Sinnvolle und mehr als fragwürdige Vorschläge im Windschatten der Flüchtlingsdebatte. Und dann die Sprach- und Integrationskurse mal wieder

Man kann sein Vollzeit-Leben derzeit verbringen nur mit dem Sammeln der Vorschläge, wie es gelingen könnte, „die“ Flüchtlinge in absehbarer Zeit in den Arbeitsmarkt zu bekommen. Wobei diese Perspektive an sich schon mehr als verengt daherkommt, wenn die – zugegeben  mit hoher Symbolkraft ausgestattete – Zahl von einer Million Menschen, die allein in diesem Jahr als Flüchtlinge zu uns gekommen sind, als Maßstab für eine anstehende Arbeitsmarktintegration verwendet wird, beispielsweise in einem Vorstoß des Verbandes Die Familienunternehmer, die ausdrücklich auf dieser durch alle Medien verbreiteten Zahl aufsetzen und ein Diskussionspapier vorgelegt haben mit dem bezeichnenden Titel: 1 Million neue Arbeitsplätze – wie schaffen wir das? Es ist eben nicht kleinlich, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass wir eben nicht eine Million Arbeitsplätze für die eine Million Flüchtlinge brauchen (werden), denn hinter dieser Zahl verbergen sich eben nicht nur arbeitsfähige bzw. -willige Menschen, sondern auch viele Kindern und die, die sich um diese kümmern und die auf absehbare Zeit gar keine Arbeitsmarktintegration wollen oder brauchen. Das wird – vor allem, wenn sich in den vor uns liegenden Jahren der Familiennachzug ausbreiten wird – noch erhebliche Diskussionen auslösen und angesichts der Tatsache, dass diese arbeitsmarktlicht gesehen „inaktiven“ Teile über Transferleistungen finanziert werden, kann das ein zentrales Einfallstor werden für die Kräfte, denen an einer Skandalisierung und Problematisierung gelegen ist. Nur – die Finanzierung des Lebensunterhalts dieser Menschen ist unvermeidlich und sollte nicht verschwiegen werden.

Gerade vor diesem Hintergrund müssen alle Vorschläge für eine bessere oder überhaupt gelingende Arbeitsmarktintegration der anderen Flüchtlinge erst einmal ohne Vorbehalte geprüft werden.

Unter der Überschrift Familienunternehmer fordern Reformpaket für eine Million Jobs berichtet Thomas Öchsner in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung über die Forderungen des Unternehmerverbandes an die Bundesregierung. Der selbst gesetzte Anspruch hat es in sich:

„Ein drittes deutsches Wirtschaftswunder nach dem nach 1949 und dem nach 2009 ist nötig – und möglich“, heißt es in einem Positionspapier des Verbandes, der 5.000 Familienfirmen vertritt. Nötig sei dafür ein Reformpaket, das weit über die Agenda 2010 des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) hinausgehe, berichtet Öchsner in seinem Artikel.

Die Formulierung „weit über die Agenda 2010“ hinausgehend wird nun schon reflexhaft bei den einen oder anderen Magenschmerzen auslösen. Und ein genauerer Blick verdeutlich tatsächlich, dass sich die meisten Vorschläge des Familienunternehmer-Verbandes tatsächlich einordnen lassen in die Logik, mit der auch die Agenda 2010 hausieren gegangen ist: Deregulierung und angebotsseitige Wirtschaftspolitik ist gut. Früher für „die“ Arbeitslosen, jetzt für „die“ Flüchtlinge.

Wie sehen die Vorschläge des Familienunternehmer-Verbandes aus?

»Die Familienunternehmer wollen … neben der dualen Ausbildung eine triale Ausbildung einführen, zu der neben der Praxis im Betrieb und der Berufsschule auch der Erwerb der deutschen Sprache gehört. Diese dritte Säule könne dazu führen, dass sich die Ausbildungszeit auf vier Jahre verlängert.«

Darüber kann und muss man diskutieren. Alle Möglichkeiten eines möglichst schnellen Zugangs zu einer qualifizierten Ausbildung für die Flüchtlinge, die können und wollen, macht Sinn.
Der Vorschlag wird erweitert:

»Gleichzeitig schlägt der Wirtschaftsverband vor, Unternehmen, die Auszubildende ohne ausreichende Sprachkenntnisse beschäftigen, durch staatliche Zuschüsse mit 1000 Euro pro Azubi im Monat für zwei Jahre zu unterstützen. Das Geld soll aber keine zweckungebundene Subvention sein, sondern nachweisbar in den Sprachunterricht fließen.«

Auch das ist diskussionswürdig, wenn es sich um eine zweckgebundene Subventionierung handelt, wobei sogleich zahlreiche Anschlussfragen aufgeworfen werden. Beispielsweise die nach der Infrastruktur für den Abruf der Sprachschulungen, die dann aus den Mitteln finanziert werden können. Ist die vorhanden? Also wer soll das (wo?) machen?

Aber offensichtlich verfolgen die Wirtschaftsfunktionäre das Ziel, wenn man schon mal dabei ist, dann kann man ja auch noch Dinge gleich mitfordern, die man immer schon gerne gehabt hätte. Und dann kommt so was dabei raus:

»Zugleich fordern die Familienunternehmer für alle zusätzlichen Stellen, die in Deutschland bis 2020 geschaffen werden, ob für Migranten oder für einheimische Arbeitslose, die Sozialversicherungsbeiträge zu halbieren.«

Offensichtlich berauscht von der angebotsseitigen Lehre der Kostenentlastung ist dieser Passus „reingerutscht“. Aber a) wieso soll eine derart enorme Entlastung der Unternehmen für alle zusätzlichen Jobs in Anspruch genommen werden und wesentlich bedeutsamer b) wie will man denn eine Abgrenzung der „zusätzlich“ geschaffenen Jobs zu denen hinbekommen, die ansonsten auch entstanden wären? Eine nur als putzig zu charakterisierende Vorstellung.
Aber damit nicht genug – und klar, der Mindestlohn darf nicht fehlen:

»Für die große Zahl der wenig bis unqualifizierten Flüchtlinge sei der Mindestlohn von 8,50 Euro „eine echte Barriere für den Einstieg in den Arbeitsmarkt“. Am besten wäre deshalb eine gegebenenfalls zeitlich befristete Abschaffung der Lohnuntergrenze … .«

Und wenn man schon auf Betriebstemperatur ist, dann kann man auch das ewige Thema mit dem Kündigungsschutz gleich mitnehmen:

»Um die Hemmschwelle für Einstellungen zu senken, müsse auch der strenge Kündigungsschutz schrittweise in ein Abfindungsmodell umgewandelt werden.«

Und um möglichen Kritikern gleich von Anfang an ein schlechtes Gewissen zu machen, wird dann auch noch ein Hinweis gegeben auf den Aufstieg des Front National in Frankreich, was man natürlich bei uns vermeiden wolle.

Wirklich interessant und relevant für die aktuelle Debatte ist der Vorschlag zur „trialen“ Ausbildung und der zweckgebundenen Subventionierung, wenn denn diese tatsächlich der Sprachschulung  zugute kommen würde.

Damit sind wir angekommen bei denen, die für die Sprachkurse verantwortlich sind, also nicht nur die Volkshochschulen und andere Träger, die das machen (müssen). sondern auch bei den so genannten Kostenträgern, wie das in Deutschland immer sich heißt. Also denjenigen, die das finanzieren. Und angesichts des nun mittlerweile für jeden unübersehbaren Bedarfs an Sprach- und Integrationskursen lässt eine solche Meldung aufhorchen:

GEW: „Kein großer Wurf!“ Bildungsgewerkschaft zur Erhöhung der Trägerpauschale für Integrationskurse, eine Pressemitteilung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft vom 10.12.2015.

Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wird die Trägerpauschale für Integrationskurse zum 1. Januar 2016 von 2,94 Euro auf 3,10 Euro erhöht. Das Mindesthonorar für eine mehrjährige Trägerzulassung steigt von 20 auf 23 Euro. „Nach Abzug der Sozialabgaben bleibt vielen der akademisch qualifizierten Lehrkräfte von den Honoraren ein Einkommen, das knapp über dem Hartz-IV-Niveau liegt“, wird Ansgar Klinger, für berufliche Bildung und Weiterbildung verantwortliches GEW-Vorstandsmitglied, zitiert. Er forderte, die Trägerpauschale auf 4,40 Euro zu erhöhen. Nur so könnten die Träger der Kurse Lehrkräfte anstellen und ihrer Qualifikation entsprechend bezahlen.

Über die miserable Situation der Fachkräfte, die sich im Bereich der Sprach- und Integrationskurse bewegen, ist hier schon berichtet worden, vgl. dazu beispielsweise nur den Beitrag 1.200 Euro im Monat = „Top-Verdienerin“? Lehrkräfte in Integrationskursen verständlicherweise auf der Flucht oder im resignativen Überlebenskampf vom 02.09.2015.

Aber selbst die Pressemeldung der GEW ist angesichts der realen Verhältnisse in diesem Teilbereich des Bildungssystems, die man nur als Wilder Westen bezeichnen kann, noch zahm und „liebevoll“. Angesichts der gerade bei uns manifesten Herausforderungen durch die Zuwanderung von mehr als einer Million Menschen in diesem Jahr müssten erhebliche Ressourcen für den „Flaschenhals“ der Sprachschulung und der Integrationsarbeit mobilisiert werden. Ein Anstieg der Trägerpauschale von 2,94 Euro auf 3,10 Euro ist sicher keine auch nur annähernd angemessene Antwort.

Wie ein solche aussehen müsste? Dazu nur einige wenige Zahlen:

Wenn man die Lehrkräfte in den Kursen halbwegs angemessen vergüten wollte angesichts ihrer überaus schwierigen und zugleich gesellschaftlich so substanziell wichtigen Arbeit, dann müsste man mit einem Stundensatz in Höhe von 5,50 Euro kalkulieren, denn erst damit würden die Träger in die Lage versetzt, den Fachkräften eine Vergütung zu ermöglichen, die sich auf dem TVöD 12-Niveau bewegt.

Zwischen der in Aussicht gestellten Anhebung der Trägerpauschale auf 3,10 Euro und den 5,50 Euro besteht schon ein Welten-Unterschied. Erschwerend kommt hinzu, was sich ergibt, wenn man in andere Länder schaut: So beträgt der Stundensatz für Integrationskursteilnehmer in Spanien 8 Euro, damit eine tarifliche Vergütung rebfinanzierbar ist.

Fazit: Wieder einmal erweist sich Deutschland als der Billigheimer, der anspruchsvollste Ziele mit möglichst wenig Geld und vor allem mit möglichst wenig Personal zu realisieren versucht. Aber das wird in diesem Bereich nicht funktionieren.

Menschen ohne Bleibe haben ein Recht auf Unterbringung. Das scheint normal, ist es aber in der Wirklichkeit offensichtlich nicht. Deshalb gibt es dazu jetzt ein Rechtsgutachten

Jetzt ist sie wieder da, die kalte Jahreszeit. Und bei vielen Menschen wird in den kommenden Monaten wieder in Erinnerung gerufen werden, dass es Menschen gibt, die auf der Straße leben (müssen). Und wenn es schlimm kommt, dann wird wieder der eine oder andere Mensch erfrieren und für einen kurzen Moment wird es Betroffenheit geben. Zugleich wird man zur Kenntnis nehmen müssen, dass zum einen gerade in den Großstädten Notunterkünfte fehlen, um die Menschen wenigstens in der Nacht versorgen zu können, auf der anderen Seite wird man immer wieder hören oder lesen, dass solche Schlafplätze, wenn sie denn vorhanden sein sollten, nicht in Anspruch genommen werden – mit den dann Betroffenheit erzeugenden Folgen, aber auch der immer wieder mitschwingenden Frage, warum man denn dieses Risiko auf sich genommen hat. Dass nicht wenige Obdachlose Hunde haben, deren Mitnahme oftmals verboten ist, wissen dann nur wenige. Dass manche Obdachlose schlichtweg Angst haben, beklaut oder gar geschlagen zu werden in der Enge der Notunterkünfte, sei hier hier nur als weiterer Aspekt erwähnt.

Wie dem auch sei. Thema dieses Beitrags ist ein neues Rechtsgutachten, das Karl-Heinz Ruder anlässlich der der Bundestagung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. in Berlin vom 9.-11. November 2015, „Solidarität statt Konkurrenz – entschlossen handeln gegen Wohnungslosigkeit und Armut“, vorgelegt hat. »Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) hat kürzlich einen Anstieg der Zahl der Obdachlosen von derzeit geschätzt 335.000 auf über eine halbe Million im Jahr 2018 prognostiziert. Betroffen sind immer häufiger auch Geflüchtete und Arbeitsuchende aus ärmeren EU-Staaten«, so Susan Bonath in ihrem Artikel Polizei gegenüber Obdachlosen in der Pflicht. »Muss Betroffenen geholfen werden, wenn sie Hilfe suchen? Ja, meint der Rechtsanwalt Karl-Heinz Ruder aus Emmendingen (Baden-Württemberg) in einem aktuellen Gutachten, das er für die BAG W erstellt hat …  Ruder sieht als letzte Instanz, an die sich Betroffene wenden können, die Polizei in der Pflicht.« 

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Hartz IV ist eigentlich zu niedrig, aber … Neues aus einem mehr als 40 Mrd. Euro schweren „System“, in dem man zuweilen sehr unsystematisch für eine ganz bestimmte „Ordnung“ sorgt

Eigentlich müsste man, aber … Das Muster kennt man von vielen sozialpolitischen Baustellen. Vor wenigen Tagen wurde hier berichtet: Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen – gedulden. Da ging es um die Tatsache, dass eigentlich eine Neuberechnung der Hartz IV-Leistungen erforderlich ist angesichts der Tatsache, dass die neuen Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 mittlerweile vorliegen und die bisherigen Leistungen noch auf der Datengrundlage der EVS 2008 bemessen worden sind, so dass eine Anpassung erfolgen müsste, wenn der Gesetzgeber seine eigene Vorschrift im § 28 SGB XII „Ermittlung der Regelbedarfe“ umsetzen würde. Will er auch, aber eben nicht so schnell: Mit einer Erhöhung der Regelsätze aufgrund der neuen Daten können die Hartz IV-Empfänger erst Anfang 2017 rechnen, denn – so das Bundesarbeitsministerium –  zunächst werde man die Ergebnisse der EVS prüfen und bei den Statistikern neue Sonderauswertungen in Auftrag geben. Bloß nichts überstürzen. Das an sich ist schon mehr als kritikwürdig.

Nunmehr erreicht uns eine weitere Hiobsbotschaft für die eigentlich erforderliche sorgfältige Systematik bei der Bestimmung der Leistungen, mit denen immerhin das „soziokulturelle Existenzminimum“ abgesichert werden soll: Nahles wegen Hartz-IV-Berechnung in der Kritik, so beispielsweise Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles lässt die Hartz-IV-Sätze nach einem Modell berechnen, dass schon Vorgängerin Ursula von der Leyen verwendete. Diese Berechnungsmethode hatte Nahles vor Jahren heftig kritisiert. Neben der Tatsache, dass wir wieder einmal Zeuge werden müssen, dass das Motto „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“ offensichtlich eine Konstante im politischen Geschäft ist, geht es hier um das „Eingemachte“ im Grundsicherungssystem.

Zum besseren Verständnis muss man etwas zurückblicken. Dazu Thomas Öchsner in seinem Artikel: Als die damalige Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) 2010 die Hartz-IV-Regelsätze neu berechnen ließ, warfen ihr die Kritiker vor, getrickst zu haben, um Geld zu sparen. »Ihre Nachfolgerin Andrea Nahles, damals in der Opposition, war ebenfalls empört. Von der Leyen, sagte die SPD-Politikerin, habe die Hartz-IV-Sätze „künstlich heruntergerechnet“. Nun muss Nahles selbst neu rechnen lassen – und orientiert sich dabei an den von ihr heftig kritisierten Vorgaben der Vorgängerin.« Worum geht es genau?

Bei der Berechnung kommt es entscheidend darauf an, welche Vergleichsgruppe der nach Einkommen geschichteten Ein-Personen-Haushalte herangezogen wird.

»Von der Leyen geriet in die Kritik, weil sie die einkommensschwächsten 15 Prozent heranzog, um den Hartz-IV-Satz für Alleinstehende zu ermitteln . Zuvor hatten die unteren 20 Prozent als Basis gedient. Ein finanziell gewichtiger Unterschied, da die Gruppe der unteren 15 Prozent ein geringeres Einkommen hat als die unteren 20 Prozent der Haushalte.«

Aus der Vergleichsgruppe der einkommensschwächsten 15 Prozent der Haushalte rechnete das Ministerium die Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger selbst heraus, um sogenannte Zirkelschlüsse zu vermeiden. So weit, so richtig, aber: Auch die „Aufstocker“ hätte man heraus nehmen müssen, so die Kritiker, also Hartz-IV-Bezieher, die zusätzlich erwerbstätig sind und so wenig verdienen, dass sie aufstockenden Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen müssen. Und dann gab (und gibt) es noch die so genannten „verdeckt Armen“, also Menschen, die eigentlich Anspruch hätten auf SGB II-Leistungen, diese aber nicht in Anspruch nehmen (vgl. dazu grundsätzlich die Studie vor Irene Becker, Verdeckte Armut in Deutschland. Ausmaß und Ursachen, aus dem Jahr 2007). Immer noch (und für den „Kostenträger“: Gott sei Dank) keine kleine Gruppe. Die hätte man auch herausfiltern müssen. Hat man aber nicht.

In einer Antwort auf eine Anfrage der Linken im Bundestag, aus der Öchsner zitiert, »kündigt das Arbeitsministerium nun an, es bei der Referenzgruppe für Alleinlebende bei den „unteren 15 Prozent“ zu belassen. Auch werde man daraus nur Haushalte herausrechnen, „die über kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit verfügen“. Die Aufstocker bleiben also drin, genauso wie die verdeckt Armen.«

Schon 2010 hätte der Regelsatz im Hartz IV-System um mindestens 30 Euro höher liegen müssen, wenn man der eigentlich gebotenen Berechnungslogik gefolgt wäre.

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, verlangt von Nahles, „zu einer seriösen Herleitung der Regelsätze zurückzukehren“. Auch der Caritasverband spricht sich dafür aus, wieder die unteren 20 Prozent der Haushalte heranzuziehen und sich nicht von fiskalischen „Überlegungen zur Ausgabenbegrenzung“ leiten zu lassen.

Aber daraus wird – jedenfalls nach dem derzeitigen Stand der Dinge – nichts. Es wird wieder ein zu geringer Betrag herauskommen und das dann auch noch aufgrund der bereits erwähnten Verschiebetaktik viel zu spät.

Wir reden hier bekanntlich nicht von üppigen Beträgen, ganz im Gegenteil, es gibt zahlreiche Kritiker, die die gegebene Höhe des Hartz IV-Regelsatzes – also bei alleinstehenden Personen derzeit noch 399 Euro, ab dem neuen Jahre dann fünf Euro mehr – für eindeutig zu niedrig klassifizieren. Vgl. dazu beispielsweise Irene Becker, Bedarfsbemessung bei Hartz IV. Zur Ableitung von Regelleistungen auf der Basis des „Hartz-IV-Urteils“ des Bundesverfassungsgerichts, eine Expertise aus dem Jahr 2010, aus diesem Jahr auch Anne Lenze, Regelleistung und gesellschaftliche Teilhabe, sowie den Artikel Die Kosten für ein menschenwürdiges Leben.

»Was braucht ein Mensch zum Leben? Früher errechneten Experten die nötigen Tageskalorien und packten Kartoffeln in imaginäre Warenkörbe. Heute runden sie Statistiken ab«, so Lisa Caspari in ihrem Artikel Definiere Existenz und Minimum aus dem Januar 2015. Bis in die 1980er Jahre wurde das Existenzminimum nach der „Warenkorb“-Methode ermittelt. Der Warenkorb geriet in Verruf – auch weil er zwischen 1976 und 1986 einfach mal zehn Jahre nicht aktualisiert wurde. Aber die neue, heute gängige Methode hat offensichtlich auch ihre Tücken.

Gewissermaßen an der alten Methode setzen Fundamental-Kritiker der gegenwärtigen Bestimmung der Regelleistungen im Hartz IV-System an – und sie bilden damit das obere Ende des Antwortspektrums ab, wie hoch denn der Regelsatz sein müsste/sollte. Diese Frage wird sicher unweigerlich von vielen aufgerufen werden. So wird derzeit beispielsweise aus den Reihen der Wohlfahrtsverbände statt der 399 Euro pro Monat ein Regelsatz von 485 Euro gefordert. Aus der Perspektive der Fundamental-Kritiker ist auch das noch viel zu wenig.
Erst 730 Euro Hartz-IV-Satz decken das soziokulturelle Existenzminimum, so ist ein Interview mit einem ausgewiesenen Vertreter dieser Richtung überschrieben: Lutz Hausstein.
Der versucht schon seit Jahren eine ganz eigene Art der Ermittlung dessen, was die Menschen bräuchten. Die neuste Ausgabe seiner Berechnungen:

Lutz Haustein: Was der Mensch braucht. Empirische Analyse zur Höhe einer sozialen Mindestsicherung auf der Basis regionalstatistischer Preisdaten. Stand: Mai 2015

Was kritisiert Hausstein?

»Viele Menschen können sich unter den Bedingungen von Hartz IV auch einfachste Selbstverständlichkeiten nicht mehr leisten, weil sie zu wenig Geld zur Verfügung haben.
350.000 Haushalten wurde 2013 etwa der Strom abgeschaltet, weil sie die Rechnung nicht mehr bezahlen konnten. Und 1,5 Millionen Menschen müssen jede Woche den für sie demütigenden Weg zu einer Lebensmitteltafel antreten, weil ihr Geld nicht fürs Essen reicht.«

Ihn bewegen die vielen demütigenden Umstände, viele zwangsweise Verzichte auf einfache Dinge, die für jeden anderen in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sind. Und dann geht es gegen die amtliche Berechnungsmethodik. Sein zentraler Ansatzpunkt dagegen:

»Immer wieder wird durch Politiker gegenüber der Öffentlichkeit gebetsmühlenartig wiederholt, dass damit der Bedarf ermittelt würde. Doch eben dies ist überhaupt nicht Inhalt der Statistik-Methode auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), … Mithilfe der … Statistikmethode wird nur das Ausgabeverhalten eines ebenfalls armen Bevölkerungsteils ermittelt, der aufgrund seines eigenen, sehr niedrigen Einkommens auch nur wenig Geld zur Verfügung hat. Mit einer Bedarfs- Ermittlung hat dies jedoch nichts zu tun.«

Und er bringt seine Kritik an diesem methodischen Ansatz mit einem Bild auf den Punkt:

»Ich vergleiche das gern mit der absurden Situation, wenn sich jemand mit einem Digitalthermometer an die Autobahn stellen würde, um damit die Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Autos zu messen. Das Thermometer liefert absolut exakte Daten, sogar bis auf die zweite Kommastelle genau. Wenn man diese Zahlen nun allerdings öffentlich als gemessene Geschwindigkeiten bezeichnen würde, wäre das Gelächter riesengroß. Zurecht. Wenn allerdings die Ausgaben eines ebenfalls armen Bevölkerungsteils, der selbst bereits Mangel leidet, als „Bedarf“ einer immer größer werdenden Bevölkerungsgruppe dargestellt werden, herrscht andächtige Stille.«

Hausstein outet sich als Anhänger der Warenkorb-Methode: »Die benutzte Aufstellung eines Warenkorbs ist ja nun keineswegs eine Erfindung von mir. Denn von 1955 bis 1990 wurden schon mithilfe des Warenkorbmodels soziale Sicherungsleistungen berechnet.«

Um seine eigene, subjektive Wahrnehmung zu reduzieren, wurde jede einzelne Bedarfsposition in seiner Studie zudem von mehreren, unabhängigen Personen auf Plausibilität überprüft, um somit am Ende zu größtmöglicher Objektivität zu gelangen.
Das Ergebnis seiner Berechnungen:

»Um unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Voraussetzungen mit einem Minimum an Lebensstandard leben zu können, werden rund 730 Euro monatlich benötigt. Zuzüglich der regional erheblich differierenden Wohnkosten.
Der aktuell gültige Betrag von 399 Euro hingegen reicht gerade einmal knapp dafür aus, die grundlegenden, physischen Lebensbedürfnisse abzudecken. Eine soziokulturelle Teilhabe ist damit jedoch keinesfalls möglich oder muss durch einen Verzicht physischer Notwendigkeiten schmerzhaft „gegenfinanziert“ werden.«

Nun haben wir also – ausgehend von en derzeit 399 Euro Regelsatz – das Spektrum dessen aufgemacht, dass von den Kritikern als erstrebenswert ausweisen wird: Es bewegt sich zwischen 485 Euro und 790 Euro, wohlgemerkt: Zuzüglich der zu übernehmenden angemessenen Wohnkosten.

Womit wir übrigens bei einer weiteren Problembaustelle des Grundsicherungssystem angekommen wären, die hier zumindest erwähnt werden soll: Die („angemessenen“) Kosten der Unterkunft, die übernommen werden müssen. Die Frage der „Angemessenheit“ der Unterkunftskosten ist ein leidiges Streitthema und Gegenstand vieler sozialgerichtlicher Verfahren. Denn viele Jobcenter weigern sich, bestimmte Miethöhen voll zu übernehmen und verweisen auf die Nicht-Angemessenheit. Mit gravierenden Folgen: Hartz-IV-Empfänger zahlen bei Miete mit, so hat Stefan Vetter seinen Artikel in der Saarbrücker Zeitung überschrieben. Das Problem: »399 Euro bekommt ein Hartz-IV-Empfänger, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch oft müssen sie davon auch einen Anteil an ihren Mietkosten zahlen.« Damit verschärft sich natürlich das bereits verhandelte Grundproblem, dass die 399 Euro an sich schon zu niedrig angesetzt sind. Jetzt wird davon also noch was abgezogen für einen anderen Bereich. Und es handelt sich hier nicht um Peanuts: »Nach einer Datenübersicht der Bundesagentur für Arbeit … mussten die Bedarfsgemeinschaften im vergangenen Jahr rund 620 Millionen Euro aus ihren Regelleistungen für die Unterbringung beisteuern … Den Daten zufolge fehlen einem Hartz-IV-Haushalt damit im Schnitt rund 16,50 Euro im Monat beziehungsweise 197 Euro im Jahr für anderweitige Ausgaben.«

Durch  zu niedrige Angemessenheitsgrenzen spart der Staat auf Kosten der Betroffenen, die sich zum Beispiel beim Essen oder ihrer Mobilität einschränken müssen, um das gegenfinanzieren zu können.
Und auch in einem anderen Bereich haben die Grundsicherungsempfänger echte Probleme – bei den Stromkosten von Hartz-IV-Haushalten, die, anders als Miete und Heizkosten, nicht als sogenannte Kosten der Unterkunft gesondert gezahlt werden. »Bislang ist der Stromverbrauch Teil des Regelsatzes, aus dem auch Essen und Kleidung bezahlt werden muss. Aufgrund der gestiegenen Preise gilt als sicher, dass der im Hartz-IV-Satz eingerechnete Anteil für Strom längst nicht mehr ausreicht und die Stromrechnung zulasten anderer Ausgabenpositionen geht«, so Axel Fick in seinem Artikel Neue Hartz-IV-Sätze erst Ende 2016.

Bleibt natürlich die Frage, warum der Gesetzgeber so einen Widerstand und so eine Verzögerungstaktik an den Tag legt, wenn es um eine systematisch eigentlich gebotene Anpassung der Regelleistungen nach oben geht. Die nicht wirklich überraschende Antwort lautet natürlich: wegen der Kosten, die damit verbunden sind. Und das in mehrfacher Hinsicht.

  • Die Höhe der Regelleistungen im Grundsicherungssystem hat Auswirkungen auf den Grundfreibetrag im Einkommenssteuerrecht, der sich daran orientiert – und jede Anhebung führt zu milliardenschweren Steuerausfällen. Das ist eine der wichtigsten Bremsen innerhalb des gegebenen Systems.
  • Eine Anhebung hätte natürlich entsprechende Auswirkungen in der Grundsicherung für Ältere nach dem SGB XII. Angesichts der stark steigenden Altersarmut würden damit die aufstockenden Leistungen entsprechend ansteigen müssen.
  • Eine mögliche Anhebung hätte natürlich auch Folgen für den „Lohnabstand“ bei den unteren Einkommensgruppen, der entsprechend verkleinert würde mit der unmittelbaren Folge, dass die Zahl der Aufstocker bei den Niedrigeinkommensbeziehern steigen würde.
  • Und insgesamt ist mit der Frage der konkreten Leistungshöhe aus Sicht der verantwortlichen Politiker natürlich auch immer verbunden die Frage der gesellschaftlichen Legitimation – einmal gegenüber denjenigen, die mit ihren Steuern diese Leistungen finanzieren müssen, zugleich aber auch hinsichtlich der Signalfunktion an die Leistungsempfänger, sich nicht in dem Sicherungssystem einzurichten, sondern auch bereit zu sein, schlecht bezahlte Erwerbsarbeit aufzunehmen.

Wenn man diese Aspekte aufaddiert, dann wird verständlich, warum es so massive Widerstände gegen eine an sich gebotenen Anhebung der Leistungen gibt. Das ändert aber gar nichts an der Notwendigkeit einer sachlichen Diskussion über die Angemessenheit der Grundsicherungsleistungen.