Inklusion – „vorerst“ gescheitert?

Am 26. März 2009 trat die UN-Behindertenrechtskonvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft. »Anfänglich war eine regelrechte „Inklusionseuphorie“ in den Bundesländern zu spüren: Alle sollten bald gemeinsam lernen, Förderschulen sollten aufgelöst werden. Doch mittlerweile hat sich der Wind gedreht«, so beispielsweise Claudia van Laak in ihrem Beitrag Deutschland und die Inklusion. Darin wird man sofort auf eine der typischen Verengungen der „Inklusionsdebatte“, die man in Deutschland zur Kenntnis nehmen muss, gestoßen: Wenn über „Inklusion“ gesprochen wird, dann war und ist die Debatte extrem „schullastig“. Es geht dann um die Frage einer Inklusion im Sinne einer Auflösung von „Sondereinrichtungen“ und der Eingliederung von Kindern und Jugendlichen in die „Regeleinrichtungen“ des Schulsystems. Das wurde in den vergangenen Jahren auch in diesem Blog immer wieder aufgerufen, vgl. beispielsweise den Beitrag Inklusion an Schulen: Von einer absoluten Armutserklärung für ein Land wie Deutschland bis zu nicht finanzierbaren Doppelbesetzungen vom 3. Mai 2017.

Nun wird der eine oder andere, der tatsächlich ein Blick in die UN-Konvention geworfen hat, irritiert anmerken, dass doch der Anspruch dieses Übereinkommens weit über den Schulbereich hinausreicht und Inklusion verstanden werden muss als eine umfassende und alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Gestaltung hin zu einer gelingenden Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Eine Engführung „nur“ auf den Bereich der Schulen kann man dem Dokument nicht entnehmen. Aber dennoch kreist genau um dieses Feld ein Großteil der bisherigen expliziten Inklusionsdebatten. 

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Die einen gehen nicht wählen, weil sie nicht wollen. Einige andere dürfen nicht wählen, auch wenn sie vielleicht (?) wollen. Der Ausschluss vom Wahlrecht für „dauerhaft Vollbetreute“

In wenigen Wochen wird ein neuer Bundestag gewählt. Also von denen, die das Wahlrecht haben und von diesem auch Gebrauch machen. Und die Auseinandersetzung mit denen, die zwar wählen dürfen, dies aber dennoch nicht machen, füllt ganze Bibliotheken. Immer wieder versuchen Sozialwissenschaftler, die Motive der Nichtwähler zu ergründen und darüber nachzudenken, wie man die Wahlbeteiligung steigern kann (vgl. nur als ein Beispiel die aktualisierte Fassung von Beate Küpper: Das Denken der Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Einstellungsmuster und politische Präferenzen, Berlin 2017).

Nun gibt es aber auch Menschen, die unter uns leben und die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Denen die Teilnahme an der Wahl also verboten wird. So etwas muss natürlich eine gesetzliche Grundlage haben und die findet man im § 13 Bundeswahlgesetz (BWG) unter der Überschrift „Ausschluss vom Wahlrecht. Dort werden drei Fallkonstellationen aufgelistet: »1. wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt, 2. derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Abs. 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Angelegenheiten nicht erfasst, 3. wer sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgesetzbuches in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet.«

Die erste Fallkonstellation greift beispielsweise bei Hochverrat, Landesverrat oder Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern – absolute Ausnahmefälle. Sie hat mit 69 Fällen keine Bedeutung. Die dritte Fallkonstellation umfasst die „schuldunfähigen Straftäter“, die in Psychiatrien untergebracht sind. Sie stellen mit 3.300 Fällen einen nur geringen Anteil von 3,9 Prozent der Personen, die gemäß § 13 BWG vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. Das waren 2015 insgesamt mehr als 84.000 Menschen. Die allermeisten fallen unter § 13 Nr. 2 BWG, gehören also zur Gruppe der „dauerhaft Vollbetreuten“. 

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Inklusion an Schulen: Von einer absoluten Armutserklärung für ein Land wie Deutschland bis zu nicht finanzierbaren Doppelbesetzungen

Auch das ist eine dieser Großbaustellen der Republik – die Inklusion in den Schulen. In den Kinos ist ein Dokumentarfilm unter dem Titel Ich.Du.Inklusion angelaufen. Der Filmemacher Thomas Binn hat  fast drei Jahre lang eine Grundschulklasse in dem kleinen Ort Uedem in Nordrhein-Westfalen begleitet, um zu zeigen, wie Inklusion abläuft. Er hat sich »bewusst eine Schule ausgesucht, die nicht in einem sozialen Brennpunkt liegt. Dann hätten am Ende alle Zuschauer gesagt: „Ist ja klar, dass Inklusion nicht klappt, weil es dort so viele Probleme gibt.“ Uedem ist „heile Welt“. Hier kommen fast alle Kinder aus der bürgerlichen Mitte, alle sprechen Deutsch, die Lehrer sind erfahren, kompetent und engagiert, die meisten Eltern wollen Inklusion«, so der Binn in einem Interview unter der Überschrift „Frau Hess kann das gar nicht schaffen“. Und dann das: »Das Erschreckende ist: Trotzdem scheitert die Umsetzung. Inklusion ist unter diesen Bedingungen nicht machbar: Es fehlt an Personal, Räumen, Material, Zeit – an allem.« Er hat in einem Bundesland gedreht, in dem nicht nur am 14. Mai 2017 ein neuer Landtag gewählt wird und das als bevölkerungsreichstes Bundesland mit vielen Problemen und einer schwierigen Finanzlage zu kämpfen hat. Das gemeinsame Leben und Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung hat sich die rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen auf die Fahnen geschrieben und 2013 im Landtag einen Rechtsanspruch für Kinder mit besonderem Förderbedarf an allgemeinen Schulen beschlossen. Da muss man dann auch mal genauer hinschauen. Ein anderes Gespräch mit ihm ist so überschrieben: „Eine absolute Armutserklärung für ein Land wie Deutschland“. »Es fehlt an allem, um Inklusion zu einem gelingenden Modell führen zu können. Und das ganz große Problem sind die Ressourcen, die personellen Ressourcen.« 

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Schwerbehinderte auf dem Arbeitsmarkt: Überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit, andererseits wird Inklusion in der Arbeitswelt (angeblich) immer alltäglicher

Wichtige Tage der Gesetzgebung liegen (nicht nur) hinter den Menschen mit Behinderungen, hat doch der Bundestag nunmehr ein Bundesteilhabegesetz verabschiedet, gegen dessen Entwurf es heftigen Widerstand aus den Reihen der Behindertenbewegung und der Sozialverbände gegeben hat. Im wahrsten Sinne des Wortes bis zum letzten Moment wurde hier um  Änderungen gerungen, offensichtlich mit Erfolg: »Nach Protesten bessert die Koalition das Behindertenrecht nach«, berichtet Thomas Öchsner in seinem Artikel Des Zornes Wirkung, obgleich die immer noch nicht ausreichen, um alle Kritiker zu besänftigen: »In 68 Punkten hat die Koalition das Bundesteilhabegesetz kurz vor knapp geändert. Die Macher sind zufrieden, Verbände auch. Andere sagen: „Der Kampf geht weiter.“«, kann man diesem Bericht entnehmen:  68 Mal geändert, trotzdem noch Kritik. Aber um die Tiefen und Untiefen des Bundesteilhabesetzes soll es in diesem Beitrag gar nicht gehen, sondern um einen wichtigen Teilaspekt der Lebenslage von Menschen mit Behinderungen: ihrer Teilhabe am Arbeitsmarkt. Oder spiegelbildlich ihrer Exklusion. Womit wir natürlich auch wieder bei der Inklusion wären, deren Umsetzung ja eines der Ziele des nunmehr zumindest im Bundestag verabschiedeten Bundesteilhabesetzes sein soll. Und das hat seinen Vorlauf gehabt. Eine wichtiges Datum in diesem Zusammenhang ist sicher der 13. Dezember 2006. Vor zehn Jahren haben die Vereinten Nationen die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet. Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention sieht ein gleiches Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderung vor. Deutschland hat die UN-BRK 2009 unterzeichnet und sich damit zur schrittweisen Umsetzung der Forderungen verpflichtet.

Vor diesem Hintergrund hat der DGB eine Bestandsaufnahme zu diesem wichtigen Teilaspekt der Inklusion veröffentlicht: 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention: Wie ist der Umsetzungsstand am deutschen Arbeitsmarkt?. Der DGB beklagt darin, dass wir es mit einer dauerhaft überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen zu tun haben, die Arbeitslosenquote der schwerbehinderten Menschen lag 2015 bei 13,4 Prozent, die vergleichbare allgemeine Arbeitslosenquote betrug 8,2 Prozent. Und mit einem Blick über die vergangenen Jahre muss festgehalten werden: Die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen ist langsamer gesunken als die allgemeine Arbeitslosigkeit. Der Abstand zwischen beiden Gruppen hat sich seit 2009 sogar deutlich vergrößert.

Auch mit Blick auf die arbeitsmarktpolitischen Fördermaßnahmen können keine schönen Bilder gemalt werden, ganz im Gegenteil, denn auch die schwerbehinderten Menschen haben die massiven Einschnitte der Bundesregierung in die Arbeitsmarktpolitik zu spüren bekommen: Während die Zahl der Arbeitslosen 2015 im Vergleich zu 2009 um 18 Prozent gesunken ist, ging die Zahl der Teilnehmenden in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen mit 46 Prozent jedoch weitaus stärker zurück. Und bei den Schwerbehinderten sehen die Werte so aus: Die Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen ist entgegen dem Trend sogar gestiegen (um 6 Prozent) – und auch bei den Maßnahmen für schwerbehinderte Menschen gab es 34 Prozent weniger Teilnehmende als in 2010. »Schwerbehinderte Menschen sind durch die Kürzungen der Bundesregierung damit sogar stärker betroffen«, so das Fazit des DGB.

Und dann wird auch dieser Posten nicht mehr überraschen – eine überdurchschnittliche Betroffenheit von Langzeitarbeitslosigkeit: In allen Altersgruppen sind prozentual mehr Schwerbehinderte länger als 12 Monate arbeitslos als nicht Schwerbehinderte.

Nach so viel doch mehr als ernüchternden Zahlen aus der Arbeitsmarktstatistik ist man auf der Suche nach positiven Botschaften. Und man stößt parallel zur Veröffentlichung der DGB-Analyse auf das Inklusionsbarometer Arbeit 2016: »Das vierte Inklusionsbarometer Arbeit bringt gute Nachrichten: In der Arbeitswelt wird Inklusion immer alltäglicher.« Das hört sich vierersprechend an, ist das doch mit so einem Untertitel versehen: „Ein Instrument zur Messung von Fortschritten bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem deutschen Arbeitsmarkt“. Also schauen wir uns das genauer an:

Aktion Mensch: Inklusionsbarometer Arbeit. Ein Instrument zur Messung von Fortschritten bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. 4. Jahrgang (2016), Bonn 2016

Also genau genommen ist die Aktion Mensch Herausgeberin, erstellt wird das Inklusionsbaromter Arbeit vom Handelsblatt Research Institute, einem „Geschäftsfeld der Verlagsgruppe Handelsblatt“. Präsident des Instituts ist der umtriebige Bert Rürup, der ehemalige Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und des Sozialbeirats der Bundesregierung.

Zum Instrumentarium des Inklusionsbarometers muss man wissen, dass es neben der Auswertung amtlicher Statistiken zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen auf Umfrageergebnissen basiert:

»Seit 2013 führt das Handelsblatt Research Institute in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa jährlich eine bundesweite, repräsentative Umfrage im Auftrag der Aktion Mensch durch. Für das aktuelle Inklusionsbarometer 2016 hat Forsa 804 berufstätige Arbeitnehmer mit Behinderung zur Arbeitsmarktsituation und zu ihren Erfahrungen in der Arbeitswelt befragt sowie 500 Personalverantwortliche in Unternehmen mit mindestens 20 Mitarbeitern, die Menschen mit Behinderung beschäftigen.«

Das „Inklusionsbarometer Arbeit“ ist offensichtlich mit den beiden Komponenten Lage und Klima in Anlehnung an die Konjunktunkturindikatoren von ifo und ZEW konstruiert worden.
Während das Inklusionslagebarometer auf der Auswertung amtlicher Statistiken basiert, werden die Werte für das Inklusionsklimabarometer aus den Umfragedaten bei den Unternehmen und den Arbeitnehmern abgeleitet.

Hinsichtlich der Lage »bleibt das Resultat teilweise unbefriedigend – trotz eines steigenden Beschäftigungsgrads und wieder sinkender Arbeitslosigkeit. Es gelingt zwar, eine immer größere Zahl von erwerbsfähigen und arbeitswilligen Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, aber nicht im gleichen Maße und nicht mit der gleichen Geschwindigkeit wie bei den Beschäftigten ohne Einschränkung. Im Gegenteil: Bei Langzeitarbeitslosen verlangsamt sich dieser Aufholprozess sogar. Der positive Impuls ist zwar spürbar, er könnte aber wesentlich stärker ausgeprägt sein.« (S. 14)

Hinsichtlich des Klimas gibt es die meiste Bewegung, die man allerdings differenziert sehen muss:
»Das Inklusionsklimabarometer erreicht in diesem Jahr einen Gesamtwert von 37,1. Damit hat sich das Arbeitsmarktklima für Menschen mit Behinderung gegenüber dem Vorjahr spürbar verbessert (34,1). Dabei ist die Entwicklung durchaus gegenläufig: Die Stimmung unter den Arbeitnehmern hat sich mit einem Wert von 38,7 im Vergleich zum Vorjahr (40,4) erneut leicht verschlechtert. Demgegenüber hat sich das Inklusionsklima bei den Unternehmen dramatisch verbessert von 27,8 auf 35,5.«

Vor diesem Hintergrund kann man dann vielleicht auch die folgenden Zusammenfassung auf der Website von Aktion Mensch etwas distanzierter lesen bzw. besser einordnen:

»Der Gesamtwert des „Barometers“ von 106,7 ist der beste, den es bisher gab (im vergangenen Jahr lag er bei 101,2). Grund für die Verbesserung ist, dass die Unternehmen das Thema Inklusion positiver einschätzen (von 27,8 auf 35,5). Das gefühlte Inklusions-Klima bei den Menschen mit Behinderung selbst ist hingegen leicht gesunken (von 40,4 auf 38,7). Gut zu wissen: Von einem positiven Inklusionsklima kann man erst ab dem Schwellenwert von 50 sprechen.«

Das Inklusionsbarometer Arbeit 2016 hat sich zugleich mit einem speziellen Thema beschäftigt, das im Jahr 2016 in allen Arbeitsmarktdebatten auftaucht: Digitalisierung. Von den rund 800 befragten Arbeitnehmern mit Behinderung haben 70 Prozent angegeben, dass die Veränderungen zum „Arbeitsplatz 4.0“ positiv zu sehen seien. Mit dem Digitalisierungsschwerpunkt befasst sich beispielsweise auch der Artikel Wie Digitalisierung Jobs für Behinderte schaffen kann von Nina Giaramita. Sie beginnt ihren Beitrag mit einem beeindruckenden Beispiel der positiven Art, weil sie sich eine besonders schwere Beeinträchtigung herausgesucht hat: »Zwei Finger und ihre Gesichtsmuskeln kann Claudia Brandt noch bewegen. Die Bonnerin ist seit ihrer Kindheit an Spinaler Muskelatrophie erkrankt. Die Erkrankung schränkt die Bewegungsfähigkeit der 48-Jährigen zunehmend ein. Trotz ihres Handicaps steht Claudia Brandt jedoch voll im Berufsleben. Sie arbeitet 30 Stunden die Woche für ein medizinisches Institut – unter anderem lektoriert sie Texte und unterstützt die Internet-Redaktion der Einrichtung.« Dabei profitiert sie von der Digitalisierung. Aber Nina Giaramita leuchtet auch die andere Seite der Medaille an, am Beispiel der ebenfalls an Spinaler Muskelatrophie erkrankte Zwillingsschwester von Claudia Brandt. »Die Diplom-Psychologin Ilona Brandt sucht seit vier Jahren nach einer neuen Stelle. Zuletzt arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer Klinik in Oberhausen. Nach zwei Jahren erfolgreicher Beschäftigung ging es jedoch für Ilona Brandt nicht weiter.« Seitdem hängt sie in der Langzeitarbeitslosigkeit fest.

Schauen wir am Ende dieses Beitrags wieder zurück zum DGB und seiner Bestandsaufnahme der Arbeitsmarktsituation schwerbehinderter Menschen. Gibt es dort Lösungsansätze für die weiterhin offensichtliche schwierige Lage vieler schwerbehinderter Arbeitsloser?

Unter der Überschrift „Bessere Betreuung notwendig: Initiative von DGB und BDA“ führt der DGB (2016: 4) aus:

»Menschen mit einer Behinderung können durch spezielle Reha-Maßnahmen gefördert werden, wie bspw. eine Umschulung, wenn der alte Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausgeübt werden kann oder eine behindertenspezifische Ausbildung bei Jugendlichen. Diese Rehabilitation ist für die Integration in den Arbeitsmarkt notwendig. Für Menschen, die im Hartz IV-System betreut werden, ist die Wahrscheinlichkeit eine Rehabilitations-Maßnahme zu erhalten, deutlich geringer als in der Arbeitslosenversicherung.
In den Jobcentern gibt es keinen eigenen Topf für Rehabilitation. Die Maßnahmen müssen aus dem – ohnehin schon knappen – Eingliederungstitel finanziert werden. Vor allem kleiner Jobcenter stoßen so schnell an ihre finanziellen Grenzen. Zur Betreuung dieser sogenannten Rehabilitanden (Menschen mit Behinderung) halten die Arbeitsagenturen spezielle Vermittler-Teams vor. Bei den Jobcentern, die für die Betreuung der Langzeitarbeitslosen zuständig sind, gibt es solche Teams jedoch nicht immer. Das hat zur Folge, dass Reha-Bedarf nicht immer erkannt wird. Aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel bei den Jobcentern wird er teilweise auch nicht anerkannt. Von allen Rehabilitanden in der Grundsicherung befanden sich im Juli 2016 nur 18 Prozent in Maßnahmen, bei den Rehabilitanden der Arbeitsagenturen dagegen 73 Prozent.«

Man ahnt schon, welcher Stoßrichtung der Lösungsvorschlag haben muss: »Zusammen mit den Arbeitgebern hat der DGB deshalb eine Initiative im Verwaltungsrat der BA gestartet, mit dem Ziel die Betreuung aller Rehabilitanden bei den Arbeitsagenturen anzusiedeln. Dies hat den Vorteil, dass behinderte Menschen in jedem Fall durch spezialisierte Fachkräfte beraten würden und tatsächlich behindertenspezifische Förderung erhielten.« Bestandteil des Arbeitgeber-Gewerkschafts-Vorstoßes ist auch, dass die Kosten (für fünf Jahre) von der Arbeitslosenversicherung übernommen werden, deren Kasse derzeit ja mehr als gut gefüllt ist. Eigentlich muss die Finanzierung für Hartz IV-Empfänger aus Steuermittel erfolgen – an dieser Stelle werden wir mit einem (ansonsten immer lauthals kritisierten) Verschiebebahnhof zwischen Steuer- und Beitragsfinanzierung konfrontiert, zugunsten einer Entlastung der Steuerkasse. Genau das hat der Gesetzgeber jetzt auch schon aufgegriffen. Das wird jetzt umgesetzt.

Raus aus der Fürsorge – aber rein in was? Das geplante Bundesteilhabegesetz und die technokratische Stückelung der Behinderung

Es geht um viele Menschen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten 7,6 Millionen schwerbehinderte Menschen (also Menschen, denen ein Grad der Behinderung von 50 und mehr zuerkannt wurde) am Jahresende 2015 in Deutschland. Das waren 9,3 Prozent der Bevölkerung. Am 7. November 2016 wird es im Deutschen Bundestag eine Anhörung geben zum geplanten Bundesteilhabegesetz. Der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) der Bundesregierung liegt vor (BT-Drs. 18/9522 vom 05.09.2016). Mit dem Bundesteilhabegesetz soll die Behindertenpolitik im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention weiterentwickelt werden. Die UN-Konvention wurde von Deutschland 2008 ratifiziert und fordert die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben. Sie definiert Inklusion als ein Menschenrecht.

Unter der vielversprechenden Überschrift Raus aus der Fürsorge wird uns in Aussicht gestellt: »Schwerpunkt des Gesetzes ist die Neufassung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX). Eine wesentliche Änderung hier: Die Eingliederungshilfe (Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe) wird aus dem „Fürsorgesystem“ der Sozialhilfe herausgeführt und in das neu gefasste SGB IX integriert. Das SGB IX wird dadurch zu einem Leistungsgesetz aufgewertet.« Das klingt modern, Fürsorge hingegen irgendwie verstaubt und nach Gnadenbrot. Aber zwischen Semantik und Realität liegen oftmals Welten – und immer öfter beschleicht einen das Gefühl, man sollte Begriffe wie Fürsorge lieber wieder reaktivieren statt sie technokratisch zu „modernisieren“, auch so ein gesichts- und prima facie inhaltsleerer Terminus. Dazu ein Beispiel.

Die Bundesregierung spricht von einem „kompletten Systemwechsel“, der mit dem BTHG vollzogen werden soll – alte Hasen der Sozialpolitik wissen, dass das nicht ohne Opfer abgehen kann und wird.

Greifen wir uns einen Bereich heraus. In dem Artikel Raus aus der Fürsorge kann man diese vielversprechende Botschaft lesen: »Erstmals wird die Teilhabe an Bildung als eine eigene Reha-Leistung anerkannt. Damit werden Assistenzleistungen für höhere Studienabschlüsse oder auch eine Promotion ermöglicht.«
Das wäre doch ein echter Fortschritt, wenn es denn so werden wird.

Kommen wir zugleich zu einem genau so echten Rückschritt, der einhergehen würde mit einer vorgesehenen Regelung im BTHG und der nun zu Recht heftig kritisiert wird: Unter der Überschrift Nicht behindert genug fürs Studium greift Ottmar Miles-Paul eine echte Verschlechterung auf. Er bezieht sich dabei auf den Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV). Mises-Paul hatte bereits am 30.09.2016 unter der Überschrift Behinderten Studierenden droht Exklusion statt Inklusion den Sachverhalt angesprochen, dabei auf die Stellungnahme des Deutschen Studentenwerks zum Entwurf des Bundesteilhabegesetzes seitens Bezug genommen:
»Das Bundesteilhabegesetz ist eigentlich angetreten, um mehr Teilhabe für behinderte Menschen zu ermöglichen. Stattdessen soll nun sehbehinderten Menschen Unterstützung verweigert werden.« Wie das? Miles-Paul zitiert die DBSV-Präsidentin Renate Reymann:

„Im Moment haben sehbehinderte Menschen mit einem Sehvermögen von bis zu 30 Prozent grundsätzlich Anspruch auf Eingliederungshilfe, sie dürfen also beispielsweise Hilfsmittel oder Vorlesekräfte fürs Studium beantragen. Der Gesetzentwurf des Teilhabegesetzes sieht jedoch vor, dass nur noch derjenige Leistungen erhält, der eine sogenannte ‚erhebliche Teilhabeeinschränkung‘ hat. Bevor über den eigentlichen Antrag auf Eingliederungshilfe entschieden wird, ist erst einmal der Nachweis zu erbringen, dass man in mindestens fünf von neun Lebensbereichen nicht allein zurechtkommt, also auf ständige personelle oder technische Hilfe angewiesen ist. Zu den Lebensbereichen gehören unter anderem Selbstversorgung (Waschen, Anziehen, Essen etc.), häusliches Leben (Einkaufen oder Wohnung putzen), Mobilität und die Pflege der Beziehungen zu anderen Menschen. Viele sehbehinderte Menschen fallen damit aus dem System.“

Und wer das ganz konkret illustriert haben möchte, wie die Verschlechterung in der Lebensrealität eines Menschen aussehen würde, für den wird Sebastian T. als Beispiel genannt:

Der 24-jährige hat ein Sehvermögen von 20 bis 25 Prozent und studiert technische Informatik. Wegen seiner Sehbehinderung wird ihm eine Studienassistenz finanziert, die beispielsweise in Vorlesungen erklärt, was an die Wand projiziert wird. Ohne Assistenz wäre es ihm unmöglich, dem Unterricht zu folgen. Sein Problem: „Im Alltag komme ich gut zurecht. Ständige Unterstützung brauche ich ausschließlich im Studium – und nicht etwa in vier weiteren Bereichen, wie es in den Regelungen des neuen Bundesteilhabegesetzes vorgesehen ist, um Unterstützung zu erhalten. Das bedeutet, ich müsste meine Assistenz, wenn das Gesetz unverändert in Kraft tritt, selbst bezahlen, weil ich dann nicht mehr als ‚behindert genug‘ angesehen würde. Von den 450 Euro BAföG, die mir im Monat zur Verfügung stehen, könnte ich mir das nicht leisten.“

Das kann und darf am Ende des Gesetzgebungsprozesses nicht herauskommen. Aber das schreibt sich leichter als es getan werden kann, denn dem Bundesteilhabegesetz liegt ein unlösbares Dilemma zugrunde: Es soll Verbesserungen bringen, die Inklusive vorantreiben, zugleich aber soll es „aufkommensneutral“ umgesetzt werden, also unterm Strich nicht mehr kosten. Viel Spaß bei dieser Übung.

Zugleich kann man an diesem einen Beispiel aus der realen Welt der Beeinträchtigungen erkennen, dass der so modern daherkommende technokratische Zugriff auf das, was die Betroffenen brauchen und was man ihnen zugesteht, eine sehr unangenehme, exkludierende Seite hat (und haben muss, um das in die eigenen Sortierschablonen pressen zu können). Vielleicht sollte man über die warme Seite von Fürsorge nochmal nachdenken.

Auch Alexander Drewes aus dem Kompetenzzentrums Selbstbestimmt Leben Düsseldorf hat in einem Blog-Beitrag unter der Überschrift Weshalb darf der Entwurf des Bundesteilhabegesetzes in der jetzigen Form auf keinen Fall Gesetz werden? vom 22.09.2016 diesen kritischen Aspekt aufgegriffen:

Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes (BTHG-E) will das aus dem Fürsorgerecht der 1920er Jahre stammende Prinzip der Eingliederungshilfe komplett auf neue Füße stellen. Sowohl der Gesetzestext als auch die Begründung klingen in großen Teilen „modern“, in Wahrheit sind sie es aber nicht, so Drewes.

Langjährig tradierte Prinzipien werden, sofern sie zugunsten behinderter Menschen gewirkt haben, einfach „über Bord geworfen“.

So soll ein neuer Grundsatz etabliert werden, der die Hilfe zur Pflege im Rang vor die Eingliederungshilfe setzt.

Das hat Folgen bei der Einkommens- und Vermögensanrechnung:
»Menschen, die Einkünfte erzielen und „nur“ Eingliederungshilfe beziehen, werden nunmehr ein bisschen weniger arm gemacht als bislang. Menschen, die auf Hilfe zur Pflege angewiesen sind, werden genau so arm belassen, wie das schon heute der Fall ist.« Schon das stellt eine evidente Ungleichbehandlung eines dem Grunde nach gleichen Sachverhaltes dar. Das ist nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz einfach verfassungswidrig, so der Jurist Drewes.
»Die Bundesregierung kann auch nicht erklären, weshalb sie in Zukunft Leistungen „poolen“ will. Beim „Pooling“ ist angedacht, dass mehrere Leistungsbezieher einen identischen Leistungserbringer teilweise oder sogar zur gleichen Zeit nutzen.

Die Erklärung kann auch hier ausschließlich eine fiskalpolitische sein … Wie sich mehrere Nutzer zur gleichen Zeit ein und dieselbe Assistenzkraft teilen können sollen, wenn sie gleichzeitig – ggf. sogar differente – Bedarfe haben, auch das bleibt das Geheimnis des Gesetzentwurfs der Bundesregierung.«
Auch Drewes kritisiert massiv die im Gesetzentwurf geplante „5 von 9“-Voraussetzung, also »dass wenigstens aus fünf von neun Bereichen die Notwendigkeit der konkreten Hilfestellung bei der Teilhabe nachgewiesen werden muss (sofern Assistenzleistungen benötigt werden, immer noch aus drei von neun). Das hebelt den Bedarfsdeckungsgrundsatz weitgehend aus, weil viele Menschen zwar hohe Bedarfe an Hilfen haben, diese aber häufig nicht in fünf von den neun Bereichen, die der Gesetzgeber nennt.«

Und dann bringt er das in diesem Beitrag angesprochene Dilemma auf den Punkt:

»Bei Durchsetzung des vorliegenden Entwurfes werden fundamentale Prinzipien des Rechts der Eingliederungshilfe wie der Bedarfsdeckungsgrundsatz durchbrochen und ein Individualisierungsgrundsatz etabliert, der nicht individuell, sondern modular vorgeht.«

Man sollte sich bewusst machen, was das bedeuten wird.

Abbildung: BMAS (2016): Maßnahmen und Ziele des Bundesteilhabesetzes