1.200 Euro im Monat = „Top-Verdienerin“? Lehrkräfte in Integrationskursen verständlicherweise auf der Flucht oder im resignativen Überlebenskampf

Derzeit erleben wir im Kontext der vielen Flüchtlinge, die unser Land erreichen (und die noch zu uns kommen werden) eine Polarisierung zwischen denen, die mit offener Ablehnung und Hass auf die Zuwanderung reagieren bis hin zu verabscheuungswürdigen Attacken auf die Unterkünfte und die Menschen selbst, sowie auf der anderen Seite eine großartige Welle der Hilfsbereitschaft und des ehrenamtlichen Engagements vieler Bürger, die tatkräftig anpacken und damit die offensichtliche Überforderung vieler staatlicher Strukturen auffangen und teilweise kompensieren. Damit einher geht allerdings auch eine diskussionswürdige Polarisierung zwischen denen, die ihren Ressentiments vor allem in den sozialen Netzwerken freien Lauf lassen (und den nicht wenigen, die das für sich behalten und nicht offen zu Tage tragen, dennoch ähnliche Gedanken haben), und auf der anderen Seite eine sicher von Herzen kommende, teilweise aber auch schon sehr einseitige Überhöhung der Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen hier bei uns landen, bis hin zu einer fundamentalen Ablehnung jeder Position, die nicht für die uneingeschränkte Aufnahme und generell Öffnung gegenüber allen, die kommen wollen, plädiert.

Dabei ist das alles viel komplizierter – vor allem die konkret und handfest zu stemmenden Aufgaben, die bewältigt werden müssen, sind nicht annähernd zu unterschätzen und auch die sicher in den vor uns liegenden Jahren zunehmenden Verteilungskonflikte in unserer Gesellschaft müssen im Auge behalten werden, damit einem das alles nicht um die Ohren fliegt. Vor diesem Hintergrund muss natürlich alles getan werden, dass man die Menschen, die hier auf absehbare Zeit bei uns bleiben werden (manche auch für immer), so schnell und gut wie irgend möglich zu integrieren versucht. Und man kann es drehen und wenden wie man will – dafür sind die Sprachkenntnisse von fundamentaler Bedeutung, zugleich aber auch eine Vermittlung der gesellschaftlichen Strukturen, Werte und Realitäten, mit denen die Menschen, die oftmals aus völlig anderen Kulturen kommen, hier in unserem Land konfrontiert werden. Und dabei gilt im Idealfall, auch die Erwartungen zu formulieren und zu vermitteln, was hier bei uns zum gesellschaftlichen Grundkonsens gehört, den man respektieren sollte.

Für diese – jeder mit etwas Phantasie kann es sich sogleich vorstellen – mehr als ambitionierte Aufgabenstellung gibt es für einen Teil der Zuwanderer die so genannten „Integrationskurse“, die von ganz unterschiedlichen Trägern angeboten werden (vgl. zu den unterschiedlichen Integrationskursen die statistische Informationen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge).  Die werden beispielsweise von den Volkshochschulen oder wohlfahrtsverbandlichen Trägern angeboten. Und die müssen natürlich auch von konkreten Menschen gemacht werden, womit wir beim Kern des hier relevanten Problems angekommen sind. Denn jeder unbefangene Beobachter würde einsehen, dass (eigentlich) gerade diese pädagogischen Fachkräfte angesichts der enormen Herausforderungen gut bezahlt werden und ordentliche Arbeitsbedingungen bekommen müssten für ihre auch gesellschaftspolitisch so wichtige Arbeit. Nun wissen wir aber auch aus anderen Bereichen unseres sowieso nur historisch und nicht sachlogisch zu verstehenden vielgestaltigen Bildungswesens, dass die Vergütung und die realen Arbeitsbedingungen oftmals in keinerlei Korrelation stehen zu den faktischen Schweregeraden der pädagogischen Arbeit und/oder der Wirksamkeit der pädagogischen Intervention oder der gesellschaftspolitischen Bedeutung (die in der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung sicher um ein Vielfaches höher ist als in den Selbstfindungskursen für das obere Management). Besonders krass ist diese Diskrepanz aber bei den Lehrkräften, die an der Front in den Integrationskursen arbeiten (müssen).

Auf deren Situation hat dankenswerterweise David Krenz in seinem Artikel Nur raus aus dem Traumberuf aufmerksam gemacht. Dort finden wir auch einige Hintergrundinformationen zu den Integrationskursen:

»Die Integrationskurse bestehen aus 600 Stunden Sprachunterricht und 60 Stunden Orientierungskurs zu Geschichte, Kultur, Alltag, Recht und dem politischen System in Deutschland.
Jobcenter oder Ausländerbehörde können Zuwanderer zur Teilnahme verpflichten, wer deutscher Staatsbürger werden möchte, muss im Abschlusstest die Niveaustufe B1 erreichen. Für Sozialhilfe- und ALG-II-Empfänger sind die Kurse kostenfrei, die übrigen zahlen einen Eigenanteil (1,20 Euro pro Kursstunde).
Das System der Integrationskurse wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verantwortet und finanziert. Es zahlt den Kursträgern 2,94 Euro pro Teilnehmer und Kursstunde (bzw. 1,74 Euro für Teilnehmer, die einen Eigenanteil leisten). Rund 1.800 private und öffentliche Träger sind für Integrationskurse zugelassen. Die Träger müssen ihren freiberuflichen Lehrkräften 20 Euro pro Stunde zahlen. Zahlen sie weniger, können sie nach einem Jahr die Zulassung durch das Bamf verlieren.«

Und wie sieht es mit den Lehrkräften aus? »Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat bislang rund 24.000 Lehrer für den Unterricht in Integrationskursen zugelassen. Sie müssen dafür neben einem akademischen Abschluss ein Zusatzstudium „Deutsch als Fremdsprache“ oder eine gleichwertige pädagogische Qualifikation vorweisen. Wie viele Lehrkräfte derzeit in Integrationskursen arbeiten, ist nicht bekannt, allein beim größten Kursanbieter, den Volkshochschulen, sind es derzeit etwa 3.000. Nur ein geringer Teil der Lehrkräfte ist festangestellt.«

Das bedeutet, die meisten Lehrkräfte arbeiten als (Schein-)Selbständige auf Honorarbasis. Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert für die Dozenten ein Mindesthonorar von 30 Euro pro Stunde als ein „erster Schritt“ neben der Forderung von Festanstellungen für bewährte und langjährig berufserfahrene Lehrkräfte – aktuell liegt es in den meisten Regionen aber um zehn Euro unter diesem Satz, also bei 20 Euro pro Stunde. Davon müssen die Honorarkräfte Renten- und Krankenversicherung komplett selbst finanzieren, Geld für die unbezahlten Urlaubs- und Krankentage zurücklegen. Kündigungsschutz gibt es nicht, nur befristete Verträge. Was das praktisch bedeutet für die Nettoeinnahmen verdeutlicht die Abbildung mit der Beispielsrechnung das Stundenhonorar eines Sprachlehrers im Integrationskurs betreffend. Die findet man auf der Webseite www.mindesthonorar.de der „Initiative Bildung prekär“, für die Georg Niedermüller verantwortlich zeichnet, der auch in dem Artikel von David Krenz zitiert wird:

»Georg Niedermüller wähnte sich im Traumberuf, als er 2009 Integrationslehrer wurde. Schnell wachte er auf. „Ich habe das ganze Jahr mit Hartz IV aufgestockt.“ Mit seiner „Initiative Bildung prekär“ prangert er die Beschäftigungsverhältnisse an: „Wir Dozenten arbeiten für nur einen Auftraggeber, in festen Räumen, nach vorgeschriebenem Lehrplan, zu nicht verhandelbaren Honoraren – klarer Fall von Scheinselbstständigkeit.“
Er sieht nur einen Ausweg aus dem Dumping-Dilemma: die Festanstellung. „Wir sind keine Unternehmertypen, wir sind Lehrer und wollen auch so behandelt werden.“ Höhere Honorare seien keine Lösung, „die würden nur unseren Selbstständigenstatus zementieren“.«

Ein anderes Beispiel aus dem Artikel, damit man einen Eindruck von den Größenordnungen bekommt, für die hier gearbeitet werden muss – wohlgemerkt, wir reden hier von studierten Lehrkräften mit Zusatzausbildung: »Im Kurs von Sabine Heurs sitzen ein politisch verfolgter Tierarzt aus Iran, ein nigerianischer Bischof, der mehrere Stammessprachen spricht, und eine chronisch übermüdete junge Rumänin, die nachts im Fitnessstudio putzt. Menschen, die von einem besseren Leben träumen. Das haben sie mit ihrer Dozentin gemeinsam. In Vollzeit verdient Heurs 1200 Euro netto im Monat – und zählt damit zu den Top-Verdienerinnen in ihrem Beruf. „Ein Witz“, sagt sie.«

Und was sagt das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu der Forderung nach einer fairen Bezahlung? Das Amt verweist auf die Vertragsfreiheit zwischen Trägern und Lehrkräften. „Eine Erhöhung des Kostenerstattungssatzes ist derzeit nicht geplant“, heißt es auf Nachfrage, berichtet Krenz.

Aber wann – wenn nicht jetzt? Denn der enorme Anstieg der Flüchtlingszahlen und die Öffnung auch für Asylbewerber wird zu einer weiteren massiven Zunahme der Nachfrage nach Integrationskursen führen und gleichzeitig »laufen den Sprachschulen die Lehrkräfte davon; viele wandern in besser honorierte und gesicherte Beschäftigungen ab, wie der deutsche Volkshochschulverband beobachtet hat.« Das sind doch theoretisch hervorragende Voraussetzungen, um eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu erkämpfen.

An dieser Stelle wird der aufmerksame Leser an eine Zahl denken, die schon zitiert wurde: Rund 1.800 private und öffentliche Träger sind für Integrationskurse zugelassen. Das bedeutet, wir sind mit einer unglaublichen Kleinteiligkeit der Trägerlandschaft als Regelform konfrontiert und eine kleine Volkshochschule wird eine Festanstellung zu vermeiden versuchen wie der Teufel das Weihwasser angesichts der Arbeitgeberrisiken, die man damit übernehmen muss. Gleichsam spiegelbildlich zur kleinteiligen Situation auf der Trägerseite ist die Isolierung der vielen Lehrkräfte als auf sich selbst gestellte „Arbeitskraftunternehmer“, die sich alleine durchschlagen müssen.

David Krenz weist auf diese strukturelle Schwachstelle auf Seiten der Dozenten in seinem Artikel explizit hin:

»Eben jene Arbeitsbedingungen, gegen die sie aufbegehren sollten, hindern viele am Protest: Wer zu Demos fährt, verzichtet auf Honorar, bezahlt wird nur jede geleistete Kursstunde. Und wer für ein paar Euro extra noch einen Abendkurs übernimmt, dem fehlen Zeit und Kraft zum Aufbegehren.

Andere wagen sich nicht aus der Deckung, weil finanzielle Not sie zu Betrügern macht: Es gilt als offenes Geheimnis, dass eine Mehrheit trotz Versicherungspflicht keine oder zu geringe Beiträge in die Rentenkasse einzahlt. „Wir haben Angst aufzufliegen“, sagt eine Dozentin aus Westfalen, die anonym bleiben möchte.«

Letztendlich haben wir es hier mit pädagogischen Tagelöhnern zu tun.

Hinzu kommt ein Dilemma, das wir auch aus anderen Bereichen vor allem der Dienstleistungen kennen (man denke hier an die Gastronomie oder den Einzelhandel): Die Gewerkschaften haben kein Fuß fassen können in diesem Feld. Nach Angaben der GEW sind weniger als zehn Prozent der Betroffenen gewerkschaftlich organisiert.

Vor diesem Hintergrund wäre es an der öffentlichen Hand, hier regulierend einzugreifen und für Ordnung zu sorgen (was ja ansonsten gerne in Sonntagsreden beschworen wird). Aber die Politik geht völlig auf Tauchstation und hofft, dass der Kelch irgendwie an ihr vorübergehen wird.
Illustrieren kann man das – wie aber auch das angesprochene Problem einer mangelnden Kollektivierung der Interessen – am Beispiel der „Initiative Bildung prekär“, die neben Georg Niedermüller aus drei weiteren Mitstreitern besteht.  Bei der Politik stießen sie auf taube Ohren, klagt Niedermüller: „Die SPD hat auf unsere letzten zwölf Mails gar nicht mehr reagiert.“

Outsourcing mit Folgen: Werkverträge im Visier. Die IG Metall versucht, den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen

Werkverträge? Da denken viele Menschen an die Ausbeutung osteuropäischer Billigarbeiter auf deutschen Schlachthöfen oder auf den vielen Baustellen im Land. Und das die Regaleinräumer in den Discountern oftmals Werkvertragskräfte sind, hat man auch schon mal gehört. Irgendwie ein Thema aus den untersten Etagen des Arbeitsmarktes, wo die Niedriglöhner arbeiten (müssen). Aber nur wenige werden vor Augen haben, dass das auch in ganz umfangreichen Maße auf hoch qualifizierte Kräfte zutreffen kann, beispielsweise auf Ingenieure in der Forschung und Entwicklung in der Automobilindustrie. Das Thema Werkverträge und ihre Ausbreitung in der Welt der Wirtschaft ist also nicht neu, aber offensichtlich – folgt man der Wahrnehmung der großen Industriegewerkschaft IG Metall, die das volkswirtschaftliche Rückgrat der deutschen Industrie beackert – nimmt die aus ihrer Sicht missbräuchliche Nutzung eines Teils der Werkverträge zum Zwecke des Lohndumping zu und deshalb fordert man die Bundesregierung auf, auf dieser Baustelle wie im Koalitionsvertrag im Grunde auch vereinbart, endlich regulatorisch tätig zu werden.

Die Art und Weise der etwas umständlichen Formulierung der thematischen Einleitung dieses Beitrages soll darauf hinweisen, dass es gar nicht so einfach ist, hier eine klare, also eindeutige Beschreibung des Problems und der möglichen Lösung vorzunehmen. Da macht es Sinn, zuerst einmal die Gewerkschaft selbst anzuhören. Die hat ihre Pressemitteilung dazu so überschrieben: IG Metall wendet sich gegen Werkverträge, die zum Lohndumping missbraucht werden. Betriebsräte-Umfrage 2015: Werkverträge ersetzen immer mehr Stammarbeitsplätze. Der kann man entnehmen: Die IG Metall kritisiert den Missbrauch – es geht jedoch nicht um das Vertragskonstrukt Werkvertrag an sich. In der Metall- und Elektroindustrie seien vor allem die Bereiche Kontraktlogistik, industrielle Services sowie Entwicklungsdienstleister betroffen, so ein Ergebnis einer Befragung von mehr als 4.000 Betriebsratsvorsitzenden. Jörg Hofmann, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, wird mit diesen Worten zitiert: „Wir kritisieren nicht die sinnvolle Arbeitsteilung zwischen dem Produzenten von Fahrzeugen oder Maschinen und Spezialisten, die hierfür Dienstleistungen anbieten: Daneben hat sich aber eine Praxis der Auslagerung entwickelt, die alleine auf Lohndumping baut, um Extraprofite einzustreichen.“ Auch hier wieder: Kein Generalangriff, sondern ein differenzierter Blick auf eine bestimmte Form der Inanspruchnahme von Werk- und Dienstverträgen.

Der Impuls der IG Metall ist in einigen Medien sofort aufgegriffen worden – berührt er doch einen Kernbereich dessen, was in der Industrie abläuft. Die WirtschaftsWoche hat ihren Artikel dazu überschrieben mit IG Metall attackiert Outsourcing in der Industrie. Und Stefan Sauer schreibt in der Berliner Zeitung: Werkverträge spalten Belegschaft in „unterschiedliche Klassen“. Er verdeutlicht gleich am Anfang seines Beitrags, warum das Thema so sperrig und eben nicht einfach in „gut“ und „böse“ zu unterteilen ist:

»Werkverträge gibt es seit mehr als 100 Jahren. Die im Bürgerlichen Gesetzbuch niedergelegten Regularien ermöglichen es Unternehmen, andere Firmen mit speziellen Aufgaben zu betrauen, etwa mit dem Betrieb von Kantinen oder der Gebäudereinigung. Insoweit sind Werkverträge in einer komplexen, arbeitsteiligen Wirtschaft nicht wegzudenken.«

Ganz anders – aus Sicht der Gewerkschaften – stellt sich das dar, wenn Leistungen, die bislang von den Stammbelegschaften erbracht worden sind, von außen billiger eingekauft werden. Genau das ist die Stoßrichtung der IG Metall, die wie erwähnt auf der Grundlage einer Befragung von mehreren tausend Betriebsratsvorsitzenden argumentiert:

»Danach werden in mittlerweile 69 Prozent der Unternehmen Arbeiten an Fremdfirmen vergeben. In einer ersten Betriebsratsumfrage 2012 waren es 60 Prozent gewesen. Besonders größere Arbeitgeber mit mehr als 1000 Beschäftigen setzten verstärkt auf Werkverträge. In gut einem Drittel dieser Betriebe wurden 2015 mehr Fremdfirmen angeheuert als 2012, in nur neun Prozent der Unternehmen kam es zu einem Rückgang.«

Nun ist die rein quantitative Zunahme gar nicht das zentrale Problem aus Sicht der Arbeitnehmervertreter, sondern der veränderte Charakter der Werk- und Dienstverträge: Ging es früher vor allem um Arbeiten, die mit dem eigentlichen Unternehmenszweck eher am Rande zu tun hatten, so sind mittlerweile häufig auch zentrale Bereiche betroffen.

Anders gesagt: Die Werk- und Dienstverträge fressen sich vom Rand rein in den Kern dessen, was die produzierenden Unternehmen tun – und tangieren damit, um einen betriebswirtschaftlichen Terminus zu verwenden, die Kernkompetenz, deren Erledigung der Stammbelegschaft bislang die vergleichsweise hohen Löhne garantiert hat.

»Die Gewerkschaft macht dies an drei Beispielen fest: In 36 Prozent der Betriebe mit mehr als 1000 Mitarbeitern seien in der Forschungs- und Entwicklung Fremdfirmen tätig. Im Fahrzeugbau liege der Anteil sogar bei 50 Prozent.
Ein Drittel der in den Unternehmen mit Logistikaufgaben betrauten Arbeitnehmer sei mittlerweile bei Fremdfirmen angestellt, 2005 habe der Anteil noch bei fünf Prozent gelegen. Und auch die Wartung und Reinigung von Maschinen werde mittlerweile nur noch zu 70 Prozent von Stammbeschäftigten erledigt, zu 30 Prozent von Werkvertragsfirmen. Diese stellen in den genannten Bereichen mehr als 100 000 Beschäftigten in der Branche.«

»In fast drei Viertel aller Fälle müssen die Beschäftigten der Werkvertragsfirmen zu schlechteren Bedingungen arbeiten als ihre Kollegen, die fest angestellt sind«, so die IG Metall in ihrer Pressemitteilung. Was das bedeutet? Längere Arbeitszeiten, weniger Urlaub, geringere Stundenlöhne und schlechtere Altersvorsorge. Und wenn man beispielsweise an die Werkverträgler in den Fertigungsstätten der deutschen Automobilindustrie denkt: Sie haben auch keinen Zugang zu den zahlreichen und aufgrund jahrzehntelanger Arbeit der Gewerkschaft erkämpfter betrieblicher Sozialleistungen und „natürlich“ profitieren sie auch nicht von den Prämien, in deren Genuss die Stammbeschäftigten kommen (können).

Nun sind diese Probleme nicht neu, sondern sie werden bereits seit längerem kritisch diskutiert – man denke hier nur an die Dokumentation Hungerlohn am Fließband – Wie Tarife ausgehebelt werden über Werkverträge bei Daimler, die im ARD-Fernsehen am 13. Mai 2013 zur besten Sendezeit (und kurz vor der Präsentation der neuen S-Klasse des Konzerns) ausgestrahlt wurde und dazu geführt hat, dass der schwäbische Weltkonzern gegen den SWR mit der Forderung auf Nicht-Verbreitung der Fernsehbeitrags und der gerichtlichen Feststellung, dass die Aufnahmen mit versteckter Kamera unzulässig seien, vor Gericht gezogen ist – bislang allerdings in zwei Instanzen erfolglos.

Der Hintergrund für die aktuellen Aktivitäten der IG Metall ist eine bislang nicht eingelöste Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag der Großen Koalition aus dem Dezember 2013. Dort findet man auf der Seite 49 die folgende Absichtserklärung:


Missbrauch von Werkvertragsgestaltungen verhindern
Rechtswidrige Vertragskonstruktionen bei Werkverträgen zulasten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen verhindert werden. Dafür ist es erforderlich, die Prüftätigkeit der Kontroll- und Prüfinstanzen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu konzentrieren, organisatorisch effektiver zu gestalten, zu erleichtern und im ausreichenden Umfang zu personalisieren, die Informations- und Unterrichtungsrechte des Betriebsrats sicherzustellen, zu konkretisieren und verdeckte Arbeitnehmerüberlassung zu sanktionieren. Der vermeintliche Werkunternehmer und sein Auftraggeber dürfen auch bei Vorlage einer Verleiherlaubnis nicht bessergestellt sein, als derjenige, der unerlaubt Arbeitnehmerüberlassung betreibt. Der gesetzliche Arbeitsschutz für Werkvertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer muss sichergestellt werden.
Zur Erleichterung der Prüftätigkeit von Behörden werden die wesentlichen durch die Rechtsprechung entwickelten Abgrenzungskriterien zwischen ordnungsgemäßen und missbräuchlichen Fremdpersonaleinsatz gesetzlich niedergelegt.

Das hört sich einfacher an, als es in der Wirklichkeit – in der bekanntlich der Teufel im Detail steckt – ist. Letztendlich und vereinfacht gesagt geht es um die (dann auch noch rechtssichere) Abgrenzungsfrage von „guten“ versus „schlechten“ Werkverträgen. Bert Losse und Max Haerder erläutern dazu in ihrem Artikel IG Metall attackiert Outsourcing in der Industrie:

»Die Bundesarbeitsministerin hat eine Reform der Werkverträge seit ihrem Amtsantritt auf der Agenda und will die heikle Reform noch in diesem Herbst auf den Weg bringen. Denn spätestens ab kommendem Frühjahr, wenn diverse Landtagswahlen die politische Agenda bestimmen, dürfte es schwierig werden, umstrittene Gesetze wie eine Werkvertragsregulierung durch den Bundestag zu peitschen.
Daher plant die SPD-Politikerin eine Art Paketlösung. Nahles will die Werkverträge gemeinsam mit der Zeitarbeit regulieren, wobei Letzteres deutlich einfacher sein dürfte – nicht zuletzt, weil die Eckpunkte bei der Zeitarbeit vergleichsweise detailliert im Koalitionsvertrag festgezurrt wurden. Das ist im Fall der Werkverträge anders. Ministeriums-Fachleute geben zu, dass es kompliziert werden könnte, nun eine Regelung zu finden, mit der Gewerkschaften, Arbeitgeber und der Koalitionspartner gleichermaßen leben können.«

Wie kompliziert die zu regelnde Materie aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist, verdeutlicht das im vergangenen Jahr vorgelegte Gutachten der beiden Arbeitsrechtler Christiane Brors und Peter Schüren: Missbrauch von Werkverträgen und Leiharbeit verhindern. Gutachten für das Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Februar 2014. Eine kurze Zusammenfassung einiger Aspekte findet sich in dem Artikel Werkverträge: Den Dschungel lichten.

Vor diesem Hintergrund darf man gespannt sein, was die Bundesarbeitsministerin von ihrem Ministerium im Herbst vorlegen lässt. Wichtige Forderungen der Gewerkschaftsseite werden allerdings nicht berücksichtigt werden, also beispielsweise die Forderung nach Mitbestimmung beim Einsatz von Werkverträgen – auch der zitierte Passus im Koalitionsvertrag stützt diese These, denn dort ist lediglich die Rede davon, die „Informations- und Unterrichtungsrechte des Betriebsrats“ sicherzustellen, von Mitbestimmung steht da nichts. Und Nahles – auch wenn sie wollte – wird darüber keineswegs hinausgehen (können), ist sie doch seit dem Mindestlohn und dem Rentenpaket koalitionsintern kaltgestellt, was gewerkschaftsfreundliche Regulierungen angeht und zum anderen laufen die Wirtschaftsverbände bereits jetzt Sturm gegen eigentlich jede Regelung in diesem Bereich, denn aus ihrer Sicht handelt es sich um rein unternehmerische Entscheidungen, in die man sich nicht rein reden lassen will.

Vielleicht muss man die Intensivierung der IG Metall-Kampagne gegen Werkverträge – so soll es als nächste Stufe am 24.09.2015 an nahezu allen Standorten der deutschen Automobilhersteller einen Aktionstag geben und die Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der Automobilhersteller und Zulieferer werden einen gemeinsamen Aufruf an die Politik absetzen – vor dem Hintergrund eines wirklich heftigen organisationspolitischen Dilemmas der IG Metall sehen: Durch das zunehmende Outsourcing verliert die Gewerkschaft den tarifpolitischen Zugriff auf immer mehr Beschäftigte. Wenn sich ihre Organisationshoheit nur noch auf die Stammbelegschaften verengt und immer mehr Werkvertragsarbeitnehmer in tarif- und mitbestimmungslosen Unternehmen befinden, dann wird die Schlagkraft der IG Metall erheblich abnehmen.

Insofern könnte am Ende des Prozesses – wir bewegen uns hier natürlich im Bereich der Spekulation – ein Ergebnis stehen, dass man trotz der großen Kritik an den Werkverträgen in Anerkenntnis ihrer betriebswirtschaftlicher Funktionalität (zu der auch – man muss es sagen dürfen – eine gewisse Stabilisierungsfunktion der Arbeitsbedingungen der Insider gehört, was auch die teilweise Ambivalenz der Betriebsräte bei diesem Thema erklären kann) wie aber auch angesichts der Tatsache, dass es gerade für produzierende Unternehmen immer auch die Option eines ausländischen Outsourcing gibt, das nicht selten als Damoklesschwert instrumentalisiert wird, wenn man nicht den Kostensenkungsvorgaben in den Unternehmen entgegenkommt, die derzeit heftig und verständlicherweise auch beklagte Auffächerung der Tarifstruktur nach unten (vgl. aktuell dazu Metall-Arbeitgeber fordern neuen Einstiegstarif) letztendlich mitgehen wird, wenn sie denn unter dem Dach der IG Metall stattfindet. Hinweise auf diese strategische Ausrichtung gibt es – gerade in dem so wichtigen Bereich der Logistik, deren Unternehmen sich über Werkverträge immer tiefer in die Kernprozesse der Automobilhersteller und anderer Schwergewichte der Stahl- und Metallindustrie fressen und die eigentlich – auch nach der DGB-Abgrenzung – unter die Zuständigkeit der Gewerkschaft ver.di fallen. Da ist die IG Metall dann auch schon mal auf Konfrontationskurs gegen ver.di gegangen, erinnert sei hier an die „Machtübernahme“ der Metaller beim Logistik-Unternehmen Stute (vgl. dazu meinen Blog-Beitrag Wenn unterschiedlich starke Arme eigentlich das Gleiche wollen und sich in die Haare kriegen: „Tarifeinheit“ aus einer anderen Perspektive vom 3. September 2014). Das alte Motto „Ein Betrieb = eine Gewerkschaft“ kann dann eine ganz neue Dimension bekommen, wenn man den „Betrieb“ ausweitet auf die vor- und nebengelagerten Betriebe.

Wie gesagt, alles derzeit zwangsläufig nur Spekulation.

Diesseits und jenseits von Armutsgefährdungsquoten für alle und für besondere Fälle. Ein Schlaglicht auf ein wachsendes Strukturproblem

Das Statistische Bundesamt hat mal wieder „Armutsgefährdungsquoten“ veröffentlicht. Das löst erwartungsgemäß Reflexe auf allen Seiten aus. Die einen beklagen das, was damit ausgesagt werden soll, die anderen bestreiten, dass diese Quoten überhaupt irgendeine Aussagefähigkeit hinsichtlich des höchst aufgeladenen Begriffs „Armut“ haben. Immer ganz vorne dabei Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der sich auch diesmal zu Wort gemeldet hat: Armut verharrt auf hohem Niveau – Paritätischer warnt vor neuer Rentnerarmut und fordert offensive Armutsbekämpfung, so ist die Pressemitteilung des Wohlfahrtsverbandes überschrieben worden. Darin wird er mit diesen Worten zitiert: „Das Bild, wonach es den Rentnerhaushalten in Deutschland im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung doch noch sehr gut ginge, hat sich mit den neuen Zahlen endgültig erledigt.“ Und weiter: „Die Quote der altersarmen Rentenrinnen und Rentner hat seit 2006 mit 51 Prozent so stark zugelegt wie bei keiner anderen Bevölkerungsgruppe. Politik und Öffentlichkeit müssen sich endlich der Tatsache stellen, dass eine Lawine der Altersarmut auf uns zurollt. Es sind Menschen, deren Einkommen häufig nur knapp über der Sozialhilfeschwelle liegt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Zahlen derer, die in Altersgrundsicherung fallen, auf ein hohes Niveau nachziehen.“

Die andere Seite reagiert natürlich ebenfalls entsprechend und stellt den ganzen Ansatz in Frage, wie schon im April dieses Jahres, als der Paritätische seinen neuen Armutsbericht auf Basis der offiziellen Daten veröffentlicht hat (vgl. hierzu ausführlicher den Blog-Beitrag Das doppelte Kreuz mit der Armut und der Herkunft: Die (angeblichen) Armutskonstrukteure schlägt man und die Ständegesellschaft 2.0 wird nur angeleuchtet vom 3. April 2015). Doch mit Blick auf die neuen Zahlen des Bundesstatistiker soll es nicht um die leidige Grundsatzfrage gehen und auch nicht um den besonderen Fall der Altersarmut (vgl. dazu an anderer Stelle beispielsweise meinen Blog-Beitrag Diesseits und jenseits der Grundsicherung im Alter: Die Legende von der massenhaften Rentner-Armut. Das ist (nicht) richtig vom 7. August 2015). Die Daten des Statistischen Bundesamtes werfen nämlich ein interessantes Schlaglicht auf ein leider zunehmendes Strukturproblem unterhalb der allgemeinen Durchschnittsquoten: Gemeint ist die Lage der „Geringqualifizierten“. Und die hat sich in den vergangenen Jahren erkennbar (weiter) verschlechtert.

Entsprechend lautet die Überschrift der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes: Höhere Armuts­gefährdung von gering Qualifi­zierten als 2005.

Einige Hinweise zu den Daten: Die stammen aus dem Mikrozensus. Der Mikrozensus ist die größte jährliche Haushaltsbefragung in Europa; er bietet aufgrund seiner Stichprobengröße die Möglichkeit, für alle Bundesländer verlässliche Indikatoren zu ermitteln und zu vergleichen. Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und wird – entsprechend dem EU-Standard – definiert als der Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung (in Privathaushalten) beträgt. In Deutschland trifft das etwa auf Einpersonenhaushalte mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 917 Euro zu. Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens berechnetes bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied. Das bedarfsgewichtete Einkommen (Äquivalenzeinkommen) wird auf Basis der 1994 entwickelten neuen OECD-Skala berechnet. Nach dieser wird der ersten erwachsenen Person im Haushalt das Bedarfsgewicht 1 zugeordnet, für die weiteren Haushaltsmitglieder werden kleinere Gewichte eingesetzt (0,5 für weitere Personen im Alter von 14 und mehr Jahren und 0,3 für jedes Kind im Alter von unter 14 Jahren), weil angenommen wird, dass sich durch gemeinsames Wirtschaften Einsparungen erreichen lassen. Die Werte des Statistischen Bundesamtes, die in der Abbildung zusammengefasst sind, basieren auf der Armutsgefährdungsschwelle auf Bundesebene (Bundesmedian), die für Bund und Länder einheitlich ist und somit einen regionalen Vergleich ermöglicht. Detaillierte Ergebnisse zur Armutsgefährdung, zum Teil in tiefer regionaler Gliederung, sowie genaue Erläuterungen zu den Datenquellen und den angewandten Berechnungsverfahren stehen im Internetangebot der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder zur Verfügung. Dort finden sich auch Armutsgefährdungsquoten, die auf Basis regional unterschiedlicher Armutsgefährdungsschwellen ermittelt wurden. Zu den Geringqualifizierten gehören Personen, die ausschließlich einen Hauptschul- oder Realschulabschluss beziehungsweise keinen Hauptschulabschluss sowie keinen beruflichen Bildungsabschluss besitzen.

Die Abbildung mit den Armutsgefährdungsquoten im Vergleich der Jahre 2005 und 2014 verdeutlicht generell, dass es keine Abnahme in den zurückliegenden Jahren gegeben hat, sondern der Anteil ist bundesweit sogar leicht von 14,7 auf 15,4 Prozent angestiegen, wobei sich das aus zwei gegenläufigen Entwicklungen speist, in Westdeutschland ist der Anteil etwas gesunken, während in Ostdeutschland die Quote angestiegen ist.

Besonders relevant ist aber der Befund hinsichtlich der spezifischen Armutsgefährdungsquote der „Geringqualifizierten“. Die Süddeutsche Zeitung fasst das in dem Artikel Ausbildung verhindert Armut kompakt so zusammen: »Geringqualifizierten droht in Deutschland heute häufiger ein Leben in Not als noch vor zehn Jahren.« Auch Spiegel Online schließt sich diesem Tenor an: Armutsgefährdung in Deutschland steigt. Natürlich gibt es auch die anderen, denen solche Daten gar nicht passen, aber man kann ja die Berichterstattung „gewichten“. Ein Beispiel dafür ist der Artikel Den Geringqualifizierten geht es doch nicht so schlecht von Dietrich Creutzburg in der FAZ. Schon die Überschrift irritiert vor dem Hintergrund der Ausgangsmeldung des Statistischen Bundesamtes und der Rezeption in anderen Medien. Wie kann es dazu kommen? Dazu erfahren wir: »Das Armutsrisiko der Geringqualifizierten ist gestiegen … Doch es lohnt sich ein genauerer Blick auf die Zahlen. Die Einkommen der Geringqualifizierten etwa sind keineswegs gesunken.« Creutzburg versucht es so:

»Aus dem gestiegenen Armutsrisiko der Geringqualifizierten folgt nicht, dass die absolute Höhe ihrer Einkommen gesunken ist. Ihre Einkommen sind nur langsamer gestiegen als die mittleren Einkommen in der Gesellschaft – welche nun von mehr Höherqualifizierten getragen werden.«

Na ja, netter Versuch, ändert aber nichts an dem Befund, den alle anderen auch erkannt haben. Man muss schon ein wenig dem Motto „Frechheit siegt“ verfallen sein, um so zu argumentieren. Die absoluten Einkommen sind nicht gesunken – bei einem relativen Maß, dass sich als Anteilswert am Einkommensdurchschnitt der Gesellschaft bemisst. Auf welch tönernen Füßen das steht, kann man sich an einem einfachen Gedankenspiel verdeutlichen: Wenn alle in der Gesellschaft oberhalb der Ebene der Geringqualifizierten bei den Einkommen ordentlich zulegen und nach ein paar Jahren in absoluten Euro-Beträgen 100 Prozent mehr haben, die Geringqualifizierten aber nur sagen wir mal 10 Prozent mehr haben gemessen an den absoluten Euro-Beträgen, dann wurde Creutzburg zu dem Ergebnis kommen: Den Geringqualifizierten geht es doch nicht so schlecht. Jeder andere würde natürlich erkennen, dass wir es mit einer gewaltigen Abkoppelung der Geringqualifizierten zu tun hätten (und auch haben), denn auch wenn deren absolute Euro-Beträge nicht gesunken, aber auch kaum gestiegen sind – selbst ein Nicht-Ökonom müsste sich nun wirklich vorstellen können, was es bedeutet, wenn die anderen zwei Drittel der Gesellschaft ihre Einkommen um 100 Prozent oder wie viel auch immer gesteigert haben – beispielsweise hinsichtlich des Preisniveaus dieser Volkswirtschaft, in der die Menschen leben.

Na ja, da ging es wohl um etwas anderes. In Wirklichkeit geht es dabei um den Kampf gegen die durchaus breite und fundierte Kritik an der Entwicklung wie vor allem auch an den Folgen der zunehmenden Ungleichheit. Zur Höchstform bei der grundsätzlichen Infragestellung eines kritischen Blicks auf Ungleichheit (nachdem man in einem ersten Schritt die „Armut“ bei uns „wegdefiniert“ hat) läuft Rainer Hanke, der verantwortliche Redakteur für Wirtschaft und „Geld & Mehr“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, auf: Warum soll Ungleichheit ein Übel sein?, so hat er seinen Artikel in der FAS überschrieben und legt gleich im Untertitel nach: »Gleichheit wird maßlos überschätzt. Das meinen jetzt auch ein paar häretische Linke.« Es gibt aber auch nichts Schöneres als wenn ein paar Abtrünnige aus dem anderen Lager die eigene Meinung unterstützen oder man das so verkaufen kann.

Sozialpolitisch, aber auch volkswirtschaftlich wesentlich relevanter als diese ideologischen Verrenkungen derjenigen, die sich die Welt so malen wollen, wie sie gefälligst zu sein hat, damit keiner an den bestehenden Zuständen zweifelt, ist die Frage, was denn aus diesen erst einmal sehr trockenen Zahlen resultiert.

Das eine ist der Befund an sich, die zunehmende Abkoppelung der Geringqualifizierten von der allgemeinen Einkommensentwicklung. Wohlgemerkt mit Blick zurück auf Jahre, in denen wir in Deutschland eine insgesamt gesehen positive Arbeitsmarktentwicklung gehabt haben, in der es eigentlich bei entsprechenden Verteilungsstrukturen auch für die da unten hätte besser werden müssen. Was aber offensichtlich nicht der Fall war. Das hängt zusammen mit einer generellen Polarisierung gerade auf den Arbeitsmärkten und das betrifft eben nicht nur die Geringqualifizierten in der Abgrenzung des Statistischen Bundesamtes.

Dazu gibt es eine neue Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen: Die Mittelschicht in Deutschland unter Druck, so haben Gerhard Bosch und Thorsten Kalina ihre Studie überschrieben (vgl. als Beispiel für die Berichterstattung darüber beispielsweise den Artikel von Michael Kohlstadt: Mittelschicht schrumpft trotz Rekordbeschäftigung zusammen). Einige Befunde aus der Studie von Bosch und Kalina:

»Seit Mitte der 1990er Jahre hat in Deutschland die Einkommensungleichheit stärker als in vielen anderen europäischen Ländern zugenommen. Der Anteil der Haushalte mit einem mittleren Markteinkommen (60 bis 200% des Medianeinkommens) ging um gut acht Prozentpunkte von 56,4% im Jahre 1992 auf 48% im Jahre 2013 zurück. Der Sozialstaat hat die wachsende Ungleichheit der Markteinkommen nur zum Teil auffangen können. In der Sekundärverteilung, also nach Steuern, Sozialabgaben und Sozialtransfers, schrumpfte der Anteil der Mittelschicht von 83% im Jahre 2000 auf knapp 78% im Jahre 2013 … Die Abstände in der bezahlten Arbeitszeit zwischen den Schichten sind in den letzten 20 Jahren gestiegen und haben die Ungleichheit vergrößert. Immer weniger Haushalte der Unterschicht und der unteren Mittelschicht können von ihren Erwerbseinkünften leben. Unter ihnen gibt es vermehrt Singlehaushalte und Haushalte mit nur geringer Erwerbstätigkeit, in vielen Branchen haben sie oft nur noch Zugang zu Minijobs und kurzer Teilzeitarbeit.«

Wenn man zwei zentrale und notwendigerweise holzschnittartige Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen der IAQ-Studie wie auch anlässlich der Daten des Statistischen Bundesamtes zu der besonderen Entwicklung bei den Geringqualifizierten ziehen soll, dann könnte man folgendes formulieren:

Zum einen sind es nicht nur generell niedrige Löhne, die ein Problem darstellen, sondern diese vor allem auch in Verbindung mit wenigen Arbeitsstunden, am ausgeprägtesten in Form der geringfügigen Beschäftigung, aber auch bei vielen „normalen“, also sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen bis 20 Stunden in der Woche. Es geht also um eine Stabilisierung und Aufwertung der niedrigen Löhne an sich (passende Stichworte mögen hier Mindestlöhne und die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen sein), sondern zugleich muss es auch gelingen, die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden nach oben zu bringen.

Zum anderen und mit dem Blick auf die besondere Gruppe der „Geringqualifizierten“ in der Abgrenzung des Statistischen Bundesamtes (als ohne Berufsabschluss unter 25 Jahr und älter): Hierbei handelt es sich wenigstens zum Teil auch um die Opfer eines Ausbildungsstellenmarktes der Vergangenheit, in der es zu wenige Ausbildungsplatzangebote und eine zu große Nachfrage gab, also Jahre, in denen viele jungen Menschen leer ausgegangen sind bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Die sich dann irgendwann verabschiedet haben in das Geld verdienen als un- und angelernte Arbeitskräfte in der Industrie oder auf Servicejobs im Dienstleistungsbereich.

Wenn es uns gelingen würde – wie seit Jahren übrigens gefordert und von Berlin nicht wirklich ge-, geschweige denn erhört -, nur einen Teil dieser Menschen, die heute als Geringqualifizierte etikettiert werden und realen Verschlechterungen ausgesetzt sind, in Form von Umschulungen bzw. Erstausbildungen in die Bereiche des Handwerks und der Facharbeit hinein zu qualifizieren, wo wir absehbar und definitiv einen erheblichen Personalbedarf in den kommenden Jahren bekommen werden, dann wäre das ein individueller Ausweg für viele Betroffene und volkswirtschaftlich gesehen eine mehr als lohnende Investition. Dazu müsste man aber die Bereitschaft für und die Realisierung einer Ausbildung monetär bei diesem erwachsenen Personenkreis ganz anders fördern als das, was bislang passiert. Das bislang nicht endlich auf die Schiene gesetzt zu haben, ist ein Armutszeugnis für die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland und vor allem für die, die diese zu verantworten haben.
Man könnte aber auch optimistisch enden, mit einem gewissen zynischen Unterton: Vielleicht wird ja jetzt endlich die Blockade dieser sinnvollen Nachqualifizierung (derjenigen, die das auch wollen) fallen, weil im Zuge der Arbeitsmarkt- und Ausbildungsintegration der vielen Flüchtlinge, die bei uns bleiben werden, klar werden wird, dass man angesichts der ungeheuren Aufgaben und Anstrengungen für die Flüchtlinge diejenigen nicht vergessen darf und sollte, die das „Pech“ (oder auch das selbstgewählte Schicksal) erfahren haben, vor einigen Jahren durch die Löcher unserer Schul- und Ausbildungssystems zu fallen. Ihnen gehört eine zweite, vielleicht auch dritte und vierte Chance gegeben.

Ein entleerter, weil folgenloser Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz, wenn das Um-die-Ecke-Denken mancher Richter so bleibt, wie es vom Oberlandesgericht Dresden verkündet wurde

Manche werden sich noch erinnern an die aufgeheizten
Diskussionen im Vorfeld des Scharfstellens des Rechtsanspruchs auf einen
Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr des Kindes zum 1. August
2013. Da wurde der „Kita-Notstand“ oder gar das „Kita-Chaos“ beschworen und
viele Debatten drehten sich um die Befürchtung so mancher Kommune, dass es zu
massenhaften Klagen auf Schadensersatz seitens der Eltern gegen die Träger der
öffentlichen Jugendhilfe, die für die Umsetzung des Rechtsanspruchs zuständig
sind, kommen könnte, weil man schlichtweg nicht genügend Angebote hatte (und
hat), um die jeweilige Nachfrage auch bedienen zu können.

Skeptiker haben bereits damals darauf hingewiesen, dass es
wahrscheinlich keine Klagewelle seitens der Eltern geben wird, denn diese sind
zwar sehr viele, aber sie sind zugleich atomisiert, auf sich selbst gestellt,
ohne eine kollektive und schlagkräftige Interessenorganisation und sie tun das,
was sie immer tun als System Familie – sich irgendwie arrangieren mit den
Verhältnissen, das Beste aus der Situation zu machen versuchen, zu überbrücken,
Lücken zu stopfen und auf Sicht zu segeln.
Dabei hat allein die Angst in nicht wenigen Kommunen vor
möglichen Schadensersatzforderungen seitens der Eltern bei Nicht-Erfüllung des
Rechtsanspruchs sicherlich erheblich dazu beigetragen, dass es in den vergangenen
Jahren einen erheblichen Ausbauschub gegeben hat, der in vielen Regionen die
Angebotssituation deutlich verbessert hat.

Darüber hinaus sollte man meinen, dass ein individueller
Rechtsanspruch in einem ordentlichen Staat wie Deutschland immer auch damit
verbunden sein muss, dass man gegen seine Nicht-Erfüllung bei gewünschter
Inanspruchnahme mit dem scharfen Schwert der Klage und der möglichen
Schadensersatzpflichtigkeit der Gegenseite agieren kann.

Genau so haben wohl auch drei Mütter aus Leipzig gedacht. Sie
hatten geltend gemacht, dass sie länger zu Hause bleiben mussten, weil ihnen
die Stadt Leipzig keinen Platz für ihr Kind anbieten konnte. Sie wollten für
ihren Verdienstausfall insgesamt 15.000 Euro Schadenersatz plus Zinsen. Eine
Art Vorläufer-Verfahren hatte es bereits gegeben, allerdings mit einem
entscheidenden Unterschied zu dem Verlangen auf Entschädigung für den
Verdienstausfall, wie er jetzt von den drei Müttern aus Leipzig vorgetragen
wurde:

»Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits entschieden, dass
in solchen Fällen Eltern eine private Betreuung in Anspruch nehmen können, die
meist teurer ist. Die Mehrkosten muss dann grundsätzlich die zuständige Stadt
übernehmen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte im September 2013 die Stadt
Mainz zu 2.200 Euro Schadenersatz verurteilt. Die Mutter musste ihre Tochter
damals monatelang in einer privat organisierten Elterninitiative unterbringen,
obwohl sie ihre Tochter rechtzeitig für einen Kita-Platz angemeldet hatte«,
kann man dem Artikel Herber
Rückschlag für Mütter
von Ursula Knapp entnehmen.

Die Fallkonstellation, die nun zu dem Urteil des OLG Dresden
geführt hat, war aber eine andere als im Mainzer Fall, denn: »Die drei Familien
hatten nämlich keinen privaten Betreuungsplatz in Anspruch genommen, nachdem
ihre Kinder leer ausgegangen waren. Vielmehr waren die Mütter länger zu Hause
geblieben. Für diesen Verdienstausfall wollten sie nun Schadenersatz von der
Stadt Leipzig.«

Diesem Anliegen wurde am Anfang des Musterprozesses auch
entsprochen: In der ersten Instanz hatte das Landgericht Leipzig die Stadt
verurteilt, 15.000 Euro plus Zinsen an die Familien zu zahlen. (Az.: 1 U
319/15, 1 U 320/15, 1 U 321/15). Mit Blick auf die beklagte Stadt muss man
wissen: In Leipzig fehlten nach Angaben der Stadtverwaltung in diesem Sommer
noch knapp 1.200 Kita-Plätze, so der Artikel Fehlende
Kitaplätze – Städte müssen keinen Schadensersatz zahlen
. Wir reden hier
also nicht über Einzelfälle.
Nun aber die gegenteilige Entscheidung des OLG in Dresden.
Mit welcher Begründung wurde diese Kehrtwende vollzogen? Da muss man wie so oft
bei Urteilen mindestens einmal um die Ecke denken:
Das OLG hat nun entschieden, dass die Stadt zwar ihre
Amtspflicht verletzt habe, den Eltern rechtzeitig einen Betreuungsplatz zur
Verfügung zu stellen. Dem Argument der Stadt, bei den privaten Trägern habe es
bauliche Verzögerungen gegeben, die die Stadt nicht zu verantworten habe,
folgten die Richter nicht. Diese Amtspflichtverletzung der Stadt führe aber nun
nicht dazu, dass ein Elternteil seine Gehaltseinbußen einklagen könne. Warum
nicht? Ziel des Gesetzes sei aber die frühkindliche Förderung. Die bessere
Vereinbarkeit von Familie und Beruf sei lediglich die Folge des Gesetzes,
teilte das OLG mit. Deswegen könnten die Eltern keinen Schadensersatz verlangen.
»Die Begründung wörtlich: „Den Klägerinnen selbst steht kein
Anspruch auf einen Platz für ihr Kind in einer Kindertagesstätte zu.
Anspruchsinhaber sei alleine das Kind.“ Die bessere Vereinbarkeit von Beruf und
Familie für die Eltern sei nur eine Folge des Anspruchs des Kindes. „Mittelbare
Schäden der Eltern, wie der Verdienstausfall, sind hier nicht inbegriffen“, so
der 1. Zivilsenat in Dresden. (Aktenzeichen: OLG Dresden 1 U 319/15, 1 U
320/15, 1 U 321/15)«, so Ursula Knapp in ihrem Artikel.
Die richtigen Worte zu dieser Entscheidung findet Heribert
Prantl in seinem Kommentar Kita-Anspruch
wird degradiert
: » Die Richter in Dresden haben aus dem Recht auf einen
Kita-Platz einen hohlen Spruch gemacht. Ihre Argumentation ist vermeintlich
logisch, aber realitätsblind.«
Und weiter:

»Die Richter haben geurteilt: Wenn es keinen Kitaplatz gibt,
wenn also der ansonsten berufstätige Vater oder die berufstätige Mutter
deswegen zu Hause beim Kind bleiben müssen, dann folgt daraus – nichts. Kein
Schadenersatzanspruch für den Verdienstausfall, keine Entschädigung, kein müder
Euro. Die Richter gestehen zwar zu, dass die saumselige Kommune ihre
Amtspflicht verletzt hat; aber auch daraus folgt angeblich – nichts.«

Nach Prantl verkennen die Dresdner Richter den
Lebenszusammenhang. Der Verdienstausfall der Eltern ist ein Folgeschaden der
Amtspflichtverletzung. Vor dem Hintergrund, dass Revision zugelassen wurde,
hofft Prantl, dass der »Bundesgerichtshof … hoffentlich in letzter Instanz
das Dresdner Urteil wieder korrigieren (wird). Es entfällt sonst ein
Druckmittel der Eltern, das Recht ihres Kindes auf einen Kita-Platz auch
durchzusetzen.« Wohl wahr.
Es handelt sich hier keineswegs um einen lokalen Einzelfall,
wie ein Blick in den Artikel Quälendes
Warten auf einen Krippenplatz
von Melanie Staudinger zeigen kann, die sich
mit der Situation in München beschäftigt hat. Die Bilanzierung des Geschehens
in München ist für Eltern nicht wirklich vielversprechend, ganz im Gegenteil:

»Die Prozess-Statistik des Bildungsreferats zählt insgesamt
106 Verfahren von 83 Klägern und Antragstellern. Verloren hat die Stadt bisher
kein einziges davon. Ganz im Gegenteil: In 63 Fällen hat sie gewonnen, die
Klagen sind zurückgenommen oder für erledigt erklärt worden – oft erhalten
Eltern noch im Gerichtssaal ein Angebot vom Bildungsreferat. Die restlichen 43
Verfahren sind noch offen, dürften aber ähnlich ausgehen wie bisher.«

In der Münchner Prozess-Statistik sind die drei
Hauptklagegründe enthalten:

»Die meisten Eltern, die klagen, wollen lediglich den
Rechtsanspruch durchsetzen (etwa 60 Prozent der Fälle), also einen Krippenplatz
haben, der ihnen vor einem Prozess dann meist noch angeboten werden kann. Der
Rest will …, dass die Stadt ihnen den Differenzbetrag zwischen ihrer teureren
Kindertagesstätte und einer städtischen Einrichtung erstattet. Oder aber Eltern
wollen, dass das Bildungsreferat ihren Verdienstausfall begleicht, weil sie
erst später einen Kita-Platz bekamen und nicht wie geplant arbeiten konnten.«

Besonders ärgerlich aus Sicht der betroffenen Eltern ist
eine Erfahrung, die man in München hat sammeln müssen mit der Argumentation der
Stadt, der sich die Richter offensichtlich angeschlossen haben: Gesetzlich sei
nur wichtig, dass ein Platz offeriert wurde, selbst ein verspätetes Angebot
reiche aus. Damit laufen auch die Klagen ins Leere, die nicht wie die drei
Leipziger Mütter auf Schadensersatz für den Verdienstausfall klagen, sondern „nur“
um die Erfüllung des Rechtsanspruchs, denn den meisten wird spätestens im
Verfahren irgendein Angebot organisiert, dass ihnen dann aber vor Gericht den
Wind aus den Segeln nimmt.
Irgendwie hat man den Eindruck, dass die Geschichte mit David gegen Goliath auch anders ausgehen kann, als sie überliefert ist. 

Auf der Rutschbahn direkt in Hartz IV. Mehr als jeder fünfte Beschäftigte ist davon bei Arbeitslosigkeit betroffen. Was ein wenig helfen würde und wo die (System-)Grenze ein Dilemma ist

Also „normalerweise“ sollte es so sein, dass das Risiko der Erwerbsarbeitslosigkeit durch „vorrangige“ Sicherungssysteme aufgefangen wird, also durch die Arbeitslosenversicherung und nicht durch eine bedürftigkeitsabhängiges Fürsorgesystem wie Hartz IV. Mittlerweile haben sich diese Verhältnisse umgekehrt und fast 70% der registrierten Arbeitslosen befinden sich im Grundsicherungssystem (SGB II), während etwas mehr als 30% im Versicherungssystem (SGB III) abgesichert sind. Das hängt auch damit zusammen, dass aufgrund der Veränderungen in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes seit Mitte der 1990er Jahre – vor allem deren Ausbreitung und der für viele dauerhaften Exklusion von stabileren Formen der Beschäftigung – die Voraussetzungen für den Bezug von Versicherungsleistungen nicht oder immer seltener erfüllt werden (können), wie beispielsweise die notwendige Vorbeschäftigungszeit innerhalb einer vom Gesetzgeber festgelegten Rahmenfrist, um beim Eintritt des „Schadensfalls“ Arbeitslosigkeit Leistungen zu bekommen.
Das führt dann zu solchen Meldungen, die auf eine neue Auswertung der Zugangsdaten in Arbeitslosigkeit beruhen, die vom DGB in regelmäßigen Abständen vorgenommen wird: Jeder fünfte Beschäftigte rutscht bei Arbeitslosigkeit sofort in Hartz IV: »Demnach waren in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres 264.000 Beschäftigte schon zu Beginn ihrer Arbeitslosigkeit auf Hartz IV angewiesen. Das waren 21,3 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit Jobverlust. Besonders angespannt ist die Lage in der Zeitarbeitsbranche. Dort wurden im ersten Halbjahr 183.000 Arbeitkräfte entlassen. Davon waren rund 68.000, also 37 Prozent, direkt im Anschluss auf staatliche Grundsicherung angewiesen.«

Wer das Original lesen möchte, kann die Auswertung der Zugangsdaten in Arbeitslosigkeit und vor allem die sozialpolitischen Schlussfolgerungen des DGB hier als PDF-Datei abrufen:

Wilhelm Adamy: 12 Monate mehr: Wie die Arbeitslosenversicherung besser vor Verarmung schützen kann. Auswertung aktueller Arbeitsmarktzahlen (1. Halbjahr 2015), Berlin 2015.

»Der Weg vom Beschäftigten zum Hartz-IV-Empfänger kann sehr kurz sein«, so Wilhelm Adamy in seiner Analyse: »Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten, die sich neu arbeitslos melden müssen, haben eine berufliche Ausbildung oder waren als Spezialist oder Experte (z.B. Ingenieur) beschäftigt. Das Hartz IV-Risiko bei Eintritt der Arbeitslosigkeit nimmt zwar mit dem Qualifikationsniveau ab, liegt bei ehemaligen Fachkräften aber immer noch bei knapp einem Fünftel. Bei den arbeitslosen Helfern sind nach einer Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt sogar 42 Prozent auf staatliche Fürsorgeleistungen angewiesen.«

Und jetzt kommt ein Problem, auf das die derzeitige Debatte zielt:

»Viele mit und ohne Berufsabschluss haben zwar gearbeitet und ein ganzes Jahr Beiträge zur Versicherung gezahlt. Sie haben es aber nicht innerhalb der letzten zwei Jahre (der gesetzlichen Rahmenfrist) schaffen können, weil sie befristet oder unstetig beschäftigt waren. Infolge der zu kurzen Beitragszahlungen oder einer länger zurück liegenden Beschäftigung führt dies zum sofortigen Sturz in das Hartz-IV-System. Insbesondere prekär Beschäftigte, kurzfristig Beschäftigte und Leiharbeitskräfte kommen oftmals gar nicht in den Schutz der Versicherung.«

„Beeindruckend“ im negativen Sinne sind hier die für die Leiharbeit präsentierten Daten:

»Im Verleihgewerbe sind im ersten Halbjahr 2015 bereits 183.000 Leiharbeitskräfte arbeitslos geworden, rund 68.000 davon sind direkt auf Hartz IV angewiesen. Diese Zugänge aus Leiharbeit in Arbeitslosigkeit entsprechen fast einem Viertel des Beschäftigungsbestandes dieser Branche. Heuern und Feuern ist hier immer noch an der Tagesordnung, wenn im Schnitt ein Viertel der Belegschaft im Verleihgewerbe innerhalb eines halben Jahres Erfahrung mit Arbeitslosigkeit machen muss. Rund 37 Prozent der vormaligen Leiharbeitskräfte sind bei Eintritt der Arbeitslosigkeit zugleich auf Hartz IV angewiesen.«

Hinsichtlich des diskutierten und vom DGB auch geforderten Veränderungsbedarfs muss man darauf hingewiesen, dass es sich um den Vorschlag handelt, eine alte, also früher schon mal bestehende Regelung in der Arbeitslosenversicherung wieder einzuführen, also nichts wirklich Neues oder gar Revolutionäres. Dem DGB-Papier können wir dazu entnehmen:

»Laut Koalitionsvertrag sollen Beschäftigte künftig wieder 36 Monate Zeit haben, um zwölf Monate Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen. Dieser Zeitraum ist die Voraussetzung, um Arbeitslosengeld I zu beziehen. Von dieser Reform würden insbesondere Menschen profitieren, die häufig nur für kurze Zeit eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben. Die so genannte Rahmenfrist lag vor 2006 ebenfalls bei 36 Monaten und wurde dann auf 24 Monate verkürzt.«

Der DGB „erinnert“ nun die Bundesregierung lediglich an das eigene Vorhaben, das man im Koalitionsvertrag beschlossen hat:

»Der DGB fordert, die gesetzliche Rahmenfrist endlich zu verlängern (im Koalitionsvertrag war Anfang 2015 als Start genannt worden). Das würde im Jahresschnitt die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I um etwa 50.000 erhöhen, die Ausgaben würden pro Jahr um rd. 300 Mio. Euro steigen. Gleichzeitig würde das Hartz-IV- System schrumpfen. Bund und Kommunen würden jährlich um fast 100 Mio. Euro entlastet.«

Man sollte aber vor dem Hintergrund der Gesamtzahl an Arbeitslosen und an Zugängen in Arbeitslosigkeit den Effekt einer solchen Veränderung nicht überbewerten – für die einzelnen Betroffenen wäre das sicher eine wichtige Verbesserung, aber das angesprochene Grundproblem einer seit vielen Jahren beobachtbaren Verschiebung der „Absicherung“ von Phasen der Erwerbslosigkeit aus der (eigentlich zuständigen) Arbeitslosenversicherung in die (eigentlich nur als letztes Auffangnetz vorgesehene) Fürsorge wird dadurch nur in einer überschaubaren Art und Weise etwas korrigiert.

Zu den Zahlen: Im 1. Halbjahr 2015 haben 1,238 Mio. Menschen ihren sozialversicherten Job verloren und sind arbeitslos geworden.  Mehr als ein Fünftel der Beschäftigten, die im ersten Halbjahr 2015 den Job verloren, sind schon zu Beginn der Arbeitslosigkeit in Hartz IV gerutscht. Absolut waren dies 264.000 bzw. 21,3 Prozent der sozialversichert Beschäftigten mit Jobverlust.
Was würde nun die eigentlich vereinbarte Verlängerung der Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre bringen? Hier werden zwei Zahlen genannt: Im DGB-Papier findet man dazu den Hinweis: »Das würde im Jahresschnitt die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I um etwa 50.000 erhöhen.« In dem Artikel der Saarbrücker Zeitung wird eine etwas andere Zahl genannt: »Nach Angaben des DGB-Arbeitmarktexperten Wilhelm Adamy könnten dadurch im Jahresschnitt bis zu 35.000 Personen vor dem sofortigen Abdriften in Hartz IV bewahrt werden.«

35.000 bis 50.000 sind eine Menge. Aber nur ein Teil der Betroffenen:

Für die große Mehrheit der Arbeitslosen, die derzeit direkt „weitergereicht“ werden in das Hartz IV-System, bleibt das beschriebene Dilemma erheblicher Sicherungslücken in dem „eigentlich“ für ihr Problem zuständigen Versicherungssystem bestehen. Das Dilemma resultiert aus dem Versicherungscharakter der Arbeitslosenversicherung, die zwar eine Sozialversicherung ist, aber eben auch Versicherungsprinzipien folgen muss. Zugespitzt formuliert: Die Arbeitslosenversicherung ist ein geeignetes Aufgang- und (bei entsprechender Höhe der Leistungen) Absicherungssystem für die betroffenen Arbeitnehmer, wenn der Schadensfall der Arbeitslosigkeit nur als Ausnahmefall und dann temporär eintritt, also nach einer überschaubaren Zeit wieder beendet werden kann durch die Aufnahme einer neuen sozialversicherungspflichtigen Arbeit. Die Versicherung als solche stößt an ihre (System-)Grenze, wenn die Arbeitslosigkeitsphasen oft und dann auch noch lange anhaltend auftreten. Vor diesem strukturellen Problem stehen alle – grundsätzlich wichtigen und eigentlich notwendigen – Ansätze einer Weiterentwicklung der „tradierten“ Arbeitslosen- hin zu einer modernen „Beschäftigungsversicherung“, seit Jahren richtigerweise gefordert, aber bislang noch nicht wirklich überzeugend konzeptualisiert. Das ist keineswegs ein Plädoyer, darüber nicht weiter zu diskutieren. Aber derzeit bleibt hier ein großes Fragezeichen.

Eine „Beschäftigungsversicherung“ würde nicht nur vor dem Problem stehen, dass die Fälle besser abgesichert werden müssen, um die es bislang in diesem Beitrag ging, die also häufig und länger anhaltend arbeitslos werden aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Die ganze „Aufstocker“-Thematik aus dem Grundsicherungssystem müsste hier berücksichtigt werden, also die Mischung aus Erwerbstätigkeit und einer aufstockenden Leistungsgewährung angesichts der nicht ausreichend hohen Einkommen aus der Erwerbstätigkeit, sei sie nun sozialversicherungspflichtig, als geringfügige Beschäftigung oder in Form der Selbständigkeit ausgeübt.