Das von der Großen Koalition beschlossene Tarifeinheitsgesetz ist bekanntlich überaus umstritten – nicht nur hinsichtlich der erfahrbaren Ablehnung bei den davon betroffenen Sparten- bzw. Berufsgewerkschaften, sondern der Riss zwischen den Befürwortern und Gegnern geht auch durch die Reihen der DGB-Gewerkschaften und viele Arbeitsrechtler haben vor der Verabschiedung des Gesetzes darauf hingewiesen, dass sie mit einem Scheitern vor dem Bundesverfassungsgericht rechnen, da einige zentrale Bestandteile der Regelung offensichtlich verfassungswidrig seien.
Nun ist es bekanntlich so: Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand und – scheinbar – können wir diesen Hinweis auf die Unberechenbarkeit dessen, was am Ende passiert, am Beispiel des Tarifeinheitsgesetzes studieren, denn:
Gewerkschaften scheitern mit Eilantrag gegen das Tarifeinheitsgesetz. Lagen also die vielen Experten mit ihrer sehr kritischen Einschätzung der Verfassungswidrigkeit des Tarifeinheitsgesetzes völlig daneben? Das nun wieder wäre eine nicht nur voreilige, sondern schlichtweg falsche Bewertung dessen, was in Karlsruhe passiert ist. Der Augenmerk muss gerichtet werden auf den Terminus „Eilantrag“, darum ging es, nicht um die Substanz des umstrittenen Gesetzes.
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat am 9. Oktober 2015 eine Pressemitteilung zu seiner Entscheidung veröffentlicht unter der Überschrift
Anträge auf einstweilige Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz erfolglos. Und der kann man zu den vorliegenden drei Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz entnehmen:
»Soll ein Gesetz außer Vollzug gesetzt werden, gelten besonders hohe Hürden. Vorliegend sind jedoch keine entsprechend gravierenden, irreversiblen oder nur schwer revidierbaren Nachteile feststellbar, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machten. Derzeit ist nicht absehbar, dass den Beschwerdeführern bei Fortgeltung des Tarifeinheitsgesetzes bis zur Entscheidung in der Hauptsache das Aushandeln von Tarifverträgen längerfristig unmöglich würde oder sie im Hinblick auf ihre Mitgliederzahl oder ihre Tariffähigkeit in ihrer Existenz bedroht wären. Im Hauptsacheverfahren, dessen Ausgang offen ist, strebt der Erste Senat eine Entscheidung bis zum Ende des nächsten Jahres an.«
Bei den drei Beschwerdeführern handelt es sich um Berufsgruppengewerkschaften. Es ging um Eilanträge von
Marburger Bund,
Vereinigung Cockpit und dem
Deutschen Journalisten-Verband.
GDL und
Deutscher Beamtenbund beschränken sich hingegen auf eine reguläre Klage. Ihre Tarifzuständigkeiten überschneiden sich mit denen anderer Gewerkschaften, die regelmäßig einen größeren Personenkreis abhängig Beschäftigter organisieren. Das Gesetz zur Tarifeinheit fügt eine neue Kollisionsregel in das Tarifvertragsrecht ein, die dazu führt, dass nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gilt, die in diesem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Eine (kleinere) Gewerkschaft, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hat dann nur noch die Möglichkeit, den Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft zu übernehmen bzw. sich diesem unterzuordnen. Damit – so einer der zentralen Argumente der Kritiker – würde die Existenzfrage für die kleineren Gewerkschaften gestellt, denn warum sollte man sich dann noch als Arbeitnehmer in einer solchen Organisation zusammenschließen?
Das Bundesverfassungsgericht hat die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen das Tarifeinheitsgesetz zwar verworfen, aber nicht, weil es das Gesetz für verfassungskonform bewertet, denn die dazu anhängige Befassung des Gerichts, also das Hauptsacheverfahren, hat erst begonnen und läuft noch – es soll nach Bekunden des Gerichts bis Ende des kommenden Jahres abgeschlossen, also mit einer endgültigen Entscheidung versehen werden. Der zentrale Argumentationsanker des BVerfG zu Ablehnung der Eilanträge bezieht sich darauf, dass ein möglicher Schaden angesichts der genannten Frist nicht unzumutbar sei:
»So ist gegenwärtig nicht erkennbar, dass die Beschwerdeführer oder Dritte im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache, die der Senat bis zum Ende nächsten Jahres anstrebt, gravierende, kaum revidierbare oder irreversible Nachteile erleiden, weil die gesetzlich angeordnete Tarifeinheit schon vor Eintritt des Kollisionsfalls Wirkungen entfaltet. Soweit die Beschwerdeführer ihre tarifpolitische Verhandlungsmacht durch das Tarifeinheitsgesetz geschwächt sehen, liegt darin zwar ein Nachteil. Das angegriffene Gesetz untersagt jedoch nicht die tarifpolitische Betätigung an sich.«
Hinzu kommt ein pragmatischer Aspekt: Die Verfassungsrichter können keinen aktuell relevanten Fall erkennen, bei dem es zu einer möglichen Benachteiligung durch Anwendung der Tarifkollisionsregel im neuen Gesetz kommen könnte, mithin sich die Frage der Eilbedürftigkeit einer Entscheidung derzeit gar nicht stellt:
»Es ist derzeit nicht absehbar, inwieweit es im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache tatsächlich in einem Ausmaß zur Anwendung der Kollisionsregel des § 4a TVG kommt, der eine einstweilige Anordnung unabdingbar erscheinen ließe.«
Ganz am Ende der Entscheidung (im Original:
Beschluss vom 06. Oktober 2015, 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 1582/15) findet sich dann ein höchst interessanter Hinweis an diejenigen, die sich jetzt als Befürworter des Tarifeinheitsgesetzes schon auf der sicheren Seite wähnen, denn an die ist der letzte Satz des hier aus der Pressemitteilung zitierten Textes gerichtet:
»Es bleibt den Beschwerdeführern unbenommen, bei einer erheblichen Änderung der tatsächlichen Umstände einen erneuten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu stellen. Die Sicherungsfunktion der einstweiligen Anordnung kann es auch rechtfertigen, dass der Senat ohne einen entsprechenden Antrag der Beschwerdeführer eine solche von Amts wegen erlässt.«
Also werden wir das kommende Jahr abwarten müssen, bis das BVerfG eine endgültige Entscheidung treffen wird. Man kann weiter mit guten Gründen davon ausgehen, dass das Gesetz in der vorliegenden Fassung keinen Bestand haben dürfte angesichts der damit verbundenen bzw. der daraus resultierenden schwerwiegenden Auswirkungen auf die Koalitionsfreiheit, aus der in unserem Land das Streikrecht abgeleitet wird.