Ein Zwergenaufstand Berliner Sozialrichter gegen das oberste Sozialgericht unseres Landes? (Keine) Sozialleistungen für EU-Ausländer in Deutschland

Auf diesen Gedanken könnte man kommen, wenn man diese Meldung zur Kenntnis nimmt: »EU-Bürger haben nicht automatisch Anspruch auf Sozialleistungen. Das hat das Sozialgericht Berlin jetzt festgestellt und widerspricht ausdrücklich dem Bundessozialgericht«, so Sigrid Kneist in ihrem Artikel Berliner Richter widersprechen dem Bundessozialgericht.
Erst vor kurzem hatte das Bundessozialgericht (BSG) wegweisende Urteile zur Frage des Sozialleistungsbezugs von EU-Ausländern, die sich in Deutschland aufhalten, gefällt. Vgl. dazu meine Blog-Beiträge Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort vom 3.12.2015 sowie Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII vom 6.12.2015.

Darin findet sich diese vorläufige Bewertung der auch für Experten mehr als anspruchsvollen Rechtsprechung des BSG:

»Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das „Hartz IV“-System. Es fügt aber die Kategorie des „verfestigten Aufenthalts“ in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist. Das wird die Kommunen nicht erfreuen, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG sind – anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen – kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren.«

Und jetzt geht das Berliner Sozialgericht offensichtlich zum Angriff auf das BSG bzw. gegen deren Rechtsprechung über. Zum Sachverhalt, über den Sigrid Kneist in ihrem Artikel berichtet:

»Das Berliner Sozialgericht hat jetzt entschieden, dass ein in Berlin lebender Bulgare keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat – weder auf Hartz IV noch auf Sozialhilfe. Der Mann lebt seit 2010 bei seiner Mutter in Berlin und bemühte sich nach Auffassung der Richter nicht um eine Arbeit. Im Februar 2013 beantragte er beim Jobcenter Treptow-Köpenick Hartz IV. Die Behörde lehnte mit der Begründung ab, dass der Mann nur einen Status als Arbeitssuchender habe und deswegen keine Leistungen erhalten könne. So steht es im entsprechenden Sozialgesetzbuch Dagegen klagte der Bulgare: Die Verweigerung der Unterstützung verstoße gegen EU-Recht. Das Gericht bestätigte aber die Auffassung des Jobcenters. Zudem urteilte es, dass der Mann ebenfalls keinen Anspruch auf Sozialhilfe habe. Diese gebe es laut deutschem Recht generell nicht für Menschen, die als arbeitsfähig gelten.«

Aber genau dazu gibt es doch die neue Rechtsprechung des BSG. Zu der haben die Berliner Sozialrichter eine ziemlich deutliche Meinung:
Das Berliner Sozialgericht »wirft dem höchsten deutschen Sozialgericht vor, „verfassungsrechtlich nicht haltbar“ geurteilt zu haben. Nach Auffassung der Berliner Richter setzt sich das Bundessozialgericht „über den Willen des Gesetzgebers“ hinweg.«

Wir dürfen auf die Antwort aus Kassel gespannt sein.

Das Urteil aus Berlin ist noch nicht rechtskräftig, da der Kläger Berufung einlegen kann.

Eine sichere Anlage, folgt man neuen Studien: Pflegeheime. Also von oben betrachtet und mit Blick auf die Zukunft. Wobei die bekanntlich immer unsicher ist

Am 29. September 2015 wurde in diesem Blog im Beitrag Immer mehr davon. Der Bedarf an zusätzlichen Pflegeheimplätzen in den Bundesländern. Ein weiterer Blick in die Pflegeinfrastruktur-Glaskugel berichtet über eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), in der versucht wird, die (möglichen) Auswirkungen der angenommenen Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen auf die Pflegeinfrastruktur zu bestimmen – und dies dann differenziert nach den Bundesländern. Die Studie im Original: Susanna Kochskämper und Jochen Pimpertz: Herausforderungen an die Pflegeinfrastruktur, in: IW-Trends Heft 3/2015, S. 59-75. Die präsentierten Zahlen beeindrucken: 2,6 Millionen Menschen waren 2013 in Deutschland pflegebedürftig, diese Zahl dürfte nach den IW-Schätzungen bis zum Jahr 2030 um bis zu 828.000 steigen. Bundesweit müssen dafür bis zu 220.000 Plätze mehr in Pflegeheimen geschaffen werden. Aber wie kann das sein angesichts der vielen Berichte, dass die Menschen immer länger zu Hause verbleiben (bis es gar nicht mehr geht) und der Fokus der Politik angeblich auf der Stärkung der ambulanten Versorgung der Pflegebedürftigen liegt? Dazu die IW-Wissenschaftler: »Anders als die Bundesregierung gehen die Wissenschaftler nicht davon aus, dass Heimpflege zunehmend „out“ werden und der Anteil von ambulant erbrachter Pflege durch Angehörige oder Nachbarn in Zukunft merklich steigen könnte. Im Gegenteil: Bundesweit sei eher ein Trend zu mehr professioneller Pflege zu beobachten … Zu berücksichtigen seien zudem eine weiter steigende Erwerbstätigenquote von Frauen und die wachsende Zahl von Alleinstehenden und Kinderlosen,« so Rainer Woratschka in einem Artikel über die IW-Studie.

Das IW selbst erläutert diesen Punkt so: »Die Politik setzt derzeit auf mehr ambulante Pflege, insbesondere durch Angehörige und Ehrenamtliche. Realistisch ist das nicht, warnt IW-Forscher Jochen Pimpertz: „Bislang fehlen empirische Beweise dafür, dass die familiäre oder nachbarschaftliche Pflege steigt.“ Bundesweit gibt es eher einen Trend hin zu mehr professioneller Pflege. Zudem spielen gesellschaftliche Entwicklungen eine Rolle: Die Zahl der Single-Haushalte steigt, genau wie die Gruppe der Kinderlosen. Partner und Kinder fallen damit immer häufiger als potenzielle Pfleger weg. Auch ist nicht absehbar, wie sich die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen auf die Pflegebereitschaft auswirkt. Bislang übernehmen vor allem Töchter, Schwestern und Schwiegertöchter die Pflege, was sich allein rein zeitlich meist nicht mit einem Job vereinbaren lässt.«

Und die IW-Vorhersagen bekommen nun gewissermaßen „Instituts-Unterstützung“ seitens des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, das den „Pflegeheim Rating Report 2015“ von RWI, hcb GmbH und Philips GmbH veröffentlicht hat (vgl. die Zusammenfassung des Reports). Die Pressemitteilung dazu hat das RWI überschrieben mit: Pflegeheime: Alterung der Gesellschaft wird zu Engpässen führen: »Den meisten deutschen Pflegeheimen geht es momentan zwar wirtschaftlich gut, in den nächsten Jahren drohen aufgrund der zunehmenden Alterung der Gesellschaft jedoch Engpässe bei stationären Pflegeplätzen und Pflegepersonal.«

Rainer Woratschka hat seinen Artikel zum Pflegeheim Rating Report 2015 kurz und bündig, gleichsam provozierend überschrieben mit: Run auf Pflegeheime: »Zu den 700.000 Vollzeit-Pflegekräften, über die man derzeit verfüge, müssten bis 2030 weitere 345.000 hinzukommen. Für neue Heime seien Investitionen von 80 Milliarden Euro nötig … Allein die Heime müssten in den nächsten 15 Jahren um bis zu 321.000 Pflegeplätze aufgestockt werden.«

Das RWI selbst präsentiert einige zentrale Befunde aus dem neuen „Pflegeheim Rating Report 2015“ (Für die aktuelle Ausgabe des alle zwei Jahre erscheinenden Reports wurden 469 Jahresabschlüsse ausgewertet, die insgesamt 2 252 Pflegeheime umfassen. Zudem berücksichtigt der Report amtliche Daten des Statistischen Bundesamts von allen rund 13 000 Pflegeheimen, 12 700 ambulanten Diensten und 2,6 Millionen Pflegebedürftigen):
Die meisten deutschen Pflegeheime befinden sich in einer guten wirtschaftlichen Lage. Im Jahr 2013 befanden sich lediglich 7% im „roten Bereich“ mit erhöhter Insolvenzgefahr, während 72% im „grünen Bereich“ mit geringer Insolvenzgefahr lagen. Ihre durchschnittliche Ausfallwahrscheinlichkeit (Zahlungsunfähigkeit) lag mit 0,9% deutlich niedriger als die von Krankenhäusern und Rehakliniken.
Hinsichtlich des zukünftigen Bedarfs erfahren wir beim Rai direkt und etwas differenzierter als in dem Beitrag von Woratschka:

»Der gesamte deutsche Pflegemarkt ist ein Wachstumsmarkt. Zwischen 1997 und 2013 hat sich sein Anteil am gesamten Gesundheitsmarkt von 8,6% auf 12,7% erhöht. Insgesamt gab es im Jahr 2013 2,6 Millionen Pflegebedürftige. Ihre Zahl wird bis zum Jahr 2030 voraussichtlich um ein Drittel auf 3,5 Millionen ansteigen. Damit verbunden ist ein zusätzlicher Bedarf von voraussichtlich zwischen 131.000 und 321.000 stationären Pflegeplätzen. Die dafür erforderlichen Neu- und Re-Investitionen belaufen sich auf 58 bis 80 Milliarden Euro. Darüber hinaus ist auch mehr Personal erforderlich. Bis 2030 ist mit insgesamt 128.000 bis 245.000 zusätzlichen Stellen (Vollkräfte) in der stationären und mit 63.000 bis 124.000 in der ambulanten Pflege zu rechnen.«

Hier werden korrekterweise Spannweiten angegeben angesichts der Unsicherheiten, die mit der Vorhersage verbunden sind. Allerdings verdeutlichen die Schätzgrößen auch das Dilemma, vor dem man vor Ort steht, wenn es um die handfeste Planung der Pflegeinfrastruktur geht. Zwischen 131.000 und 321.000 stationäre Pflegeplätze – das ist nun schon eine höchst relevante Unsicherheit in der Vorhersage, was auch angesichts der Vielzahl und interagierender Komplexität der Einflussfaktoren nicht wirklich überrascht.
Zwar erreichte die Zahl der Pflegeheime im Jahr 2013 einen neuen Höchstwert von 13.030 und die Zahl der Plätze erhöhte sich auf 903.000. Dennoch stieg die durchschnittliche Auslastung der Heime an.
Sollte die Vorhersage des RWI der Wirklichkeit entsprechen, dann wird sich das heute schon bekannte Personalmangelproblem in der Pflege weiter verschärfen – und zwar deutlich:

»Im Jahr 2013 waren in der ambulanten und stationären Pflege 1.005.000 Personen beschäftigt, was 704.000 Vollkräften entsprach, davon 297.000 Pflegefachkräfte. Zwischen 1999 und 2013 wurden fast 239.000 Arbeitsplätze geschaffen. Gleichzeitig nimmt der Mangel an Pflegefachkräften zu: Im März 2015 lag die Zahl der gemeldeten offenen Stellen bei Heimen mehr als dreimal so hoch wie im März 2007.«

Die Gewinnung des dafür notwendigen Personals wird sich zunehmend als schwierig herausstellen:

»Ziel sollte es sein, die Verweildauer im Pflegeberuf zu verlängern, die Vollzeitquote auszuweiten und neue Auszubildende zu gewinnen. Dazu werden die Löhne für qualifiziertes Personal gegenüber Hilfskräften steigen müssen.«

»Steigen die Löhne im Pflegebereich an, wird das zunächst die wirtschaftliche Lage  der Pflegeheime verschlechtern. Der Lohndruck dürfte dann über steigende Preise für Pflegeleistungen aufgefangen werden. Die dadurch bedingte höhere Belastung der Pflegebedürftigen und der Sozialhilfeträger wird allerdings Gegenreaktionen auslösen. Heime, die dem Kostendruck durch effizientere Abläufe entgegenwirken können, werden sich Wettbewerbsvorteile verschaffen. Zudem lässt sich die betriebliche Effizienz über horizontale und vertikale Integration weiter erhöhen. Hinzu kommt, dass der Pflegemarkt in Deutschland nach wie vor sehr kleinteilig ist. Die Bildung großer Verbünde zur Nutzung gemeinsamer Ressourcen ist daher noch in großem Maße möglich.«

Auf einen interessanten Aspekt weist Rainer Woratschka in seinem Artikel Run auf Pflegeheime hin:

„Es scheint sogar, dass heute leichte Fälle schneller im Heim landen als noch vor zehn Jahren“, so Sebastian Krolop in seinem Beitrag: »Die meisten dieser Zuweisungen gibt es der Studie zufolge nach Klinikaufenthalten. Betraf dies 2003 noch rund 88.000 Patienten, sind es inzwischen pro Jahr viermal so viele. „Rund 70 Prozent der Neuzugänge eines Pflegeheims kommen heute direkt aus dem Krankenhaus“, heißt es in dem Report.

Und weiter erfahren wir:

»Die meisten dieser Zuweisungen gibt es der Studie zufolge nach Klinikaufenthalten. Betraf dies 2003 noch rund 88.000 Patienten, sind es inzwischen pro Jahr viermal so viele. „Rund 70 Prozent der Neuzugänge eines Pflegeheims kommen heute direkt aus dem Krankenhaus“, heißt es in dem Report.«

Und: »Als Ursache dafür vermuten die Autoren die Einführung der Fallpauschalen. Dadurch sei es in den Kliniken zu einem „Outsourcing von Pflege“ gekommen. Seit 2003 sei dort die Verweildauer von 8,9 auf 7,5 Tage gesunken. Patienten würden also „schneller verlegt … .«

100 Prozent Sozialabbau oder doch eine innovative Durchbrechung des Entweder-Oder? Zur Debatte über die Vorschläge einer Teil-Krankschreibung

Vor kurzem hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen im Auftrag der Bundesregierung ein Sondergutachten zum Thema Krankengeld vorgelegt und darin revolutionär daherkommende Vorschläge zur Veränderung der bisherigen Praxis der Krankschreibung von Arbeitnehmern, die dem Entweder-Oder-Modell folgt, zur Diskussion gestellt. Vgl. hierzu den Blog-Beitrag Ein Viertel Krankschreibung könnte doch auch mal gehen. Experten haben sich Gedanken über das Krankengeld gemacht vom 07.12.2015. »An erster Stelle der 13 Vorschläge steht die Teilkrankschreibung nach schwedischem Modell. Statt der in Deutschland geltenden „Alles-oder-nichts-Regelung“ könnte ein Arbeitnehmer je nach Schwere der Erkrankung und in Abstimmung mit seinem Arzt zu 100, 75, 50 oder 25 Prozent krankgeschrieben werden«, so Andreas Mihm in seinem Artikel Braucht Deutschland den Teilzeit-Kranken?

Dieser Vorschlag ist vielerorts auf Skepsis und Ablehnung gestoßen. So bilanziert der Beitrag In Zukunft nur noch teil-krank? Abschied von der Arbeitsunfähigkeit im Betriebsrat Blog: »Worin die angepriesene Flexibilität für Arbeitnehmer liegt und welche Vorteile ihnen die Neuregelung bietet, bleibt erstmal unklar. Sehr greifbar sind dagegen bereits jetzt die Nachteile, denn der Druck auf die Beschäftigten wird durch derartige Regelungen unweigerlich zunehmen. Bereits beim Arztbesuch geriete man als Kranker zukünftig in eine Art Verhandlungssituation: 100% oder vielleicht doch nur 75%? Oder sogar nur 50? Wieviel soll’s denn sein? Und anschließend geht es dann mit der Rechtfertigung bei den Kollegen und Vorgesetzten weiter: Denn mit nur 25% teil-krank ist man ja eigentlich gefühlt noch ziemlich gesund und mit 50% irgendwie noch nicht so richtig voll-krank. Wie krank aber ist krank?« Die Schlussfolgerung überrascht dann nicht: »Unterm Strich erweisen sich die Vorschläge jedenfalls als zu 50% unausgegoren, zu 75% praxisfern und darüberhinaus zu vollen 100% als sozialunverträglich. Dennoch: Der Angriff auf die sozialen Systeme und Standards hat schon vor längerer Zeit begonnen. Dies hier dürfte ein Teil davon sein. Da wird noch einiges kommen.«

Und was sagen die Ärzte zu den Vorschlägen des Sachverständigenrats, die das ja mit den Patienten umsetzen müssten? Die Idee haut Ärzte nicht vom Hocker, so haben Anno Fricke und Jana Kötter ihren Beitrag dazu überschrieben. Sie sehen nicht, wie sich die Teil-AU in der Praxis umsetzen lassen könnte. Hier einige Stimmen, die in dem Beitrag zitiert werden:

„Eine an sich vernünftige Idee“, sagte Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands, der „Ärzte Zeitung“. Dann jedoch folgte das große Aber: Die Umsetzung dürfte für Ärzte eine enorme, zusätzliche Last bedeuten, weil Arzt und Patient über den Prozentsatz des Restleistungsvermögens diskutieren müssten, sagte Weigeldt.

„Kein Vorschlag, der bis zum Ende durchdacht ist“, lautete auch die erste Einschätzung von Dr. Wolfgang Wesiack, Präsident des Berufsverbands Deutscher Internisten (BDI). Krankheit habe eine objektive und eine wenig konstante subjektive Komponente. Hier zu objektivieren sei nicht möglich. Die Empfehlung des Sachverständigenrates sei geeignet, Ärzte in ein Verhandlungsgeschäft mit den Patienten zu treiben, für das es keine Kriterien gebe, sagte Wesiack der „Ärzte Zeitung“.

Es bestünden erhebliche Unterschiede zwischen einem Sachbearbeiter, einem Dachdecker und einem Piloten, sagte der stellvertretende Vorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dr. Veit Wambach. Nicht alle Arbeitnehmer könnten gleichermaßen teilgesund geschrieben werden. „Unsere Gesellschaft muss sich fragen, was schwerer wiegt: die ökonomische Leistungsfähigkeit der Arbeitswelt oder Arbeitnehmerschutz und Patientenwohl.“

Immer wieder hervorgehoben werden (mögliche bzw. erwartbare) Probleme in der Rechtssicherheit. Schon heute sei es für einen praktizierenden Arzt „gar nicht möglich, etwa in einem BU/EU-Gutachten rechtssicher genaue prozentuale Abstufungen des verbliebenen Leistungsvermögens vorzunehmen“, wird ein Arzt zitiert.

Vor dem Hintergrund der deutlichen Kritik und Ablehnung ist es natürlich interessant, was die Urheber dieser Diskussion an Argumenten für ihren Vorschlag vortragen. Hierzu hat die Ärzte Zeitung ein Interview mit dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Professor Ferdinand Gerlach, geführt: „Die jetzige Praxis der Krankschreibung ist realitätsfern“, so ist das Gespräch mit ihm überschrieben. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie sich die Teilzeit-Krankschreibung praktisch umsetzen lässt.

Einleitend verweist Gerlach darauf, dass es das Modell einer Teil-AU auch bei uns schon längst geben würde:

»Was wir vorschlagen, gibt es in Deutschland ja schon. Ab der siebten Woche können Krankgeschriebene nach dem Hamburger Modell schrittweise in den Arbeitsprozess zurückkehren. Das wird gerne genutzt und hat sich in Deutschland absolut bewährt. Wir sagen lediglich, dass man diese Möglichkeit zukünftig nicht erst ab der siebten Woche zur Verfügung haben sollte, sondern in Fällen, in denen das passt, auch schon vorher.«

Bei dem von ihm angesprochenen „Hamburger Modell“ geht es um eine stufenweise Wiedereingliederung in das Arbeitsleben: Ziel der stufenweisen Wiedereingliederung ist es, Beschäftigte unter ärztlicher Aufsicht wieder an die volle Arbeitsbelastung zu gewöhnen. Die stufenweise Wiedereingliederung ist eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation. Grundsätzlich haben alle Beschäftigten nach längerer Krankheit Anspruch auf eine stufenweise Wiedereingliederung durch die Kranken- oder Rentenversicherung. Allerdings gibt es Abweichungen zu den Vorschlägen der Sachverständigen, denn die fordern in ihrem Modell einer Teil-AU die Zahlung eines Teil-Krankengeldes. Das ist im Fall der Rehabilitation anders: Beschäftigte beziehen während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld oder Übergangsgeld. Sie gelten auch in dieser Zeit als arbeitsunfähig. Die Gesetzliche Krankenversicherung zahlt während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld in voller Höhe. Es gelten dieselben Voraussetzungen, die auch für Zahlung von Krankengeld für Arbeitsunfähigkeit gelten. Bei der Rentenversicherung wird Übergangsgeld gezahlt.

Aber wieder zurück zur Argumentation von Gerlach für die neuen Vorschläge. Er verweist auf vorliegende internationale Erfahrungen:

»In Schweden wird das seit 25 Jahren genau so praktiziert, wie wir das jetzt auch für Deutschland vorschlagen. Das Modell ist dort ausführlich evaluiert worden. Aufgrund der sehr positiven Erfahrungen haben auch Dänemark, Norwegen und Finnland es übernommen. In Österreich wird aktuell darüber diskutiert, es ebenfalls einzuführen. Das könnte allen zu denken geben, die glauben, dass die Teil-AU eine vollkommen abwegige Idee wäre.«

Er betont die Freiwilligkeit der Teil-AU, denn sie »soll nur dann angewendet werden, wenn Arzt und Patient davon überzeugt sind, dass das im Einzelfall eine sinnvolle Maßnahme ist. Ein Fernfahrer kann nicht teilweise arbeiten, ein Dachdecker muss bei seinen Einsätzen zu 100 Prozent fit sein.«
Und für wen könnte das neue Modell passen?

»Denken wir mal an eine Verkäuferin die schwanger ist und sich geschwächt fühlt. Sie sagt, acht Stunden Stehen halte ich nicht mehr durch. Ich könnte vielleicht einen halben Tag arbeiten. Hier hat der Arzt keine Alternative. Er muss sie komplett krankschreiben.
Ein anderes Beispiel: Sie kommen aus dem Skiurlaub zurück und haben sich den Fuß verstaucht. Es gibt viele Arbeitsplätze, an denen Sie dann trotzdem noch am Schreibtisch sitzen und Ihre E-Mails bearbeiten könnten.«

Angesprochen auf die beiden häufigsten Auslöser von Langzeit-Krankschreibungen, Rückenbeschwerden und psychische Störungen, argumentiert Gerlach so:

»… in beiden Fällen wissen wir, dass es vielfach nicht sinnvoll ist, dass Patienten entweder sechs Wochen lang alleine zuhause sitzen, ohne soziale Kontakte, oder sich sechs Wochen lang ins Bett legen und sich schonen.
Im Gegenteil: Es ist medizinisch sinnvoll, dass sie nicht ganz aussteigen, dass sie weiter unter Leute kommen, dass sie sich bewegen. Für den ein oder anderen Patienten mit Rückenleiden könnte es in den ersten sechs Wochen einer Krankschreibung durchaus sinnvoll sein, dass er vormittags zum Beispiel vier Stunden arbeiten und nachmittags zur Physiotherapie geht. Ich weiß aus meiner eigenen zwanzigjährigen Praxiserfahrung, dass es auch viele Patienten gibt , die von sich aus sagen, sie würden gerne wieder arbeiten gehen, weil ihnen sonst zu Hause die Decke auf den Kopf falle.Sie wissen, dass ihre Kollegen für sie mitarbeiten müssen, aber sie selbst halten, auch angesichts der heutigen Arbeitsverdichtung, noch nicht wieder den vollen Stress aus.«

Aus sozialpolitischer Sicht interessant ist natürlich der Vorwurf, hier gehe es nur darum, auf Kosten der Arbeitnehmer zu sparen, was auch durch den Auftrag an den Sachverständigenrat verstärkt wird, denn die Bundesregierung wollte Vorschläge haben, wie man den starken Anstieg der Krankengeldausgaben der Kassen eindämmen kann. Hier verweist Gerlach darauf, dass das nicht der Fall sei, sondern ganz im Gegenteil sogar eine Verbesserung für den Arbeitnehmer erreicht werden könne:

»In den ersten sechs Wochen bekommt jeder Versicherte eine vollständige Lohnfortzahlung. Ab der siebten Woche kommt das Krankengeld, das 70 Prozent des Bruttolohns ausmacht, maximal 90 Prozent vom Netto.
Wenn Sie jetzt das Hamburger Modell anwenden, so wie es heute ist, und Sie gehen halbtags arbeiten, dann bekommen Sie trotzdem nur das Krankengeld. Sie bekommen auch dann nicht mehr, wenn Sie 75 Prozent arbeiten gehen. Der Arbeitgeber muss ja erst dann wieder einen Cent zahlen, wenn Sie 100 Prozent gesund sind.«

Und das Modell des Sachverständigenrates sieht ja vor, dass Krankengeld nur noch als Teil-Leistung für die Teil-AU geleistet wird, während für die Zeit, wo gearbeitet wird, der Arbeitgeber Zahlen muss. Man muss aber genauer hinschauen: Eine Verbesserung im Vergleich zum heutigen „Hamburger Modell“ kann man schon erkennen, keine Frage. Aber die Vorschläge des Sachverständigenrates mit der Teil AU zielen ja vor allem darauf, von Anfang an mit diesem Instrumentarium einer Teil-Kranzschreibung zu arbeiten, also auch in den ersten sechs Wochen, in denen die betroffenen Arbeitnehmer Anspruch haben auf volle Lohnfortzahlung des Arbeitgebers. Wenn man jetzt von Anfang an zu 50 Prozent krank geschrieben wird, dann bekommt man natürlich auch nur 50 Prozent volle Lohnfortzahlung, aber 50 Prozent reduziertes Krankengeld – und muss zugleich noch 50 Prozent arbeiten, so bereits der Hinweis in meinem ersten Blog-Beitrag zu den Vorschlägen.

Aber auch Gerlach sieht diese Problematik und benennt sie auch – er differenziert die „Gewinner und Verlierer“-Bewertung entlang der Scheidelinie einer AU, die in die ersten sechs Wochen mit Lohnfortzahlungsanspruch fällt und eine AU, die darüber hinaus andauert:

»Wenn unser Vorschlag umgesetzt würde, dann hätten die Betroffenen mehr Geld im Portemonnaie. Würde jemand halbtags arbeiten, hätte er nach unserem Modell für diesen halben Tag den vollen Lohn und für die andere Tageshälfte dann die 70 Prozent Krankengeld. Das könnte sogar ein Anreiz sein für die Versicherten, von der Wiedereinstiegsmöglichkeit Gebrauch zu machen.
Während der ersten sechs Wochen hätte allerdings der Arbeitgeber den Vorteil, weil er im Gegensatz zu heute einen Teil der Arbeitskraft als Gegenleistung für die Lohnfortzahlung bekäme.«