Nein, das ist keine Sprachspiel, sondern eine eigene Realität, die Millionen Menschen betrifft und die in der Fachdiskussion als globale „Care-Ketten“ diskutiert wird. Gabriela Herpell berichtet darüber in ihrem Artikel Frauen, die Frauen ersetzen, die Frauen ersetzen: Weil Frauen in den Industrieländern berufstätig sind, übernehmen Frauen aus ärmeren Ländern die Fürsorgearbeiten. Ein riesiger weiblicher Wirtschaftszweig entsteht.
Und die Autorin ist selbst Teil dieser Kette: »Lidija kam nach München, als mein Sohn sechs war. Sie hat Blanca vertreten. Blancas Sohn war krank und brauchte seine Mutter. Blanca putzte schon etwas länger in München als Lidija. Bei Anwälten, Journalisten, Ärzten, Werbern, Architekten. Bei Paaren mit Kindern, allein erziehenden Müttern, Paaren ohne Kinder, und in jeder dieser Familien oder familienähnlichen Konstellationen arbeiten die Frauen.«
Man kann das, was hier passiert, auch so zusammenfassen:
»Es gibt sie in Amerika: In einer US-amerikanischen Familie lebt eine mexikanische Nanny, bei der eine Puerto Ricanerin die Haushalts- und Familienarbeit übernimmt. Es gibt sie bei uns: Die Lücke in einer deutschen Familie wird durch eine Frau aus Polen oder Kroatien gefüllt, deren Lücke wiederum eine Weißrussin schließt. In den vergangenen zwanzig Jahren wurde das erkaufte Kümmern zum florierenden Wirtschaftszweig.«
Offensichtlich sprechen wir hier von einem milliardenschweren Business:
»In den USA werden derzeit 280 Milliarden Dollar in die Versorgung der Alten und Unterbringung der Kinder gesteckt. In Deutschland sind es 33 Milliarden Euro. Nicht enthalten sind darin jene Dienstleistungen, die sich nicht so leicht in Zahlen fassen lassen, der Garten, der Haushalt, das Haustier.«
Die Funktion dieser Frauen, die Frauen ersetzen und selbst oft auch ersetzt werden müssen, darf aber nicht verengt werden auf eine funktionale Reduktion dessen, was sie an konkreten Tätigkeiten leisten:
„Gefühlsarbeiterinnen“ nennt Arlie Russell Hochschild, Professorin für Soziologie an der University of California in Berkeley, die Migrantinnen aus ärmeren Ländern, die Familien in reicheren Ländern helfen, Arbeit und Familie zu vereinbaren. Gefühlsarbeiterinnen, weil sie mit ihrer Arbeit „das Wohlbefinden und den Status anderer unterstützen, verstärken, aufwerten“. Das gilt für die eine Seite. Aber:
»Die Sozialwissenschaftlerin Agnieszka Satola schreibt in einer Studie über die Biografie und Professionalität polnisch illegal beschäftigter Arbeitsmigrantinnen: „Die Frauen üben eine Tätigkeit aus, die keinerlei Anerkennung in der Gesellschaft findet, körperlich anstrengend ist und vor allem bis in die Intimsphäre ihrer Klientinnen reicht.“ … Die Frauen fühlten sich ausgebeutet und einsam, schreibt Satola, was verstärkt würde durch „biografische Risiken und Leiden aufgrund von beschränktem Austausch mit der Außenwelt, Sehnsucht nach der Familie sowie das Gefühl der vergehenden Zeit, in der sie ihre eigene Identität nicht entfalten können.“ … Die Nähe zu den Leuten, bei denen sie arbeiten, ist oft größer als die Nähe zu ihren eigenen Familien. Und die Nähe der Leute, für die sie arbeiten, zu ihnen ist es nicht unbedingt. Das gilt auch für die vielen Altenpflegerinnen, Krankenschwestern und Nannys, die mit den Haushaltshilfen zusammen einen so wichtigen Faktor für unsere Wirtschaft darstellen.«
»Von Arlie Russell Hochschild stammt auch die Bezeichnung „global care chain“ für das globale Netz weiblicher Fürsorge: Seit 1990 hat sich die Anzahl der Haushaltsarbeiterinnen weltweit um 19 Millionen erhöht, 720.000 Arbeitsmigrantinnen waren nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbunds 2012 in Deutschland tätig.«
Zum Begriff „global care chain“ vgl. beispielsweise den Artikel The Nanny Chain von Arlie Russel Hochschild. Ein wichtiges Thema – und angesichts der Bedeutung, die beispielsweise osteuropäische Pflegekräfte und Haushaltshilfe – ausschließlich Frauen – in den Familien in unserem Land haben, die darüber die pflegebedürftigen Angehörigen in ihren Haushalten oder bei sich zu Hause versorgen, ist es bezeichnend und skandalös, dass alle Verantwortlichen hier gerne herumeiern und das Thema am liebsten totschweigen möchten. An dieser Stelle nur der Hinweis auf drei Veröffentlichungen dazu:
➔ Patrycja Kniejska: All-inclusive-Pflege aus Polen in der Schattenzone. Ergebnisse von Interviews mit polnischen Pflegekräften, die in deutschen Privathaushalten beschäftigt sind. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, Mai 2015
➔ Wissenschaftliche Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Wen kümmert die Sorgearbeit? Gerechte Arbeitsplätze in Privathaushalten. Studien der Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ Bd. 20, Bonn 2015
➔ Andrea von der Malsburg und Michael Isfort: Haushaltsnahe Dienstleistungen durch Migrantinnen in Familien mit Pflegebedürftigkeit. 24 Stunden verfügbar – Private Pflege in Deutschland, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, Juli 2014
Und auch wenn es weh tun sollte: Man muss sich darüber bewusst werden, wie schmal der Grad der eigenen Argumentation ist, wenn man beispielsweise die populäre Forderung kommuniziert, dass „Wirtschaftsflüchtlinge“ hier bei uns keinen Platz haben dürfen und man sie sofort abschieben sollte. Nur – wenn man an dieser Stelle mal irritieren darf – was sind denn eigentlich die Frauen aus Polen, der Ukraine oder woher auch immer, die hier bei uns monatelange Oma und/oder Opa im Haushalt versorgen und umsorgen? Glaubt man ernsthaft, die kommen zu uns, weil Deutschland so schön ist? Nein, es handelt sich um eine typische Pendelmigration von „Wirtschafts- bzw. Armutsflüchtlingen“ aufgrund des enormen Wohlstandsgefälles zwischen „uns“ und „denen“. Also konsequenterweise müsste man die auch ausweisen. Die Politik könnte das ja mal versuchen – innerhalb von Stunden wäre das deutsche Pflegesystem zusammengebrochen – und ganz viele Wohnungen von Doppelverdiener-Paaren würden zumüllen. Ein weiteres Beispiel, dass die Realität, vor allem das komplexe soziale Gefüge, eben nicht einfach schwarz oder weiß daherkommt, sondern aus ganz vielen nicht so schön verkaufbaren Grautönen besteht.