Weihnachten 2013, aus Sicht der Berufskunde und am Beispiel der Pfarrer (und Pfarrerinnen)

Zum Weihnachtsfest gehört auch die Erkenntnis, dass es – oftmals vergessen – viele Menschen gibt, die arbeiten müssen. Da fallen einem sofort die Pflegekräfte in den Kliniken, Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten ein, die Erzieher/innen in den Heimen oder Wohngruppen der Kinder- und Jugendhilfe oder die Polizisten und Feuerwehrleute und viele andere mehr. Aber auch für eine ganz bestimmte Berufsgruppe ist Weihnachten vor allem Arbeit und sie stehen dabei gewissermaßen sogar im Mittelpunkt: Gemeint sind die Pfarrer (und je nach Arbeitgeber auch Pfarrerinnen). Schaut man auf die Pfarrer als Berufsgruppe, dann kann man an ihnen interessante Parallelen zur allgemeinen Arbeitsmarktdiskussion entdecken – vom angeblichen oder tatsächlichen „Fachkräftemangel“ bis hin zur Globalisierung der Arbeitsmärkte.

Bezeichnenderweise unter die Überschrift „Den Kirchen fehlt der Nachwuchs“ hat Claudia Keller einen Artikel über die Berufsgruppe der Pfarrer gestellt.
Die Arbeitsbeschreibung liest sich wie der Steckbrief für eine begehrte und nachgefragte Tätigkeit:

»Die Arbeit ist vielseitig, das Amt angesehen und unkündbar. Wer Chef sein will, kommt schnell zum Zuge, und die Bezahlung auf Studienrats- und Oberstudienratsniveau stimmt auch. Wer sich nicht dumm anstellt, hat beste Aufstiegschancen. Und mit 65 Jahren, wenn andere in Rente geschickt werden, kann die Karriere erst richtig Fahrt aufnehmen.«

Eigentlich eine Art Traumjobversprechen. Aber: »Und doch gibt es in Deutschland kaum noch junge Männer, die diesen Weg einschlagen wollen.« Zumindest dann nicht, wenn hinter dieser Stellenbeschreibung das Berufsbild „Katholischer Priester“ steht:

»In den 1960er Jahren wurden jährlich über 500 Priester in Deutschland geweiht, 2012 waren es gerade mal 79. Und so schrumpft die Zahl der Priester kontinuierlich um mehrere hundert jedes Jahr … viele der jetzt aktiven Priester werden sehr bald in den Ruhestand gehen. 2020 werden im Berliner Erzbistum wohl nur noch um die 30 Priester eine Pfarrei leiten – weshalb die jetzt gut hundert Gemeinden sich zu 30 Großpfarreien zusammenschließen sollen.«

Natürlich werden jetzt viele sagen, selbst schuld, die Kathoden, mit ihrem Zölibat und der rigiden „Unternehmensorgansiation“. Und außerdem selbst schuld, wenn man keine Frauen bei den Stellenbesetzungen berücksichtigt.

Dann müsste es in den evangelischen Kirchen besser aussehen, denn hier gibt es kein Zölibat. Und auch kein Beschäftigungsverbot für Frauen auf der Ebene der Pfarrer.
Schauen wir auch hier einmal genauer hin: »… die Zahl der Pfarrer hält sich seit einigen Jahren recht konstant – nach Einbrüchen in den 1990er und frühen 2000er Jahren.« Dann wird aber doch Wasser in den Wein gegossen:

»Doch auch in der evangelischen Kirche gibt es Nachwuchssorgen. Während 1991 über tausend junge Pfarrer ihren Dienst antraten, waren es 2005 noch 405 und 2009 nur noch 260.«

Manchmal wird man bei der Deckung des Fachkräftebedarfs auch Opfer des selbst produzierten schlechten Berufsbildes, das man in der Vergangenheit geschaffen hat:

»Da Anfang der 2000er Jahre Pfarrstellen wegen der sinkenden Zahl der Kirchenmitglieder und des Spardrucks der Landeskirchen gestrichen wurden, hält sich außerdem der Eindruck, dass der Beruf eine unsichere Existenz mit sich bringt. Die Perspektive sei mittlerweile aber wieder so gut, dass sich junge Pfarrer bald aussuchen könnten, wohin sie gehen wollen, heißt es beim Berufsverband der evangelischen Pfarrer. Bezahlt wird wie in der katholischen Kirche und wie beim Staat die Studien- und Oberstudienräte.«

Also, falls jemand jetzt Interesse entwickelt an einer Erstausbildung oder vielleicht einer Umschulung in dieses Berufsfeld, hier das Anforderungsprofil in kürzester Form, wie man es in dem Artikel von Claudia Keller finden kann:

»Wer sich für einen Beruf in der Kirche entscheidet, sollte Lust haben, mit Menschen zu arbeiten, flexible Arbeitszeiten nicht scheuen und bereit sein, zu leben, was er oder sie predigt. Managerqualitäten und sprachliches Talent helfen. Ebenso eine gewisse Demut und besonders in der katholischen Kirche die Fähigkeit, sich in Hierarchien einzuordnen.«

Abschließend der Hinweis, dass die Arbeitsmärkte immer mehr oder weniger flexibel sind und sich eben auch auf Knappheitsrelationen einzustellen versuchen. So ist das auch beim Mangelberuf Pfarrer, besonders in der Unterkategorie „Priester, katholischer“. Und hier kann man eine Entwicklung studieren, die wir auch in anderen Tätigkeitsfeldern sehen: Man importiert Arbeitskräfte aus dem Ausland. Da lohnt es sich, genauer hinzuschauen und das hat Martina Senghas im Rahmen einer wirklich differenzierten Radiosendung für SWR2 gemacht:

»Wer hierzulande einen katholischen Gottesdienst besucht, erlebt nicht selten, dass der Mann am Altar aus einem weit entfernten Kontinent stammt. Besonders häufig ist das im süddeutschen Raum der Fall. In der Diözese Rottenburg-Stuttgart zum Beispiel kommt ein Viertel aller Pfarrer aus Nigeria, Kongo oder Indien. Klar ist: Der Priestermangel in Deutschland stellt die katholische Kirche vor ein pastorales Problem. Ob das allerdings Geistliche aus fernen Ländern wirklich lösen können, ist fraglich. Was bewegt diese Männer, nach Deutschland zu kommen? Wie gelingt es ihnen, sich in ihrem Amt hier zurechtzufinden? Wie erleben sie unser Gemeindeleben? Und wie werden sie von den Gläubigen akzeptiert?«

Die Sendung kann hier als Audio-Datei abgerufen und angehört werden – mein Hörtipp zu Weihnachten:

SWR2: Geistliche Gastarbeiter. Pfarrer aus Entwicklungsländern bei uns (22.12.2013)

Allen Leserinnen und Lesern von „Aktuelle Sozialpolitik“ ein schönes Weihnachtsfest!

„Inklusion“ jenseits der Sonntagsreden und des Koalitionsvertrages. Aus der kleinteiligen Realität einer gelingenden Umsetzung von Teilhabe an Arbeit für Menschen mit Behinderung

Eines der großen Themen dieser Tage und der vor uns liegenden Jahre ist bzw. sollte sein: Inklusion. Denn seit knapp vier Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland rechtskräftig. Seitdem haben Menschen mit Behinderung Recht auf Selbstbestimmung, gesellschaftliche Teilhabe, Chancengleichheit und Barrierefreiheit. Viel wurde und wird dazu geschrieben und man kann die kommenden Jahre ohne Probleme von einer Tagung zur anderen nomadisieren, wo es um die Frage geht, wie man eine „inklusive Gesellschaft“ hinbekommt. Seltener oder gar nicht (gerne) wird darüber gesprochen, ob dieser Entwicklungssprung überhaupt gelingen kann, ohne wirklich fundamentale, das heißt revolutionäre Veränderungen in der Gesellschaft durchzusetzen. Wer an dieser Stelle eine gewisse grundsätzliche Skepsis raushört, liegt richtig – und das gerade vor dem Hintergrund, dass Inklusion hier für absolut wegweisend angesehen wird. Wer es lieber ganz egoistisch braucht: Man möge sich klar werden über die Tatsache, dass es hier nicht (nur) um den Einsatz für irgendeine „Zielgruppe“ behinderter Menschen geht, die wir bislang ganz erfolgreich in Sondereinrichtungen untergebracht, damit nicht selten aber auch aus dem Wahrnehmungsstrom der gesellschaftlichen „Mitte“ entfernt und an den Rand geschoben haben, sondern dass wir alle jederzeit nur einen Augenschlag von einer möglicherweise schwersten Behinderung entfernt vor uns hin leben.

Allerdings können wir ja mal einen Test machen, ob „Inklusion“ bereits im gesellschaftspolitischen Mainstream angekommen ist, denn dann müsste es beispielsweise – bietet sich aktuell an – im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD prominent verankert sein. Also habe ich mir einmal dieses Vertragswerk genauer angeschaut – und seht: Inklusion als Terminus taucht viermal im Koalitionsvertrag auf, allerdings weniger als Terminus fundamentalis, sondern in kleingeschredderten bzw. blumig-verheißungsvollen Varianten. Hier die vier Fundstellen in einer Übersicht:

1.) S. 30/31 zum Thema „Bildungsforschung“: »Die empirische Bildungsforschung liefert wichtige Erkenntnisse über Bildungsverläufe und die Wirksamkeit von Maßnahmen. Neue Schwerpunkte wollen wir in den nächsten Jahren in den Bereichen der Inklusion im Bildungssystem sowie der beruflichen Bildung und der Frage von Übergängen setzen.«

2.) S. 110/111 zum Thema „Inklusiven Arbeitsmarkt stärken“: »Zentrales Element der sozialen Inklusion ist eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Wir wollen die Integration von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt begleiten und so die Beschäftigungssituation nachhaltig verbessern. Dazu gehört auch die Anerkennung und Stärkung des ehrenamtlichen Engagements der Schwerbehindertenvertretungen. In den Jobcentern muss ausreichend qualifiziertes Personal vorhanden sein, um die Belange von Menschen mit Behinderungen zu erkennen, fachkundig zu beraten und zu vermitteln. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sollen sensibilisiert werden, um das Potential von Menschen mit Behinderungen zu erkennen und sie zu beschäftigen. Gemeinsam mit den Sozialpartnern werden wir u. a. im Rahmen der Inklusionsinitiative für Ausbildung und Beschäftigung die Ansrengungen für die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung erhöhen. Wir wollen den Übergang zwischen Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und dem ersten Arbeitsmarkt erleichtern, Rückkehrrechte garantieren und die Erfahrungen mit dem „Budget für Arbeit“ einbeziehen.«

3.) S. 129 zum Thema „Kulturförderung“: »
Die Koalition bekennt sich zu dem Ziel, jedem Einzelnen unabhängig von seiner sozialen Lage und ethnischen Herkunft gleiche kulturelle Teilhabe in allen Lebensphasen zu ermöglichen. Kultur für alle umfasst Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit sowie interkulturelle Öffnung. Diese Grundsätze sind auch auf die vom Bund geförderten Einrichtungen und Programme zu übertragen.«

4.) S. 138 zum Thema „Sport“: »Wir sorgen auch in Zukunft für eine verlässliche Finanzierung des erfolgreichen Programms „Integration durch Sport“. Im Nationalen Aktionsplan Integration muss der Sport weiterhin eine wichtige Rolle einnehmen und bei der Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention wird der Inklusionsgedanke bei der Sportförderung des Bundes konsequent ausgebaut.«

Das war’s. Haut einen nicht gerade vom inklusiven Hocker.

Aus sozialpolitischer Sicht besonders interessant natürlich der Passus zum „Inklusive Arbeitsmarkt stärken“ auf S. 110/111 des Koalitionsvertrages. Hierzu könnte man jetzt eine Menge an Daten und Studien vortragen, die eine Menge Wasser in den wenigen Wein kippen.

Aber das wird hier gerade nicht gemacht – sondern der Blick soll (wie bei der Inklusion von den Beeinträchtigungen hin zu den Potenzialen und Stärken) an dieser Stelle von dem, was nicht funktioniert zu den Fällen, wo es funktioniert, gelenkt werden. Hierzu zwei Unternehmensbeispiele aus Berlin, wo seit elf Jahren Auszeichnungen an Unternehmen vergeben werden, bislang unter dem Namen Integrationspreis, nunmehr „Berliner Inklusionspreis 2013“ genannt, die gute Beispiele für die Ermöglichung von Teilhabe an Arbeit für Menschen mit einer Behinderung abgeben.
„Hier wird nicht nach dem Staat gerufen. Und es geht auch nicht um die ,Leuchttürme‘ großer Konzerne. Dies ist gelebte Inklusion.“ Mit diesen Worten wird Ursula Engeln-Kefer zitiert, langjährige Stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und heute Mitglied im Sozialpolitischen Ausschuss des Sozialverbandes Deutschland (SoVD), die in diesem Jahr die Festrede gehalten hat. 43 Unternehmen hatten sich um die Auszeichnung beworben, darunter 16 kleine und 13 mittelständische Firmen. In der Kategorie „Kleinunternehmen“ siegte die Malerei Nitze, bei den Mittelständlern die Wäscherei Niderkrone. Bei den Großunternehmen kamen die Berliner Wasserbetriebe auf den ersten Platz.

Der Artikel „Team mit vielen Farben“ porträtiert den Preisträger in der Kategorie „Kleinunternehmen“: »Seit 20 Jahren beschäftigt die Malerei Nitze in Berlin-Kaulsdorf Menschen mit Handicap. Auch wenn der Arbeitsalltag seine Tücken hat: Auf ihre Fachkenntnisse will der Chef nicht verzichten.« Der Unternehmensbeschreibung kann man auch Elemente entnehmen, die immer wieder auftauchen, wenn man sich Betriebe anschaut, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen:

»Seit zwanzig Jahren sind Mitarbeiter mit Behinderung in dem Kaulsdorfer Betrieb beschäftigt. 1992 gründeten Jens Nitzes Eltern Sonnhild und Klaus das Unternehmen, bereits ein Jahr später wurde ein erster gehörloser Kollege eingestellt. Womöglich spielte damals eine Rolle, dass die Eltern selbst unter körperlichen Einschränkungen litten und somit aus persönlicher Betroffenheit aufgeschlossen dafür waren, auch Mitarbeitern mit Handicap eine Chance zu geben. Seit jener Zeit sind Kollegen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen zum festen Teil der Belegschaft geworden.«

Der Chef des Malereibetriebs, Jens Nitze, ist voll des Lobes für seine behinderten Mitarbeiter. Motivation und Verlässlichkeit, so seine Erfahrung über all die Jahre, seien überdurchschnittlich. Mitunter spürt er auch eine gewisse Dankbarkeit, dass er gerade ihnen das Vertrauen schenkte.
Und immer wieder der Aspekt einer persönlichen Betroffenheit bzw. Erfahrungsebene: »Dass niemand eine Garantie hat, sein Leben lang uneingeschränkt und mit voller Tatkraft arbeiten zu können, hat Jens Nitze in der jüngeren Vergangenheit am eigenen Leib erlebt. 2009 wurde bei ihm ein Gehirntumor festgestellt. Eine Diagnose, die ihm und seiner Familie zunächst den Boden unter Füßen wegriss. Doch Nitze überstand die komplizierte Operation, kämpfte sich anschließend in achtmonatiger Reha zurück ins (Berufs-)Leben. Seither zählt er mit einem Behinderungsgrad von 60 Prozent selbst zu den aktuell sieben behinderten Mitarbeitern unter den insgesamt achtzehn Beschäftigten des Betriebs.«

Vergleichbar die Erkenntnisse, die man aus dem Porträt des Preisträgers in der Kategorie „Mittelständler“ ableiten kann: „Der Artikel „Die perfekte Falte“ beschreibt die Wäscherei Niderkrone: »Reinigen, bügeln, zusammenlegen: Bei makelloser Tischwäsche kommt es auf Details an. Die Firma Niderkrone beschäftigt Spezialisten, die auf dem Jobmarkt häufig durchs Raster fallen.« Verantwortlich ist hier Ilknur Kilic-Özcan, Geschäftsführerin der Wäscherei Niderkrone. Mittlerweile »arbeiten neun Gehörlose in der Wäscherei, auch Schwerhörige aus der Türkei und Rumänien. 2014 will Kilic-Özcan nicht nur in eine größere Halle ziehen, sondern weitere Menschen mit Behinderung einstellen. Am liebsten will sie auch selbst ausbilden. „Wenn alles klappt, können wir bald jungen Gehörlosen eine Chance geben und sie langfristig an den Betrieb binden.“« Und auch trifft man wieder auf die bereits angesprochene Komponente der persönlichen Erfahrung bzw. Betroffenheit:

»Ein Schicksalsschlag hat Ilknur Kilic-Özcan zur Unternehmerin gemacht, die Menschen mit Handicap fördert. Das Kind einer engen Freundin kam schwerbehindert zur Welt. Die 38-Jährige bewunderte den Mut, die Zuversicht der Freundin. Doch immer wieder fragte sie sich: Was soll aus dem Kind einmal werden? „Der Kleine hat mich aufmerksam werden lassen“, sagt sie.«

Immer wieder kann und muss man erkennen, dass ganz viel davon abhängt, was auf der persönlichen Ebene abläuft. Diese Dimension liegt quer zu abstrakten Plänen und Aktionsprogrammen und Modellförderungen. Sie ist viel heterogener, individueller – aber letztendlich auch ein entscheidender Gelingensfaktor. Dazu passt dann auch die abschließende Bilanzierung der Festrednerin bei der Preisverleihung des „Berliner Inklusionspreises 2013“:

„Es muss ein Paradigmenwechsel in den Köpfen und Herzen auf allen Seiten stattfinden“, so Ursula Engelen-Kefer in ihrer Festrede.

Wohl wahr und was für ein weiter Weg, der da vor uns liegt.

„Mütterrente“: Von der halbierten Gerechtigkeitslücke, der anteiligen Selbstfinanzierung durch die Rentner und dem Damoklesschwert der Systemfrage

Die Große Koalition meint es gut und hat ein Herz für Rentner – vor allem für die Mütter, so scheint es jedenfalls zu sein. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD können wir auf der Seite 73 lesen: »Die Erziehung von Kindern ist Grundvoraussetzung für den Generationenvertrag der Rentenversicherung.« Und daraus leitet sie ein Vorhaben ab, das neben der abschlagsfreien Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren gleich am Anfang der neuen Legislaturperiode umgesetzt werden soll: »Während Kindererziehungszeiten ab 1992 rentenrechtlich umfassend anerkannt sind, ist dies für frühere Jahrgänge nicht in diesem Umfang erfolgt. Diese Gerechtigkeitslücke werden wir schließen.« Wer kann etwas gegen die Schließung von Gerechtigkeitslücken haben? Trotzdem maulen viele an der Art und Weise der Umsetzung dieser Zielsetzung herum, dabei bezieht sich ein gewichtiger Teil der Kritiker auf die Finanzierung aus den Beitragsmitteln der Rentenversicherung. Aber auch das mit der Gerechtigkeit ist wie so oft in der Sozialpolitik eine nicht einfache Angelegenheit. Und immer noch viel zu wenig bekannt, geschweige denn diskutiert werden die Folgen der geplanten Verbesserungen der „Mütterrente“ für die zukünftige Entwicklung der Renten insgesamt. Steigen wir also hinab in die Tiefen bzw. Untiefen der Rentenmechanik und der multiplen Ungleichheit der Mütter.

Der geneigte Leser kann dann dem Koalitionsvertrag entnehmen, was man zu tun beabsichtigt: »Wir werden daher ab 1. Juli 2014 für alle Mütter oder Väter, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, die Erziehungsleistung mit einem zusätzlichen Entgeltpunkt in der Alterssicherung berücksichtigen« (S. 73).  Das hört sich jetzt nicht nur sehr technisch an, das ist es auch – einschließlich der sich daraus ergebenden Folgen innerhalb des bestehenden Rentensystems.

Die Verbesserung der bislang geltenden Regelungen zur Anrechnung von Kindererziehungszeiten ist ein Hauptanliegen aus Reihen der Union, während die – hier nicht weiter thematisierte – abschlagsfreie „Rente mit 63“ bei 45 Versicherungsjahren vor allem ein Herzensanliegen der SPD mit Blick auf die Kernklientel aus den Gewerkschaften darstellt. Hinsichtlich der so genannten „Mütterrente“ gibt es seit 1992 eine nach dem Geburtsdatum der Kinder zweigeteilte Landschaft: Für alle Kinder, die vor dem Jahr 1992 geboren worden sind, gibt es einen Rentenpunkt gutgeschrieben, während es für die Kinder, die nach 1992 das Licht der Welt erblickt haben oder das noch tun werden, drei Rentenpunkte sind. In Euro-Beträgen ausgedrückt: Ein Rentenpunkt macht für jedes Kind einen Betrag aus in Höhe von 28,14 Euro brutto im Westen und 25,74 Euro im Osten monatlich. Das Vor-1992-Kind erbringt also 28,14 Euro pro Monat mehr Rente im Westen, während die Mütter für ein Nach-1992-Exemplar immerhin 84,42 Euro rausbekommen können. Das ist die im Koalitionsvertrag angesprochene „Gerechtigkeitslücke“, die man nun schließen will. Aus Sicht der betroffenen Mütter erscheint dies nachvollziehbarweise als längst überfällig – vor allem wenn man bedenkt, dass die Mütter der Kinder, die nach 1992 geboren worden sind oder noch geboren werden, deutlich bessere Chancen wie auch strukturelle Rahmenbedingungen hatten und haben, durch eine eigene Erwerbstätigkeit eigenständige Rentenansprüche zu erwerben. Dies war in den Jahren vor 1992 mit Sicherheit anders und wesentlich schwieriger als heute. Insofern könnte man sogar prima facie argumentieren, dass eigentlich diese Frauen besser gestellt sein müssten als die Frauen, die später ein Kind in die Welt gesetzt haben.

Das verweist auf die wichtige Frage, warum man diesen erheblichen Bruch zwischen den Kindern vor und nach 1992 überhaupt gemacht hat. Die Antwort auf diese Frage ist wie so oft in der Sozialpolitik relativ simpel: Es waren finanzielle Gründe – und genau diese Gründe sind auch die Ursache dafür, dass man seit 1992, was ja nun schon einige Zeit her ist, die nunmehr beklagte „Gerechtigkeitslücke“ keinesfalls geschlossen hat, was man ja längstens hätte tun können, denn meines Wissens hat die Union bereits seit 2005 in diesem Land die Regierungsverantwortung. Aber der Mechanismus ist natürlich einfach: Hätte man auch den Müttern der Kinder, die vor 1992 geboren worden sind, drei Rentenpunkte gutgeschrieben, dann hätte das unmittelbar erhebliche finanzielle Auswirkungen in der Rentenversicherung zur Folge gehabt, denn dann wären viele Mütter, die bereits im Rentenbezug sind, von dieser Leistung profitieren können und müssen. Hingegen waren und sind viele Rentenpunkte für Kinder, die erst nach 1992 geboren wurden, Leistungsversprechen, die erst irgendwann in der Zukunft eingelöst werden müssen, weil sie fällig werden, wenn die Mütter in 20 oder 30 Jahren in den Rentenbezug wechseln.

Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass die hier angedeutete kritische Sicht auf die bisherige Zweiteilung der Anrechenbarkeit von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung ja nunmehr behoben werden soll durch die geplante Verbesserung seitens der großen Koalition. Es gibt ja kein wirklich nachvollziehbares sachbezogenes Argument, warum vor 1992 geborene Kinder in der Rente weniger „wert“ sein sollen als später geborene Kinder. Und wir wissen auch: Viele Frauen haben sehr niedrige Renten (im Schnitt 555 Euro) und Frauen mit Kindern haben im Schnitt weniger Rente als diejenigen ohne Kinder. Insofern kann und muss man sehen, dass eine Verdoppelung der Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten für die betroffenen Frauen sehr wichtig wäre und von ihnen auch als eine gerechte Lösung angesehen wird.

Allerdings würde die gesetzgeberische Umsetzung des Versprechens aus dem Koalitionsvertrag konsequent betrachtet lediglich eine Halbierung der beklagten Gerechtigkeitslücke bedeuten, denn es ist ja nicht vorgesehen, dass die Mütter der Kinder, die vor 1992 geboren worden sind, mit den Müttern der jüngeren Kinder gleichgestellt werden, sondern die Differenz wird von zwei Rentenpunkte auf einen Rentenpunkt verkürzt. Und bereits diese gleichsam unvollkommene Schließung der Gerechtigkeitslücke verursacht Kosten in Höhe von 6,5 Milliarden Euro,was zugleich verdeutlichen kann, mit welchen erheblichen Ausgaben eine Angleichung verbunden ist und warum man bislang diesen Weg gescheut hat wie der Teufel das Weihwasser. Aber die Probleme hören an dieser Stelle nicht auf, sondern sie weiten sich erheblich aus, was mit der Mechanik des Rentenrechts zu tun hat.

Eine überaus instruktive Ausarbeitung zu den hier angedeuteten Problemen findet man in der folgenden Stellungnahme:

Schäfer, Ingo: „Mütterrente“. Gleichstellung mit Nebenwirkungen, Bremen: Arbeitnehmerkammer Bremen, November 2013.

Die Abbildung von Schäfer (2013: 2) verdeutlicht die derzeit gegebenen Zahlbeträge (also der ausgezahlten Renten, von denen die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, im Schnitt mehr als 10% der Bruttorente, abgezogen worden sind) – und die Auswirkungen auf diese Durchschnittsbeträge, wenn statt einem zwei Rentenpunkte je Kind berücksichtigt werden, so wie es derzeit geplant ist: »Die durchschnittlichen Zahlbeträge … bei Altersrenten von Frauen liegen je nach Kinderzahl (Geburten vor 1992) zwischen 651 Euro (keine Kinder) und 456 Euro (vier Kinder). Käme die „Mütter-Rente“ (ein zusätzliches Jahr Kindererziehungszeit für vor 1992 geborene Kinder) stiege die Rente mit zwei Kindern um rund 50 Euro auf 587 Euro (roter Balken). Bei vier Kindern läge die Rente dann im Schnitt bei 557 Euro. Die Durchschnittsrente von Frauen stiege um etwa 46 Euro auf 601 Euro.« Man sieht: Mütter (oder Väter) mit vor 1992 geborenen Kindern bekommen so höhere Renten – und insofern scheint doch der Ansatz zu funktionieren. Wie immer muss man genauer hinschauen und das hat Ingo Schäfer getan, dann wird eine Menge Wasser in den angeblichen Wein gegossen. Auch er sieht die Verbesserung, aber:

»Dies hilft jedoch nicht gezielt jenen, die in Armut leben. Und gleichzeitig könnte eine höhere „Mütter-Rente“ künftig das Risiko für Altersarmut sogar verschärfen. Das hat seine Ursache im sogenannten Nachhaltigkeitsfaktor«.

Jetzt wird es konkreter und etwas komplizierter. Schäfer beschreibt die anteilige Selbstfinanzierung der Rentner für die „Mütterrenten“-Ausweitung und stellt dabei ab auf den „Nachhaltigkeitsfaktor“ in der Bestimmungsformel für den aktuellen Rentenwert nach § 68 Abs. 4 SGB VI:

»Der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor wurde mit der Rürup-Reform in die Rentenanpassungsformel eingebaut. Er „dämpft“ die Rentenerhöhung, wenn die Ausgaben „übermäßig“ steigen. Die „Mütter- Rente“ würde die Ausgaben um sechseinhalb Milliarden Euro erhöhen. Der Nachhaltigkeitsfaktor sorgt dafür, dass die Rentnerinnen und Rentner einen Teil der Kosten (rund 1,6 Milliarden Euro) durch geringere Rentensteigerungen selbst bezahlen.«

Schäfer (2013: 4) weist auf zwei weitere problematische Aspekte hin:

»Die „Mütter-Rente“ würde … auch von den Müttern und Vätern mit bezahlt, die nach 1991 Kinder bekommen haben. Unabhängig von der Höhe ihrer Rente. Eine sicherlich unerwartete Umverteilung. Und ein neues Gerechtigkeitsproblem zwischen den Eltern mit vor bzw. ab 1992 geborenen Kindern.«

Und darüber hinaus:

»Der Nachhaltigkeitsfaktor hat aber noch eine weitere unerwartete Wirkung: Je mehr Kinder(- erziehungszeiten) die Eltern haben, wenn sie in Rente gehen, desto stärker dämpft der Nachhaltigkeitsfaktor die Rentenerhöhung. Würden die Menschen mehr Kinder bekommen, würde bei ihrem Renteneintritt das Rentenniveau relativ gesehen absinken. Damit würde also genau die Generation, die viele Kinder bekommen hat, dadurch Nachteile in der Rente haben. Darüber hinaus würden Beitragszeiten aus Erwerbstätigkeit entwerten, da die Rente im Verhältnis zum Einkommen geringer ausfällt.«

Man muss sich die Bedeutung dieser Aspekte klar vor Augen führen: Der von Schäfer beschriebene Mechanismus der Absenkung der an sich schon bescheidenen Rentenerhöhungen »kürzt das Rentenniveau, selbst wenn die „Mütter-Rente“ aus Steuergeldern bezahlt würde.« Das heißt, das Problem ist unabhängig von der in der öffentlichen Debatte aus guten Gründen geführten Auseinandersetzung, ob die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten aus Beitrags- oder nicht vielmehr – wie viele Kritiker fordern – aus Steuermitteln zu erfolgen hat.
Der Nachhaltigkeitsfaktor bewirkt also eine Umverteilung innerhalb der Gruppe der Rentnerinnen und Rentner und ist die eigentliche Problemstelle, die man angehen müsste – wovon „natürlich“ keine Rede ist.

Abschließend vor dem Hintergrund, ob die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten aus Beitragsmitteln der Rentenversicherung oder aber aus Steuermitteln zu finanzieren ist, weil es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt: Dies aus zwei exemplarisch hier herausgegriffenen Gründen:

  • Schauen wir uns die Argumentationslinie eines „klassischen“ Sozialversicherungsapologeten an. Franz Ruland, bis 2005 Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger und von April 2009 bis März 2013  Nachfolger von Bert Rürup Mitglied und Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung, hat in einem Artikel in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung am 09.12.2013 unter der Überschrift „Unsolide und teuer“ geschrieben: »Die Finanzierung des Vorhabens aus Beiträgen ist falsch. Der Kinderlastenausgleich ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie ist daher aus Gleichheitsgründen aus Steuern zu finanzieren. Geschieht es über Beiträge, brauchen sich Beamte, Selbständige und Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze an den Kosten nicht zu beteiligen, obwohl sie oder ihre Ehegatten die „Mütterrente“ auch bekommen.« Das scheint auf den ersten Blick konsistent – allerdings führt das konsequent zu Ende gedacht angesichts der erheblichen Leistungsabsenkungen im Zusammenspiel mit den die Leistungshöhe bestimmenden Komponenten innerhalb des gegebenen Systems der Gesetzlichen Rentenversicherung dazu, dass in the long run tendenziell immer weniger Menschen eine Rente bekommen werden, die einen größeren Abstand zu den Leistungen aus dem Grundsicherungssystem aufweisen wird – weil die basalen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Absicherung aus der umlagefinanzierten Rentenversicherung bei vielen Menschen gar nicht erfüllt werden können (man denke hier an die Menschen mit niedrigen Einkommen, mit längeren Arbeitslosigkeitsphasen oder die vielen Frauen mit einer Teilzeitbeschäftigung). Nun kann man an dieser Stelle argumentieren, dass das ein sozialpolitisches System des Staates ist, das er dann eben über Transferleistungen wie die Grundsicherung bearbeiten muss und die dann eben steuerfinanziert, während sich das Versicherungssystem immer stärker kontrahiert auf den Kern der zu ihm passenden Lebensmodelle. In dieser Logik hat dann die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten eigentlich – wenn man ehrlich ist – keinen Platz (denn Platz haben sollte nur ein echtes Beitrags-Gegenleistungsverhältnis), aber wenn man die schon meint berücksichtigen zu müssen, dann sollten wenigstens die eigentlich angefallenen Beiträge durch Steuermittel vollständig refinanziert werden, was aber aus einer verengten versicherungsförmigen Perspektive immer nur eine Second-best-Lösung darstellen kann. Auf der anderen Seite gibt es Systemkritiker wie der Sozialrichter Jürgen Borchert, die ganz im Gegenteil auf die konstitutive Funktion der Kinder als zukünftige Beitragszahler hinweisen und auf die vielfache faktische Mehrbelastung der Familien im gegebenen System der Finanzierung unseres Rentenversicherungssystems, in dem nach seiner Meinung die kinderlosen Doppelverdiener am meisten profitieren würden. Aber auch diese mit viel Verve und Argumenten vorgetragene Position hat natürlich ihre Tücken, beispielsweise ist ja nicht jedes Kind automatisch Systemstabilisator der Rentenversicherung, denn wenn die Kinder selbständig arbeiten oder als Beamte, sind sie für das System „verloren“. 

Letztendlich führt das Kreisen um die Frage Beitrags- oder Steuerfinanzierung unter Aufrechterhaltung des gegebenen Systems in eine Sackgasse mit Blick auf die eigentlich anstehende Gestaltung der Zukunft der Alterssicherung. Und die müsste in einem echten Systemwechsel in der Rentenversicherung hin zu einem universellen Alterssicherungssystem bestehen, also der Absicherung wie auch Einbindung aller Einwohner unabhängig von ihrem Erwerbsstatus, aber herangezogen zur Finanzierung nach ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit. Das Grundmodell hierfür können wir in der Schweiz besichtigen, die nicht umsonst bei der Alterssicherung nicht nur ein solches universelles System implementiert haben, sondern das dann auch noch ausgestattet mit massiven Umverteilungselementen von oben nach unten, beispielsweise mit Mindestrenten und Maximalrenten und keinen Beitragsbemessungsgrenzen, die gerade die hohen Einkommen von der Finanzierung befreien. Aber diese Diskussion – ich kann darauf nur hinweisen – wird ja noch nicht mal embryonal geführt bei denen, die uns die kommenden vier Jahre regieren sollen/werden. Und das wird sich als das eigentliche Problem erweisen. Die zunehmenden Systemkonflikte mit der sich verändernden Arbeits- und Lebenswelt kann man auch bei der Frage einer „solidarischen Lebensleistungsrente“ oder der Frage der Erwerbsminderungsrenten aufzeigen. Kommt noch.

Die (professionelle) Altenpflege wächst, die (selbst zu tragenden) Kosten dafür besonders und im Schatten müht sich weiter das schwarze Schaf der Pflegefamilie

Der „Pflegereport 2013„, herausgegeben von der Krankenkasse Barmer GEK und von Heinz Rothgang, Rolf Müller und Rainer Unger vom Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) an der Universität Bremen verfasst, bescheinigt der Altenpflege ein anhaltendes Wachstum, was angesichts der allgemeinen Daten nicht überrascht: »Die Zahl Pflegebedürftiger ist mit 2,5 Millionen (2011) auf einem neuen Höchststand und wird bis 2050 auf 4,5 Millionen steigen. Wesentliche Ursache ist der demografische Wandel. Es gibt große regionale Unterschiede. So wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 in Brandenburg um 72 Prozent steigen, in Bremen nur um 28 Prozent. Im Bundesdurchschnitt wird ein Plus von 47 Prozent erwartet.«

Es zeigt sich ein Trend hin zu professioneller Versorgung. Besonders stark sind die ambulanten Pflegedienste gewachsen: Sie haben 2012 fast 23 Prozent der pflegebedürftigen Menschen betreut – so viele wie nie zuvor (2008 waren es noch 20,9 Prozent gewesen). Dagegen stagnierte der Anteil der Heimpflege in den letzten Jahren und sank zuletzt leicht auf 28,8 Prozent. »Dementsprechend sind laut Report die Personalkapazitäten in der ambulanten Pflege zwischen 1999 und 2011 mit 64 Prozent schneller gewachsen als die Zahl der Betten in Pflegeheimen. Diese hätten um 36 Prozent zugenommen« („Ambulante Pflege nimmt weiter Fahrt auf„).

Wer den gesamten Pflegereport 2013 – der dieses Jahr als Schwerpunktthema die Rehabilitation bei Pflege behandelt – lesen möchte, der kann den hier abrufen als PDF-Datei:

Heinz Rothgang, Rolf Müller und Rainer Unger: BARMER GEK Pflegereport 2013. Schwerpunktthema: Reha bei Pflege (= Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Band 23), Siegburg 2013 » PDF-Datei

Erneut gestiegen sind nach Berechnungen der Bremer Wissenschaftler die Eigenanteile, die privat zur Finanzierung der Pflege aufgebracht werden müssen.

Bei den Leistungen der Pflegeversicherung handelt es sich um pauschalierte bzw. gedeckelte Leistungen, die nicht bedarfsdeckend sind. Nicht umsonst sprechen wir hier auch von einer „Teilkaskoversicherung“. Aufgrund der bis 2007 fehlenden und seitdem unzureichenden Leistungsdynamisierung steigen die Eigenanteile an den Pflegekosten, die vom Pflegebedürftigen selbst zu tragen sind, weiter an. In der stationären Pflege übersteigt inzwischen der insgesamt aufzubringende Eigenanteil die Pflegeversicherungsleistungen in allen Pflegestufen deutlich, und auch bei den rein pflegebedingten Kosten, die gemäß der ursprünglichen Planung bei Einführung der Pflegeversicherung vollständig von der Versicherung übernommen werden sollten, betrugen die durchschnittlichen Eigenanteile Ende 2011 bereits monatlich 346 Euro (Pflegestufe I), 532 Euro (Pflegestufe II) bzw. 760 Euro (Pflegestufe III), erläutern die Bremer Wissenschaftler in ihrer Pressemitteilung zum neuen Pflegereport. Die Pflegeversicherungsleistungen decken deutlich weniger als die Hälfte des Gesamtheimentgelts ab. Der Tabelle aus dem Pflegereport 2013 mit der Entwicklung der einzelnen Komponenten kann man entnehmen, dass bereits im Jahr 2011 der privat aufzubringende Eigenanteil der Pflegebedürftigen bei stationärer Versorgung im Durchschnitt über die drei Pflegestufen zwischen 1.380 bis 1.802 Euro lag.

Hinter solchen Zahlen stecken zahlreiche ganz unterschiedliche Schicksale und man sollte auch die Folgewirkungen solcher Eigenanteilsbeträge nicht unterschätzen. Zum einen steigt die finanzielle Überforderung vieler betroffener Pflegebedürftiger, die auf eine Heimunterbringung angewiesen sind – und das bedeutet nicht nur die Verwertung des gesamten eigenen Vermögens (sofern solches vorhanden  ist) und den Rückgriff auf die Verwandten ersten Grades, also die Kinder, die teilweise erhebliche Beträge abführen müssen, sondern bei vielen mittellosen bzw. einkommens- und  vermögensschwachen Personen muss das Sozialamt einspringen mit der „Hilfe zur Pflege“ nach dem SGB XII. Die Ausgaben dafür steigen (wieder) kontinuierlich an.

Zum anderen sind die Pflegekosten auch ein Grund mit für die Ausbreitung eines höchst umstrittenen, aber weit verbreiteten Phänomens in der Pflege und Betreuung der Pflegebedürftigen in ihrem häuslichen Kontext: Gemeint ist hier der Einsatz osteuropäischer Pflege- und Betreuungskräfte, zumeist in halblegaler bzw. illegaler Form in den Haushalten der Betroffenen.

»Immerhin gibt es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund eine Million Deutsche, die zu Hause betreut werden. Offiziell durch ihre Angehörigen. Inoffiziell, schätzt das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung, beschäftigen rund 150.000 Familien Osteuropäerinnen, die mit im Haushalt wohnen und die Alten pflegen. Da viele Pflegerinnen sich alle paar Wochen abwechseln, kommen die Forscher auf rund 400.000 schwarz arbeitende Frauen. Das Arrangement scheint vielen eine einfache Lösung für das Problem mit dem plötzlichen Pflegefall in der Familie zu sein. Die Frauen bekommen 1.000 bis 1.400 Euro, bar auf die Hand«, so Anette Dowideit in ihrem Artikel „Viele Kinder nennen ihre Mütter ‚Bankautomat‘„. In dem Artikel werden Maria und Agnieszka aus Polen porträtiert. Nur in Deutschland können sie genug Geld verdienen, um ihre Familien zu versorgen. Beispielsweise Agnieszka, die hier bei einem älteren Ehepaar auf 1.300 Euro im Monat kommt. Das sind fast drei mal so viel, wie sie in Polen in einem Vollzeitjob verdienen könnte. »Sie schläft im Haus und ist so rund um die Uhr verfügbar. Muss die Frau nachts zur Toilette, steht sie mit auf, um ihr zu helfen.«

Aber alles hat seinen Preis und viele der Osteuropäerinnen hinterlassen Kinder in ihrer Heimat, die zuweilen völlig auf sich allein gestellt sind – und darauf will Anette Dowideit aufmerksam machen:

»Pendelmigration, wie Soziologen das nennen, ist ein großes Problem für Osteuropa. Ganze Generationen von Kindern wachsen wegen des Lohngefälles zwischen West und Ost ohne Mütter auf. In Polen sind es mindestens 100.000, rechneten Forscher der Universität Warschau vor drei Jahren aus. Je weiter östlich man geht, umso verbreiteter ist das Problem. In der Ukraine sollen fünf bis sieben Millionen Kinder betroffen sein, schätzt der Verein Caritas International. Das sei nicht nur sozial, sondern auch wirtschaftlich eine Katastrophe, sagen Experten. Es verursache eine „neue Klasse von Straßenkindern“, ohne soziale Vorbilder, durch Omas oder Tanten versorgt, aber nicht erzogen, die schlechte Leistungen in der Schule ablieferten, viel Alkohol tränken, Drogen nähmen.«

Und – leider – durchaus passend vor dem Hintergrund des anstehenden Weihnachtsfestes:

»Natürlich wüssten viele Auftraggeber in Deutschland, dass sie durch das Arrangement die Notlage einer polnischen Familie ausnutzen, sagt der Kölner Pflegeforscher Michael Isfort, stellvertretender Vorsitzender des Instituts für angewandte Pflegeforschung. Manche Angehörige schützten sich vor diesem Wissen, indem sie den Hintergrund der Frau ausblendeten. „Andere versuchen, den Arbeitsvertrag umzudeuten. Sie reden sich ein, eigentlich gehöre die fremde Frau doch nach kurzer Zeit zur Familie.“ Was oft nicht funktioniert. Die Pflegerin kommt mit zu Familienfesten, sitzt Weihnachten mit am Weihnachtsbaum – obwohl sie mit den Gefühlen ganz weit weg ist. „Das kann schnell für alle Beteiligten zum Krampf werden“, sagt Isfort.«

Man muss ganz klar sehen und es auch so deutlich sagen: Solange wir dieses erhebliche Wohlstandsgefälle innerhalb der Europäischen Union haben, wird es zahlreiche Menschen geben, die auch unter Inkaufnahme einer Pendelmigration versuchen werden, einen Teil vom Kuchen abzubekommen und die eigene materielle Lage zu verbessern. Zwar wird sich allein aufgrund der massiven Einbrüche aufgrund der demografischen Entwicklung in den osteuropäischen Staaten das Pflegepotenzial für diese intensive Form der häuslichen Betreuung und Pflege in den vor uns liegenden Jahren deutlich reduzieren, aber wir haben zum einen bereits sehr viele Osteuropäerinnen bei uns im Land und außerdem wird das auch noch einige Zeit so andauern. Insofern kann man mit wirklich guten Gründen diese Situation beklagen und die Folgen bzw. Auswirkungen für die Frauen, Aber man wird grundsätzlich an dem Tatbestand nichts verändern können, dazu ist das Wohlstandsgefälle schlichtweg zu groß. Also hat der Staat die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, im Interesse der Pflegebedürftigen, vor allem aber der Frauen aus dem Ausland, die sich hier an der Pflegefront oftmals aufopfern, deren Beschäftigung zu regulieren. Praktisch würde das bedeuten, dass man akzeptiert, dass es sich hier um einen eigenen Beschäftigungsbereich handelt, zum anderen muss man aber sicherstellen, dass die Frauen, Die per se aufgrund des Lohngefälles in einer Ausbeutungssituation stecken, wenigstens ordentlich behandelt werden und man muss sie einbinden in eine flächendeckende Infrastruktur der begleitenden Unterstützung. Schon vor Jahren wurde auf die vorhandenen Missstände wie auch auf den Bedarf an einer rechtlich (für beide Seiten) besseren Lösung hingewiesen und eine solche eingefordert. Bisher hat sich hier allerdings so gut wie gar nichts bewegt, ganz offensichtlich steckt die Politik bei diesem Thema ihren Kopf ganz tief in den Sand.

Nun aber scheint sich doch etwas zu bewegen, überschreibt doch die bereits erwähnte Anette Dowideit einen anderen Artikel mit „Schwarzarbeit in der Pflege soll legalisiert werden„: Wir müssen den Weg zurück in die Legalität ebnen, so wird der gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jens Spahn, zitiert. Möglicherweise sollen die Pflegekassen künftig die Sozialversicherungskosten für die Frauen übernehmen, so der Hinweis in dem Artikel auf aktuelle Überlegungen. Man muss an dieser Stelle allerdings auch darauf hinweisen, dass mit einem solchen Verfahren verbunden wäre, dass der Staat gleichsam auf der absoluten ökonomischen Abhängigkeit der betroffenen Frauen aus Osteuropa aufbaut und deren überdurchschnittlichen und eigentlich nicht rechtskonformen Arbeitseinsatz legalisiert und damit der Ausbeutung aufgrund der gegebenen Wohlstandsunterschiede Vorschub leistet und diese stabilisiert. Auf der anderen Seite ist es wohlfeil, wenn man sich auf einen rigorosen Standpunkt stellt. Das entlastet nicht von der Tatsache, dass man auch unangenehme Kompromisse eingehen muss, da sich offensichtlich zahlreiche Familien diese Option bedienen(müssen) und man vor diesem Hintergrund eine Antwort geben sollte, wie man das ganze in geordnetere Bahnen lenken könnte.

Das alles ist keine neue Idee, sondern ganz offensichtlich will man sich an die aktuelle Rechtslage in Österreich anlehnen, die schon vor Jahren den mühevollen Weg der versuchten Legalisierung der osteuropäischen Pflege- und Betreuungskräfte eingeschlagen haben.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: man geht davon aus, dass schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Familien auf osteuropäische Pflege-und Betreuungkräfte zurückgreifen. Insgesamt werden derzeit über eine Million Pflegebedürftige ausschließlich von ihren Angehörigen (oder mit Unterstützung der Pflege- und Betreuungskräfte aus anderen Ländern) zuhause gepflegt. In vielen Familien sind es also die Angehörigen alleine, die diese gesellschaftlich absolut wertvolle und unabdingbare Arbeit erledigen – in aller Regel handelt es sich hierbei um Frauen, die diese Aufgabe stemmen.  Die Unterstützung und Hilfestellung für diese oftmals aufreibende Arbeit muss unbedingt im Zuge der Verbesserung der Leistungen in der Pflegeversicherung wie auch durch eine entsprechende Pflegeinfrastruktur vor Ort ausgebaut werden. Wenn es uns aber gelingen würde, durch eine Legalisierung der vorhandenen und weiterhin auch erwartbaren Beschäftigung von Osteuropäerinnen gleichzeitig dazu zu kommen, dass man die Familien, die solche Arbeitskräfte einsetzen, verpflichtet, sowohl professionelle ambulante Pflegedienste regelmäßig ins Haus zu lassen und den betroffenen Frauen aus Osteuropa die Möglichkeit eröffnet, sich zu treffen, auszutauschen und von professionellen Pflegebegleitern betreut zu werden, dann kann man ganz handfeste Verbesserungen der Lebensbedingungen erreichen. Das wäre doch aller Anstrengung wert.

Von Putzfrauen, die ein Krankenhauskonzern in die Mangel nimmt, über Praktikanten in Bundesministerien, die sich glücklich schätzen können, umsonst arbeiten zu dürfen bis hin zu den Paketzustellern, den wahren Helden der Adventszeit

Die Gesundheitspolitik ist bekanntlich ein Haifischbecken, auch deshalb, weil es hier um Milliarden-Beträge geht und man bei allem Wehgeklage durchaus eine Menge Geld verdienen kann. Damit soll hier gar nicht die hinsichtlich des Geldverdienens reflexhaft vorgeführte Pharmaindustrie adressiert werden, sondern die Krankenhäuser, die ansonsten doch eher als unterfinanziert und überlastet daherkommen und sich auch so darstellen. Nun gibt es solche und solche Kliniken. Es gibt viele, die in den roten Zahlen feststecken oder wenn es hochkommt, eine schwarze Null erreichen, aber da sind eben auch hochprofitable Kliniken auf dem „Markt“, die richtig gute Renditen erwirtschaften. Weil sie sich spezialisiert haben, weil sie auf Effizienz getrimmt sind und bzw. oder, weil sie den einen (z.B. dem Personal) etwas wegnehmen, um es anderen (z.B. den Aktionären) zu geben. Sprechen wir also von einem börsennotierten Klinikkonzern: Der Rhön-Klinikum AG – und von ihren Putzfrauen.


Die Rhön-Klinikum AG mit Sitz in Bad Neustadt an der Saale, am Rande der Rhön besitzt und betreibt mehr als 40 Kliniken mit 17.000 Betten. Dort werden jährlich mehr als 2,5 Millionen Patienten behandelt, die fast drei Milliarden Euro Umsatz und fast 300 Millionen Euro Gewinn bringen (vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen). Die Abbildung verdeutlicht die Entwicklung der wichtigsten Unternehmenskennzahlen in den Jahren 2008 bis 2012.

Damit die Kosten möglichst gering und die Profite möglichst hoch ausfallen, sind in einigen Kliniken offenbar über Jahre hinweg Putzkräfte systematisch ausgebeutet worden. Nun soll das Klinik-Imperium bezahlen, berichtet Klaus Ott in seinem Artikel „Die Angst der Putzkraft„. Die Fahnder des Zolls Die Fahnder haben untersucht, wie Putzfrauen in den Privat-Kliniken des Rhön-Konzerns behandelt wurden. Der Zoll hat angeblich erschreckende Befunde ans Tageslicht befördert. Immer wieder – so kann man es dem Artikel entnehmen – geht es um das Phänomen der unbezahlten Mehrarbeit der Putzfrauen:

»Eine Putzkraft aus der Klinik Warburg in Westfalen hat erzählt, sie habe zehn Stunden zusätzlich im Monat arbeiten müssen und dafür keinen Lohn erhalten. Aus Angst um ihren Arbeitsplatz habe sie sich nicht beschwert … Eine Vorarbeiterin aus der Klinik in Herzberg am Harz hat ebenfalls von … unbezahlten Überstunden (berichtet). Jede Frau habe pro Tag und Station eine Stunde mehr arbeiten müssen. Der Vorarbeiterin fielen auf Anhieb 15 Kolleginnen ein, denen es so ergangen sei. Das vorgegebene Arbeitspensum habe erledigt werden müssen, egal wie.« Aber die Protokolle des Zolls, die voll sind mit heftigen Anschuldigungen der vernommenen Putzkräfte, enthalten auch dies: »In etlichen Regionen berichteten Reinigungsfrauen, sie hätten keinen Grund zur Klage. Sie würden anständig behandelt und für alle Stunden bezahlt.«

Wir lernen aus dem vorliegenden Sachverhalt auch noch etwas anderes, gerade mit Blick auf die Kontrollproblematik in Zeiten eines sich am Horizont abzeichnenden allgemeinen Mindestlohnes: Kontrolle, Ermittlung und Beweisführung ziehen sich oftmals wie Kaugummi auf der Zeitachse: »Zwei Jahre und drei Monate ist es her, dass der Zoll bundesweit Rhön-Beschäftigte vernahm, um mutmaßliche Missstände aufzudecken.« Und jetzt läuft die Maschinerie so langsam, aber sicher an: Die Sozialversicherer machen für die unbezahlten Überstunden nicht abgeführte, also hinterzogene Beiträge geltend. »Die Behörden und Versicherer glauben, mehrere zehn Millionen Euro Sozialbeiträge seien nachträglich fällig. Allenfalls einige Millionen Euro wären gerechtfertigt, wenn überhaupt, heißt es in Rhön-Kreisen.«

Es wird viele nicht überraschen, dass eine Komponente der Effizienzoptimierung der Krankenhauskonzernmanager die Ausnutzung aller Tiefen und Untiefen des Steuerrechts darstellt. Sie haben sich eines legalen Steuertricks bedient, berichtet Klaus Ott:

»Bis 2007 ließ der Konzern seine Krankenhäuser von Reinigungsfirmen putzen. Dann gründete Rhön eigene Tochterfirmen zum Säubern der Kliniken. Mehrheitseigner: die Rhön AG. Minderheitspartner: Reinigungsfirmen. Diese Konstruktion hat für den Konzern den Vorteil, dass er für die Putz-Rechnungen keine Umsatzsteuer mehr zahlen muss. Das spart 20 Millionen Euro im Jahr. Und trägt dazu bei, dass die Krankenhäuser profitabel sind … Sechs Firmen mit mehreren Tausend Putzkräften hat Rhön. Die Reinigungsgesellschaften Süd, Nord, West, Ost, Mitte und Zentral.«

Also immer wieder die Arbeitszeitmanipulation – denn wir müssen bedenken, dass es für die Reinigungskräfte schon seit längerem einen allgemeinverbindlichen Branchen-Mindestlohn gibt – der lag 2011, als der Zoll die Frauen befragte, bei 7 Euro im Osten und 8,55 Euro im Westen. Und den wollte bzw. musste man aufgrund der Vorgaben unterlaufen.

»Eine Beschäftigte aus Norddeutschland erzählte, vorher habe sie sechs Stunden Zeit für ihr Pensum gehabt, danach nur noch 4,8 Stunden, für dieselbe Arbeit. Keine Pause, extremer Stress, die Zeit sei knapp, man laufe wie ein Blitz durch, zu hoch angesetzte Normen, so steht es in den Protokollen.
Eine andere Frau hat ausgesagt, nach einer gesetzlichen Lohnerhöhung sei einfach die vorgegebene Arbeitszeit für das jeweilige Reinigungspensum gekürzt worden, oder man habe in derselben Zeit mehr leisten müssen. Zum Beispiel zusätzlich das Treppenhaus putzen. Das Pensum legten die „großen Chefs“ in Bad Neustadt fest, hat eine Teamleiterin ausgesagt.«

Man wird abwarten, was bei den Aktivitäten des Zolls und der Sozialversicherungsträger am Ende rauskommt. Aber da war doch noch was – genau, der Aufsichtsrat. Denn in dem war ein bekannter SPD-Gesundheitspolitiker Mitglied, Karl Lauterbach, der auch die einschlägige Verhandlungsgruppe für die SPD bei den Koalitionsverhandlungen angeführt hat. Genauer gesagt von Juli 2001 bis Juni 2013 saß er im Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG. 64.000 Euro hat der Genosse laut Geschäftsbericht des Unternehmens dort im Jahr 2012 als Aufsichtsrat kassiert. 62.000 Euro sind es im Jahr zuvor gewesen, berichtet Klaus Ott in dem Artikel „Karlchen Überall“ und die Putzkräfte. Dafür müssen Putzfrauen lange stricken. Aber der Herr Abgeordnete lehnt jeden Kommentar dazu ab und geht auf Tauchstation.

Durch die Berichterstattung ist das Thema angekommen in den heiligen Hallen des Bundestages. Und da können wir unsere Reise durch die Arbeitswelt fortsetzen, durchaus passend, denn im Bundestag soll ja nach allen Ankündigungen demnächst die Arbeit aufgenommen werden an der gesetzlichen Fundierung des in Aussicht gestellten gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohnes in Höhe von 8,50 Euro. Dann können die vielen Praktikanten, die in den Bundesministerien an ihrem Lebenslauf basteln, hilfreich zuarbeiten, wenn es um die gesetzgeberische Arbeit geht. Und sie sind zugleich nicht nur Zeuge, sondern auch mitten drin in einem historischen Prozess. Dafür kann man doch nun wirklich auf eine Vergütung verzichten, wenn man so eine Chance bekommt. Müssen sie offensichtlich auch, folgt man dem Artikel „So drücken sich Bundesministerien um Praktikanten-Bezahlung“ von Lena Greiner: »Jedes Jahr absolvieren Hunderte Studenten ein Praktikum in einem Bundesministerium. Viele schreiben Reden, organisieren Veranstaltungen und führen Protokoll. Die beliebtesten Häuser zahlen dafür nicht. Denn was Arbeit ist, ist Definitionssache.«

Alle 14 Bundesministerien bieten Praktika an. Im Jahr 2012 waren es insgesamt 1.751 Plätze, allein 1.009 Praktikanten arbeiteten durchschnittlich drei Monate für das Auswärtige Amt. So steht es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag. Dazu kommen noch 2.984 junge Menschen, die Praktika in Behörden absolvieren, die den Bundesministerien nachgeordnet sind. Und wie sieht es mit der Bezahlung aus? Dazu Lena Greiner in ihrem Artikel:

»Acht der Bundesministerien bezahlen ihre Praktikanten, 300 Euro monatlich sind es meistens. Sechs dieser Berliner Ministerien bezahlen ihre Vollzeitpraktikanten jedoch nicht. Keine Vergütung und keine Aufwandsentschädigung zahlen: das Auswärtige Amt, das Innenministerium, das Finanzministerium, das Wirtschaftsministerium, das Verteidigungsministerium und das Umweltministerium.«

Dabei ist doch eigentlich wie so oft alles geregelt: Seit November 2011 gibt es eine überarbeitete Fassung der „Praktikantenrichtlinie Bund„. Laut Innenministerium waren an der Ausarbeitung auch alle anderen Ministerien beteiligt. In der aktuellen Fassung heißt es unter anderem: „Für Praktika von Schülerinnen und Schülern, Berufsschülerinnen und Berufsschülern sowie Studierenden sind mindestens 300,- Euro monatlich zu zahlen.“Aber jetzt muss man wieder auf das Kleingedruckte achten: Dieser Satz mit den mindestens 300 Euro gilt nur für sogenannte freiwillige Praktika. Daneben gibt es noch die sogenannten Pflichtpraktika. Dazu heißt es in der Richtlinie: Die Pflicht-Praktikanten „besitzen keinen gesetzlichen Vergütungsanspruch“.

Die Verfechter dieses Systems argumentieren so: „Bei Pflichtpraktikanten geht man davon aus, dass die über Bafög oder die Eltern abgesichert sind“, so der Sprecher des Bundesinnenministeriums. »Doch welches Bafög sichert die Miete in einer anderen Stadt, tägliches Mittagessen in einer Ministeriumskantine, S-Bahn-Tickets, Anreisekosten und angemessene Kleidung? Wer keine Ersparnisse oder wohlhabende Eltern hat, kann ein solches Praktikum nur schwerlich machen«, so Lena Greiner in ihrem Beitrag. Aber letztendlich ist alles eine Frage des semantischen Zugangs, wie man dem folgenden Zitat entnehmen kann: Auf die Frage, warum die Praktikanten dort nichts bekommen, antwortet etwa das Umweltministerium: „Im Rahmen der Pflichtpraktika werden keine Arbeitsleistungen erbracht.“

Runden wir unsere Reise durch die Arbeitswelt ab mit einem Blick auf die wahren Helden dieser Tage vor der Bescherung: den Paketzustellern. Ungefähr 200.000 Menschen sind als Angestellte oder selbstständige Unternehmer im Kurier-, Express- und Paketgeschäft tätig. Größter Arbeitgeber ist die Deutsche Post AG, die 2012 nach eigenen Angaben allein 60.000 Zusteller für Paketlieferungen beschäftigte. Eine gute Übersicht über die Situation in diesem Teilbereich der Logistik liefert der Artikel „Countdown zum Kunden„. Darin findet man die folgenden Erläuterungen zu den Arbeitsverhältnissen bei den Paketdienstleistern:

»… der Status des Arbeitnehmers verschwindet – zugunsten von Freiberuflern oder Subunternehmern. Das Outsourcing erschwert die Interessenvertretung der Beschäftigten. So erledigt DHL Express die gesamte Zustellung mit Fremdfirmen. Anders die Paketsparte der Deutschen Post. Dort ist mit ver.di vereinbart, maximal 990 Zustellbezirke nach außen zu vergeben; den Beschäftigten wird hier ein vergleichsweise hohes Gehalts- und Schutzniveau geboten. DPD, GLS und Hermes vergeben die Zustelljobs größtenteils oder vollständig fremd, während UPS nach Gewerkschaftsangaben immerhin zu rund 60 Prozent eigene Paketboten beschäftigt. Die Subunternehmen sind weitgehend mitbestimmungsfreie Zonen.«

Anne Kunze hatte bereits Anfang Dezember in ihrem Artikel „Fünf Tonnen am Tag“ den Alltag der Paketzusteller beschrieben: »Paketboten schleppen Kühlschränke und Matratzen, Bücher und Schuhe: Noch nie haben die Deutschen so viel bestellt. Um die Pakete billig zu liefern, werden auch Zusteller der DHL ausgebeutet.« Im November hat die Deutsche Post DHL in Deutschland jeden Tag fünf Millionen Pakete zugestellt. Jetzt, vor Weihnachten, sind es acht Millionen. Die Marktbeobachter des Analystenhauses A.T. Kearney gehen in diesem Jahr von 2,3 Milliarden Paketsendungen nur in Deutschland aus. Tendenz steigend.

Die Deutsche Post DHL ist der größte Logistikkonzern der Welt. In diesem Jahr rechnet sie mit einem Gewinn von bis zu drei Milliarden Euro. Die Paketdienstleistung gehört zu den „wichtigsten Wachstumstreibern“. Aber: Zur Wahrheit über den Paketboom gehört auch, dass diejenigen den Preis drücken, die die Pakete verschicken: Experten schätzen, dass Händler wie Zalando gerade mal zwei Euro pro Paket bezahlen. Das dürfte die Kosten der Zusteller kaum decken. Den Druck geben die Paketdienstleister nach unten weiter, immer tiefer, bis er bei den Zustellern an der Paketfront ankommt.
Einen vergleichbaren Ansatz der Beschreibung des Arbeitsalltags der Paketzusteller wie Anne Kunze hat Anette Noppen in ihrem Artikel „Paket-Mann schleppt täglich 2000 Kilogramm“ gewählt, der in der Rhein-Zeitung erschienen ist. Sie porträtiert einen Tag im Arbeitsleben des Alexander Gilewitsch von der DHL. Der gehört sozusagen zu den „glücklichen Fällen“ unter den Paketzustellern:

»Seit 1997 fährt er für DHL – für 15 Euro brutto die Stunde. Gilewitsch geht es damit gut, wie er selbst sagt. Er gehört zur „alten Garde“, sein Lohn genießt Bestandsschutz. Gilewitsch wird nach Stunden bezahlt, nicht nach ausgelieferten Paketen. Überstunden werden noch einmal mit ein, zwei, drei Euro über dem regulären Stundensatz entlohnt.«

Abr natürlich kennt auch er die andere Seite, Kollegen bei den Subunternehmen der DHL, die für die gleiche Arbeit 600 Euro brutto weniger im Monat rausbekommen.
150 bis 180 Pakete fährt er an einem „normalen Tag“ aus. Die Arbeitsbelastung ist enorm: »Fast 2.000 Kilo wird er am Ende des Tages geschleppt haben. Geschätzte 400 Höhenmeter hat er dann zurückgelegt, 400 Mal ist er in seinen Transporter aus- und wieder eingestiegen. Kein Wunder, dass der Mann auf Sport in der Freizeit getrost verzichten kann.« Und er verweist mit Blick auf dieses Belastungsprofil auf eine andere sozialpolitische Großbaustelle:

»Der Rücken schmerzt immer wieder. „Bis zur Rente machen das meine Knochen nicht mit“, befürchtet Gilewitsch. Er denkt über Altersteilzeit nach. Dann könnte er mit 63 in Rente gehen. Und schon bei diesem Alter kommt Alexander Gilewitsch ins Grübeln. 21 Millionen Treppenstufen müsste er bis dahin noch steigen, mehr als 10 000 Tonnen Pakete schleppen. Am Ende seines Arbeitslebens hätte er dann umgerechnet etwa 250 Mal den Mount Everest erklommen. Und noch 21 Mal hätte er dann den Weihnachtspaketboten gespielt.«

Daniel Taab hat in seinem Artikel „Knochenjob zum Hungerlohn“ die Situation vieler Paketzusteller am Beispiel der Ergebnisse einer Kontrolle von 200 Paketfahrern am Flughafen Köln/Bonn durch den Zoll beschrieben. Er zitiert einen Zollfahnder, der von einem „knüppelharten Geschäft“ spricht: »Die Rede ist von Paketfahrern, die für einen geringen Lohn nachts Waren ausliefern, ständig unter Zeitdruck sind, oft für den Sprit selber aufkommen müssen und am Ende eines Monates zwischen 450 und 600 Euro brutto auf dem Konto haben. Um das verworrene Geschäftsgebaren von großen Paketdiensten, Subunternehmern, Paketboten und Scheinselbstständigen zu durchleuchten, kontrollierte das Hauptzollamt in den vergangenen Tagen am Flughafen Köln/Bonn mehr als 200 Fahrer.« Die Zollbeamten »sind bei ihren Kontrollen beispielsweise auf Rentner gestoßen, die zum Teil schon 75 Jahre alt sind und sich für die Aufbesserung ihrer Rente Nacht für Nacht ans Steuer der Paketwagen setzen.« Und weiter: »Zudem gebe es laut Zoll Fahrer, die im Frachtbereich manchmal acht Stunden in ihrem Sprinter sitzen und darüber hinaus in Bereitschaft sind, um eine zusätzliche Tour zu ergattern. Manchmal werde dann eine Fahrt von Köln nach Frankfurt angeboten – gezahlt werden 100 Euro netto.«

Das alles – und darüber wird schon seit Jahren in den Medien immer wieder berichtet – ist kein Spezifikum nur für Deutschland, wie man für Österreich dem in der Wiener Zeitung erschienenen Beitrag „Für die „Paketsklaven“ dauert ein Arbeitstag bis zu 14 Stunden“ entnehmen kann. Es werden die gleichen Strukturen beschrieben, wie wir sie auch in Deutschland vorfinden:
Immer mehr Paketzusteller sind nicht angestellt, sondern arbeiten als Selbständige. »Um Transporte möglichst günstig anzubieten, werden Subfirmen beauftragt. Die Konstruktionen sind vielfach kompliziert: Die Paketfirmen beauftragen Subunternehmen, die für die Zustellung in einem Gebiet wiederum mit Subfirmen – vielfach Ein-Personen-Betrieben – zusammenarbeiten. Bezahlt werden die Selbständigen meist pro ausgeliefertes Paket oder pro Stopp.«

Und das folgende Zitat verdeutlicht die Zusammenhänge mit anderen sozialpolitischen Themen:
»Die Fluktuation in der Branche ist hoch, viele Migranten sind als Paketzusteller tätig. Eine Prüfung der Krankenkassen, wie viele Paketzusteller als Scheinselbständige anzusehen sind und angestellt werden müssten, würde das Problem wohl auch nicht lösen … Denn einige Zusteller wollen selbständig bleiben, weil sie keine Arbeitserlaubnis für Österreich besitzen.« Da wären wir ja fast schon beim nächsten spannenden Thema.