Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen – gedulden

Ein gewichtiger Teil der Berichterstattung dreht sich überwiegend um „Arbeitslose“ und dann auch noch in Gestalt ihrer absoluten Untergrenze, also der offiziell registrierten Arbeitslosen, deren Größenordnung einmal monatlich von der Bundesarbeitslosenverwaltung in Nürnberg verkündet wird. Da erfährt man dann: »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von September auf Oktober um 59.000 auf 2.649.000 gesunken.« Die meisten Journalisten brechen an dieser Stelle ab und tragen die tatsächlich quantitativ erfreulich rückläufige Zahl in die Öffentlichkeit. Wenn sie doch wenigstens die schon „richtigere“ Zahl nennen würden, die von der BA ebenfalls publiziert wird: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt … belief sich … im Oktober 2015 auf 3.476.000 Personen.«

Das sind immerhin 827.000 Menschen mehr als die Zahl, die dann über die Presse verbreitet wird – und arbeitslos sind die nun wirklich auch. Aber es geht in diesem Beitrag gar nicht um die Zahl der Arbeitslosen, sondern um eine andere, die 70% der ausgewiesenen „offiziellen“ Arbeitslosen beinhaltet: um die Zahl der Hartz IV-Empfänger. Und die liegt derzeit bei fast 6,1 Millionen Menschen. Das ist nun eine ganze andere „Gewichtsklasse“ und vielen – auch in den Medien – ist gar nicht bewusst, dass es so viele sind, die auf Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II) angewiesen sind. Immerhin zehn Prozent der Menschen in unserem Land sind auf Hartz IV-Leistungen existenziell angewiesen. Und die tragenden Säulen dieser Leistungen sind zum einen der „Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts“ – das sind die derzeit noch 399 Euro pro Monat für einen Alleinstehenden – sowie die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Für Wohnkosten bekommt ein Alleinstehender derzeit im Durchschnitt gut 300 Euro. Am 1. Januar 2016 wird der Regelsatz um 5 Euro auf 404 Euro erhöht. Die jährlich vorzunehmende Dynamisierung hängt zu 70 Prozent von der Preisentwicklung und zu 30 Prozent von der Lohnentwicklung ab.

Nun gibt es allerdings einen interessanten Passus im § 28 SGB XII „Ermittlung der Regelbedarfe“: »Liegen die Ergebnisse einer bundesweiten neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vor, wird die Höhe der Regelbedarfe in einem Bundesgesetz neu ermittelt.« Ganz offensichtlich geht es hier um die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Man muss wissen: Die EVS wird alle fünf Jahre durchgeführt. 60.000 Haushalte führen für das Statistische Bundesamt Haushaltsbücher. Drei Monate lang halten sie penibel fest, wofür sie Geld ausgeben. Etwa 200 Positionen sind in  der EVS vorgesehen, vom Waschmittel über die Telefongebühren bis zu Essen und Trinken.

Derzeit beruhen die Hartz-IV-Sätze noch auf der EVS von 2008. Wer rechnen kann, ist bekanntlich klar im Vorteil und wird sofort erkannt haben, dass bei fünfjährigen Abständen 2013 eine neue EVS-Erhebung stattgefunden haben muss. So ist es auch. dabei wurden umfangreiche Daten erhoben, die von den Bundesstatistikern natürlich erst ausgewertet werden mussten. Das aber ist nunmehr geschehen, die Ergebnisse liegen vor. Also könnte man jetzt entsprechende gesetzgeberische Schlussfolgerungen ziehen. Aber in der bereits zitierten Vorschrift des § 28 SGB XII steht nicht, wie schnell das zu passieren hat. Insofern überrascht dann diese Feststellung von Thomas Öchsner in seinem Artikel Hartz IV ist zu niedrig – Erhöhung bleibt trotzdem aus nicht wirklich:

»Hartz-IV-Bezieher sollten sich jedoch nicht zu früh freuen: Mit einer Erhöhung der Regelsätze aufgrund der neuen Daten können sie erst Anfang 2017 rechnen.«

Natürlich liegt es angesichts der Haushaltswirksamkeit einer Erhöhung der Regelsätze im Interesse der Regierung, diese auf der Zeitachse zu schieben, das bedeutet Milliarden-Einsparungen. Von daher verwundert die Auskunft des Bundesarbeitsministeriums nicht, die Öchsner in seinem Artikel zitiert:

»Zunächst werde man die Ergebnisse der EVS prüfen und bei den Statistikern neue Sonderauswertungen in Auftrag geben, sagte eine Sprecherin des Ministeriums. Erst danach könne die Arbeit am Gesetz beginnen, sodass die neuen Regelbedarfshöhen auf Grund der neuen Haushalts-Stichprobe „zum 1. Januar 2017 in Kraft treten und damit im derzeitigen Anpassungsturnus liegen“. Auf Grund der „zeitlichen Abläufe“ sei es nicht möglich, den Termin auf den 1. Juli 2016 vorzuziehen. Auch sei nicht daran gedacht, die neuen Regelsätze rückwirkend gelten zu lassen.«

Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen wird in dem Artikel zitiert mit der Bewertung, dass das ein Skandal sei. So seien „die Leistungen nachweislich zu niedrig, um sich ausgewogen zu ernähren, die tatsächlichen Stromkosten zahlen oder sich eine Waschmaschine kaufen zu können“.

Offensichtlich setzt man hier auf Aussitzen. Dabei hatte sogar das Bundesverfassungsgericht in seinem an sich regierungsfreundlichen Urteil  aus dem Juli 2014 – BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13) – kritisch angemerkt:
»Komme es wie zum Beispiel beim Strom zu außergewöhnlichen Preissteigerungen bei einer derart gewichtigen Ausgabeposition, müsse der Gesetzgeber dies zeitnah abbilden und den Stromkostenanteil in den Regelsätzen erhöhen.«

Auch die damalige Entscheidung nimmt sogar explizit Bezug auf die EVS 2013, denn in der Pressemitteilung Sozialrechtliche Regelbedarfsleistungen derzeit noch verfassungsgemäß zu dem Urteil heißt es:

»Soweit die tatsächliche Deckung existenzieller Bedarfe in Einzelpunkten zweifelhaft ist, hat der Gesetzgeber eine tragfähige Bemessung der Regelbedarfe bei ihrer anstehenden Neuermittlung auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 sicherzustellen.«

Der in diesem Beitrag bereits zitierte Martin Künkler hatte bereits im September nach der Ankündigung der Mini-Erhöhung der Regelsätze zum 1. Januar 2016 in einem Interview ausgeführt:

»Die Bundesregierung will den Hartz-IV-Satz der Preis- und Lohnentwicklung anpassen. Sie ist aber in der Pflicht, die Hartz-IV-Leistung grundsätzlich neu zu ermitteln und deutlich zu erhöhen …  Nahles kommt ihren gesetzlichen Pflichten nicht nach: Hartz-IV-Beträge sind alle fünf Jahre aufgrund des Ausgabeverhaltens unterer Einkommensgruppen festzusetzen, sobald die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) vorliegen.«

Der Handlungsbedarf sei offensichtlich, so Künkler:

»Die Stromkosten sind seit 2008 um 38 Prozent in die Höhe geschossen, viele können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen …  Anderes Beispiel: Für ein 13jähriges Kind sind pro Tag für Essen und Trinken 3,53 Euro vorgesehen. Das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund hat festgestellt: Wer das ansatzweise hinbekommen will, müsste täglich vier Discounter abklappern, um jeweils die günstigsten Angebote herauszupicken. Hartz-IV-Bezieher als Schnäppchenjäger – aber sollen sie nicht eigentlich Arbeit suchen? Daran ist nicht zu denken, zumal im ländlichen Raum, wenn man kein Auto hat! Die Mobilität ist dort ein Problem wie auch in Großstädten. Der Gesetzgeber hat bei der letzten Festsetzung die Kosten dafür auf üble Weise kleingerechnet; zum Maßstab hat er Personen in Stadtzentren erklärt, die ihre Wege meist zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen.«

Natürlich wurde er auch gefragt, in welcher Größenordnung sich ein „richtig“ bemessener Regelsatz bewegen müsste: Um die 500 Euro, so die Antwort angesichts der vielen bestehenden Mängel.

Aber bereits die embryonal daherkommende Erhöhung um fünf Euro hat auf der anderen Seite wütende Reaktionen hervorgerufen. Ein »Anreiz zur Nichtarbeit« sei die Erhöhung, wird Michael Eilfort, Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft, in einem Artikel zitiert. Und Christian Freiherr von Stetten, CDU-Bundestagsabgeordneter sowie Präsidiumsmitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung von CDU und CSU, wittert gar ein »Geschäftsmodell Hartz IV«. Es sei »kein Wunder«, dass »angebotene Arbeit konsequent abgelehnt« werde, so Susan Bonnet in ihrem Artikel Neoliberale Legenden. Minierhöhung von Hartz IV.

Und sie verweist kontrastierend darauf, um welche Beträge es hier in der Realität geht:

»Laut Regelsatztabelle darf ein Alleinstehender derzeit für 142 Euro monatlich essen und trinken, ein Jugendlicher für 107 Euro, für ein Kleinkind müssen 83 Euro reichen. Für Strom und Wohnungsreparaturen sind nur 33,36 Euro vorgesehen, für die Pflege eines Babys stehen Eltern inklusive Windeln ganze zehn Euro zur Verfügung. Und genau 1,01 Euro monatlich sollen für häusliche Bildung eines Schulkindes reichen.«

Vor kurzem gab es einen Vorstoß der Linken im Bundestag für ein höhere Existenzminimum. Ihr Antrag »für ein menschenwürdiges Existenz- und Teilhabeminimum« fand keine Resonanz bei den Regierungsfraktionen. In einem Artikel kann man dazu lesen:

»Kaum wurde der Tagesordnungspunkt aufgerufen, verließen Dutzende Abgeordnete der Koalition den Plenarsaal. Linke-Vorsitzende Katja Kipping forderte eine Kommission, die das Existenzminimum neu berechnen und dafür ein Verfahren entwickeln solle, das die Armutsrisikogrenze und das »Warenkorbmodell« berücksichtige.«

Das zumindest wäre mal zu diskutieren. Statt dessen wird man mit so was konfrontiert: »Stephan Stracke (CSU) befand, Kippings Forderung falle »aus der Zeit«. Dann spielte er Arme gegen Arme aus: Das Land sei voller Flüchtlinge, da sei an eine Erhöhung von Hartz IV nicht zu denken.«