Renteneintrittsalter gewinnt seine besondere Bedeutung dadurch, dass es auch die Grenze definiert, deren Unterschreitung beim Renteneintritt, der weiterhin auch vor dieser Grenze möglich ist, zu teilweise erheblichen lebenslangen Abschlägen bei den ausgezahlten Renten führt. Insofern ist es ja auch verständlich, dass viele Arbeitnehmer versuchen müssen, so lange wie nur irgendwie möglich durchzuhalten, damit sie dem Damoklesschwert der Abschläge von den zugleich im Sinkflug befindlichen Renten vor allem seit der Rentenreform der rot-grünen Bundesregierung Anfang des neuen Jahrtausends zu entgehen. Wenn dann die Bundesregierung eine Option anbietet, auch ohne Abschläge in den Rentenbezug zu wechseln, dann darf man sich nicht wirklich wundern, wenn das auch viele machen, die die Voraussetzungen erfüllen (vgl. dazu auch den Beitrag Und tschüss!? Zur Inanspruchnahme der „Rente ab 63“ und ihren Arbeitsmarktauswirkungen vom 7. August 2015).

mehr

Was passieren kann, wenn man die Zielgröße, permanent ein „überdurchschnittlicher Amazon-Roboter“ zu sein, nicht erreicht. Mal wieder: Inside Amazon

Amazon mal wieder. Wir reden hier über eine – von oben betrachtet – große „Erfolgsstory“: Mehr als 150.000 Mitarbeiter hat das Unternehmen mittlerweile, der Umsatz kratzt an der 100-Milliarden-Dollar-Grenze. Während in Deutschland immer noch eine überschaubare Gruppe von Aktivisten innerhalb der Belegschaft versucht, den Konzern daran zu erinnern, dass nicht nur betriebliche Mitbestimmung, sondern auch Tarifverträge bei uns eigentlich normal sein sollten, damit aber – trotz mehrfacher Streikaktionen – bislang wenig bis gar keinen Erfolg haben, werden nun wieder die Arbeitsbedingungen bei Amazon in den Fokus der Berichterstattung gerückt. Allerdings diesmal aus dem Mutterland des Konzerns, also den USA, kommend. Die New York Times berichtet über höchst fragwürdige Arbeitsbedingungen in dem Artikel Inside Amazon: Wrestling Big Ideas in a Bruising Workplace: The company is conducting an experiment in how far it can push white-collar workers to get them to achieve its ever-expanding ambitions:
Man kann das auch so auf den Punkt bringen: Katastrophale Arbeitsbedingungen bei Amazon. In diesem Artikel des österreichischen Standard werden einzelne Fälle zitiert, die man dem Originalartikel der New York Times entnehmen kann. Wie so oft bei diesen amerikanischen Unternehmen geht es um Leistungsbewertungen, um die „Performance“ der Beschäftigten.

Hier drei Beispiele aus dem Artikel:

»So wird … etwa die Geschichte einer Mitarbeiterin des Kindle-Teams erzählt, die ihre Überstunden und Wochenendeinsätze reduzieren musste, da ihr Vater an Krebs erkrankt war – was umgehend zu einer schlechteren Bewertung ihrer Performance geführt habe. Der Wechsel auf einen anderen Posten, bei dem, nicht wie sonst bei Amazon üblich, unzählige Überstunden erwartet werden, wurde abgelehnt. Stattdessen bezeichnete sie ihr direkter Vorgesetzter als „ein Problem“. Sie entschloss sich daraufhin – als ihr Vater bereits im Sterben lag –, eine Auszeit zu nehmen und nicht mehr zu Amazon zurückzukehren.
Eine andere Mitarbeiterin erzählt davon, wie sie nach einer Behandlung wegen Schilddrüsenkrebs an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte und ihr umgehend erklärt wurde, dass sie zu langsam sei und man ohne sie viel mehr erreicht habe. Auch sonst gibt es mehrere Berichte von Mitarbeiterinnen, die mit schlechten Bewertungen auf die interne Abschussliste gesetzt wurden, nachdem sie an Krebs erkrankt waren.
Eine weitere Mitarbeiterin wurde angeblich direkt am Tag nach einer Fehlgeburt dazu gezwungen, eine Geschäftsreise anzutreten, weil „die Arbeit trotzdem erledigt werden müsse“, wie ihr ihr Vorgesetzter mitteilte. Dies verbunden mit dem Hinweis, dass Amazon möglicherweise nicht der richtige Arbeitsplatz sei, wenn sie gerade eine Familie gründen wolle.«

Der Artikel der „New York Times“ hat umgehend erhitzte Diskussionen in der US-Tech-Branche ausgelöst. Während sich einige über diese Zustände empört zeigen, wollen andere darin kein Problem erkennen.

Auch der Big Boss von Amazon hat sich zu Wort gemeldet und seine Reaktion auf den NYT-Artikel wird so zitiert:

»Unterdessen hat Amazon-Chef Jeff Bezos mit einem internen Memo auf den Artikel reagiert. Der Artikel beschreibe nicht jenes Amazon, das er kenne. Eine solche Missbrauchskultur würde von ihm nicht akzeptiert. Insofern bitte er alle Mitarbeiter, entsprechende Vorfälle zu melden, falls sie tatsächlich vorkommen sollten.«

Aber die Diskussion bleibt nicht auf die USA beschränkt: Auch deutsche Amazon-Mitarbeiter berichten von Schikane, so die Süddeutsche Zeitung. Darin beispielsweise:

»Amazon hat auch in Deutschland keinen guten Ruf. So erstellt die Firma in ihren Versandzentren sogenannte Inaktivitätsprotokolle. In einem dieser Protokolle aus dem Jahr 2014, das der SZ vorliegt, wird einem Mitarbeiter vorgeworfen, sich „von 07.27 bis 07.36 Uhr unterhalten“ zu haben. Stefanie Nutzenberger, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Verdi, sagte, das System Amazon bestehe auch hierzulande aus „Arbeitshetze und Druck“. Davon zeugten extrem hohe Krankenquoten von 20 Prozent und mehr.«

Vor dem Hintergrund der zitierten angeblichen Reaktion von Jeff Bezos interessant dieser Passus: »Nach Aussagen von Mitarbeitern in den USA handelt es sich bei den Schikanen nicht um Auswüchse, vielmehr soll Firmengründer Jeff Bezos den rüden Umgang persönlich angeordnet haben. Er wird mit den Worten zitiert, zu viel Harmonie im Betrieb schade dem wirtschaftlichen Erfolg, weil selbst offensichtliche Fehlentscheidungen aus falsch verstandener Rücksichtnahme nicht beanstandet würden.«

Grundsätzlich ist es schwierig, jenseits der veröffentlichten Einzelfälle – wobei hier darauf hinzuweisen wäre, dass für den NYT-Artikel mehr als 100 ehemaligen und gegenwärtige Amazon-Beschäftigte ausführlich interviewt worden sind – eine Gesamtbewertung vorzunehmen dergestalt, dass es sich hier um ein Amazon-spezifisches Problem handelt oder nicht vielmehr um ein prominentes Abbild einer allgemeinen Unkultur in vielen Unternehmen: »Die Aussagen der Mitarbeiter geben einen Einblick in eine extreme Firmenkultur. Amazon steht dabei nicht stellvertretend für andere junge Internetfirmen, die eher mit bunten Büros und Firmenchefs in T-Shirt und Turnschuhen von sich reden machen. Allerdings sind harte Arbeit und ständige Erreichbarkeit auch in vielen Unternehmen im Silicon Valley üblich.«

Wie dem auch sei – der Artikel in der New York Times hat eine Welle ausgelöst auch in anderen Ländern. So berichtet der „Guardian“ aus Großbritannien unter der Überschrift Amazon ‚regime‘ making British staff physically and mentally ill, says union: »Employees at the e-commerce giant’s distribution centres across the UK are under pressure to be an “above-average Amazon robot”, the GMB’s lead officer for Amazon, Elly Baker, told the Times.«

Und Ella Baker von der Gewerkschaft wird weiter mit diesen Worten zitiert über die Arbeit bei Amazon:

“It’s hard, physical work but the constant stress of being monitored and never being able to drop below a certain level of performance is harsh. You can’t be a normal person. You have to be an above-average Amazon robot all the time.”

Auch wenn man davon ausgehen muss, dass die krasse Firmen“kultur“ bei Amazon keineswegs eine Singularität darstellt, sondern vielmehr regelmäßig gerade bei angelsächsischen Unternehmen beobachtet werden kann – die enorme kritische Resonanz auf entsprechende Berichte aus der Amazon-Welt ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass dieses Unternehmen ansonsten auch nach außen, gegenüber Konkurrenten, Zulieferern und ganzen Branchen eine absolut zerstörerische Strategie verfolgt, um auf dem Weg der monopolistischen Durchdringung fortzuschreiten. Wer so agiert, der verdient eine besondere Beobachtung und Kritik.

In diesem Blog wurde mehrfach über das Unternehmen Amazon berichtet, beispielsweise der Beitrag Die gnadenlose Effizienzmaschine hinter Amazon wird gefeiert und beklagt. Und in Polen spürt man die handfesten Folgen, wenn man ein kleines Rädchen in der großen Maschine ist vom 18. Juli 2015 oder Amazon mal wieder. Ab in den Osten und zurück mit dem Paketdienst vom 10. August 2014. Es ist eine plausible Annahme, dass sich das mit dem Berichterstattungsbedarf vorerst nicht ändern wird.