Die EU zwischen Personenfreizügigkeit und Wohlstandsgefälle. Europäische und deutsche Regulierungsversuche bei der sozialen Sicherheit

Man braucht gar nicht nach Großbritannien schauen, wenn es um die konfliktauslösende Dimension einer der vier Grundfreiheiten innerhalb der EU geht –  neben dem freien Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital gibt es die Personenfreizügigkeit. Deren Beschränkung aufgrund tatsächlicher oder nur vermuteter „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ war ein ganz entscheidender Antreiber für die Brexit-Befürworter. Das ist aber in anderen Mitgliedsstaaten der EU auch so.

In Deutschland wird der Topos von der „Armutszuwanderung“ oder dem „Missbrauch“ der höheren Sozialleistungen dich Zuwanderer aus ärmeren EU-Staaten seit Jahren durch die politische Arena gejagt. Immer wieder wird dann bei uns von „den“ Rumänen oder „den“ Bulgaren gesprochen, deren Migration in „das“ reiche Deutschland als Problem ausgemalt wird. Frontrunner in dieser Debatte war immer schon Hans-Werner Sinn, der mittlerweile ehemalige Chef des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München. So kann man nur als Beispiel von vielen dem folgenden Artikel über einen öffentlichen Auftritt von Sinn im badischen Freiburg entnehmen: »Auf die EU-Bürger bezogen sollten rumänische Zuwanderer nur Sozialleistungen in der Höhe ihres Heimatlandes erhalten oder bis zu der Grenze, wie sie in Deutschland Steuern gezahlt haben. Das solle dem „Sozialtourismus“ bremsen. Tatsächlich beziehen in dieser Region die meisten Zuwanderer aus Rumänien, die Hartz IV kriegen, diese Sozialleistung zusätzlich zu einem Erwerbseinkommen – weil ihre Löhne niedrig sind und Kinder mitzuversorgen sind.« So  Ronny Gert Bürckholdt in Ökonom Hans-Werner Sinn betont seine nationalliberalen Positionen. Sinn taucht immer wieder mit seinen Positionen in der Debatte auf und auch die Kritiker arbeiten sich gerne an seinen Thesen ab.

So beispielsweise Oliviero Angeli, der Politische Theorie an der Technischen Universität Dresden lehrt und vor allem zu den Themen Einwanderung und Integration forscht. In seinem Artikel  Die sechs großen Irrtümer in der Migrationsdebatte rekurriert er direkt auf Sinn, in dem er unter dem Punkt „Irrtum Nr. 5: Die Einwanderer kommen wegen des Kindergeldes und anderer Sozialleistungen hierher“ schreibt:

»“Wenn Migranten nur erschwert oder nach längerer Verzögerung Zugang zum steuerfinanzierten Sozialsystem erhalten, ist der Anreiz zu kommen unter den gering Qualifizierten sicherlich geringer.“ Das Zitat stammt vom Ökonomen und ehemaligen Ifo-Chef Hans-Werner Sinn („FAZ“ vom 3.1.2015). Es suggeriert, dass gering Qualifizierte ungern in Länder einwandern, in denen sie keine Sozialleistungen erhalten. So zu denken ist weit verbreitet – und trotzdem grundfalsch. Für die meisten Einwanderer ist vor allem eines wichtig: höhere Löhne.«

Die Frage des Kindergeldbezugs für EU-Ausländer, die in Deutschland arbeiten, deren Kinder aber in ihrem Heimatland verblieben sind, ist ja gerade in Deutschland ein heftig diskutiertes Thema – vgl. dazu den Beitrag Kein deutsches Kindergeld mehr für EU-Ausländer, die hier und deren Kinder dort sind? Zur Ambivalenz einer (nicht-)populistischen Forderung vom 19. Dezember 2016.

Aber es geht um weit mehr als um das Kindergeld. Sozialhilfen für Zuwanderer müssen abgebaut werden, fordert der Chefvolkswirt des Finanzministeriums, Ludger Schuknecht, in einem Gastbeitrag für die FAZ unter der Überschrift Fehlanreize für EU-Zuwanderer. Er benennt die Ambivalenz der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU so:

»Ohne Handwerker aus Osteuropa, den berühmten „Polish plumber“, würde man nicht nur in England häufig kaum so gemütlich wohnen.Auf der anderen Seite klagen viele Menschen über die Herausforderungen, die sich eben auch aus der großen Zahl von Menschen ergibt, die die Freizügigkeit in Europa nutzen. Zuwanderung trifft auf einen Mangel an preiswertem Wohnraum, auf unvorbereitete Schulen und Gesundheitssysteme und auf Bürger, die die Konkurrenz im Arbeitsmarkt spüren, vor allem die gering Qualifizierten. Dann heißt es rasch vereinfachend, die Freizügigkeit sei schuld.«

Dann kommt Schiknecht zum Punkt: » In Deutschland wie auch anderswo wird die Zuwanderung erheblich subventioniert. Das schafft Fehlanreize. Darüber muss man sachlich diskutieren. In Deutschland sind die Leistungen aus Hartz IV höher als der durchschnittliche Verdienst in vielen europäischen Ländern. Bei Zuwanderern von außerhalb der EU ist das Missverhältnis oft noch viel größer. Zuwanderer sind „Unternehmer“, die ihr Leben verbessern wollen. Sie nutzen die Chancen, die sich bieten.« Im geht es darum „die Fehlanreize durch subventionsgetriebene Zuwanderung“ zu verringern. Wie man das schaffen könnte?

»Für Zuwanderer aus der EU würde bei Sozialleistungen wie Hartz IV für fünf Jahre eine Art „Heimatlandprinzip“ gelten, wobei der Bedarf dann nicht in Deutschland, sondern zu Hause angemeldet werden müsste.«

Für den Sozialpolitiker ist dieser Ansatz nun wirklich nichts Neues – das „Territorialprinzip“ hat das mittelalterliche Armenwesen dominiert (praktisch dann in der Überlebensökonomie der Menschen „ergänzt“ um die Bettelei aufgrund der ausschließenden Effekte des Prinzips).

Nun muss man sich klar machen, worin der radikale Schritt bestehen würde, wenn man dem Vorschlag folgend vorgehen würde: Es geht hier offensichtlich auch um Ansprüche für EU-Zuwanderer in einem Mitgliedsstaat, die dort arbeiten, nicht nur – das war und ist der bisherige Fokus der Debatte und auch der aktuellen Gesetzgebung – um Zuwanderer, die gar keiner Erwerbstätigkeit nachgehen oder einwandern, um eine Arbeit zu suchen, aber über keine Existenzsicherung verfügen. Es ist wichtig, diese beiden Ebenen erst einmal auseinanderzuhalten, obgleich sie natürlich miteinander verbunden sind.

Im Mittelpunkt der Personenfreizügigkeitsregelung einer EU, die entstanden ist aus einer Wirtschaftsgemeinschaft und immer noch einen klaren Schwerpunkt darauf hat, steht die Arbeitnehmer-Freizügigkeit. Nunmehr versucht die EU-Kommission zu reagieren auf die immer stärker werdenden Vorbehalte in einzelnen Mitgliedsstaaten und sie bemüht sich, Aktivitäten gegen einen „Sozialmissbrauch“ zu demonstrieren, um Druck aus dem Kessel zu nehmen.
In diesem Kontext hat sie nun Vorschläge für regulatorische Änderungen vorgelegt, die man diesem Verordnungsungetüm entnehmen kann:

European Commission: Proposal for a REGULATION OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL amending Regulation (EC) No 883/2004 on the coordination of social security systems and regulation (EC) No 987/2009 laying down the procedure for implementing Regulation (EC) No 883/2004 (Text with relevance for the EEA and Switzerland). COM(2016) 815 final 2016/0397 (COD), Strasbourg, 13.12.2016

Das liest sich aus so wie es aussieht. Die Kommission hat dazu am 14.12.2016 diese Pressmitteilung begleitend veröffentlicht: Arbeiten im Ausland: Kommission will Regeln zur sozialen Sicherheit fair und gerecht gestalten. Die Kerninhalte der Vorschläge der Kommission:

»Danach können die Mitgliedstaaten künftig festlegen, dass ausländische EU-Bürger erst dann Anspruch auf Arbeitslosengeld des betreffenden Landes haben, wenn sie dort mindestens drei Monate gearbeitet haben.  Arbeitssuchende sollen künftig ihre Arbeitslosenleistungen für mindestens sechs Monate exportieren können – statt der bisher geltenden  drei Monate.«

Offensichtlich glaubt man dadurch, dieses ambitionierte Dreier-Ziel erreichen zu können: „Die Freizügigkeit wird gewahrt, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger werden geschützt und gleichzeitig die Instrumente gegen potenziellen Missbrauch gestärkt“, so wird die Sozialkommissarin Marianne Thyssen zitiert.
»Laut EU-Kommission hatten zuletzt 42 Prozent der EU-Ausländer, die Arbeitslosenunterstützung erhielten, weniger als drei Monate im Zielland gearbeitet. Wer künftig wegen zu kurzer Arbeitsdauer keinen Anspruch mehr auf das häufig höhere Arbeitslosengeld des Ziellandes hat, erhält die Arbeitslosenunterstützung aus seinem Heimatland«, so Christoph B. Schiltz in seinem Artikel So will Brüssel jetzt den Sozialmissbrauch bekämpfen.

Die Kommission äußert sich auch explizit zu diesem Punkt, der angesprochenen zweiten Ebene:  Zugang nicht Erwerbstätiger zu Sozialleistungen. Hier sind die Vorgaben deutlich restriktiver:

»Ausgehend von der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union wird im Vorschlag geklärt, dass die Mitgliedstaaten beschließen können, mobilen Personen, die nicht erwerbstätig sind – die also weder arbeiten, noch aktiv Arbeit suchen und sich nicht legal im betreffenden Mitgliedstaat aufhalten – keine Sozialleistungen zu gewähren. Nicht erwerbstätige Bürger/innen dürfen sich nur dann legal in einem Mitgliedstaat aufhalten, wenn sie über ausreichende Existenzmittel verfügen und umfassend krankenversichert sind.«

Das nun leitet über zur aktuellen Gesetzgebung in Deutschland. Denn dort ist man in diesem Bereich – aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber: Der EuGH gegen Sozialleistungen für EU-Bürger in anderen EU-Staaten, das BSG teilweise dafür, andere Sozialgerichte gegen das BSG vom 25. Februar 2016) – tätig geworden. Letztendlich handelt es sich um eine Korrektur der vorliegenden Rechtsprechung des BSG, deren Problem für den Gesetzgeber darin besteht, dass das BSG den Betroffenen, die rechtskonform von SGB II-Leistungen ausgeschlossen werden können, Leistungen nach dem SGB XII im Ermessenswege zugesprochen hat. Bei einem verfestigten Aufenthalt, den das BSG im Regelfall nach sechs Monaten annimmt, soll das Ermessen jedoch auf null reduziert sein, so dass für die Betroffenen so gut wie immer ein Anspruch besteht. Dieses „Schlupfloch“ hat man geschlossen.

Dazu hat die Bundesregierung dieses mittlerweile auch verabschiedete Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg gebracht:

Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, BT-Drs. 18/10211 vom 07.11.2016) sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales, BT-Drs. 18/10518 vom 30.11.2016.

Und wie sieht nun die in Berlin gefundene Lösung des Problems aus? Dazu aus dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 18/10211 vom 07.11.2016):

»Die Leistungsausschlüsse im SGB II werden ergänzt und es wird klargestellt, dass Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht aus dem Freizügigkeitsgesetz/EU ebenso wie Personen, die sich mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, sowie Personen, die ihr Aufenthaltsrecht nur aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ableiten, von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind. Für Personen, die als Arbeitnehmer, Selbständige oder aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen, erfolgt keine Änderung, sie sind weiterhin (ergänzend) leistungsberechtigt. Im SGB XII werden die Leistungsausschlüsse denjenigen im SGB II angepasst. Daneben wird im SGB XII ein Anspruch für einen Zeitraum von einem Monat geschaffen, mit der Möglichkeit, darlehensweise die Kosten für ein Rückfahrticket zu übernehmen. Außerdem wird im SGB II und im SGB XII ein Leistungsanspruch nach eingetretener Verfestigung des Aufenthaltes geschaffen, die nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland angenommen wird. Diese Leistungen erfolgen dabei über die unionsrechtlichen Vorgaben hinaus.«

Alles klar? Man kann das so zusammenfassen: Mit dem Gesetzentwurf ändert sich (vorerst, also durch diese Gesetzesänderungen) nichts für die Fälle, wo jemand hier erwerbstätig war/ist und daraus Leistungsansprüche, beispielsweise aufstockende Grundsicherungsleistungen, ableiten kann. Es geht um die anderen Fälle, bei denen das BSG wie erwähnt nach sechs Monaten „verfestigten“ Aufenthalt einen Sozialhilfeanspruch statuiert hat – eine Entscheidung, die übrigens nicht nur aus den Reihen der Sozialgerichte heftig kritisiert wurde („verfassungsrechtlich nicht haltbar“ beispielsweise seitens des Berliner Sozialgerichts), sondern die auch logisch eine Menge Fragezeichen in den Raum gestellt hat (vgl. dazu den Beitrag Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII vom 6. Dezember 2015).

Die meisten Akteure im politischen Raum unterstützen diese Regelung der Bundesregierung, nur wenige kritische Stimmen waren in diesem Zusammenhang zu vernehmen. Stellvertretend für die Gruppe der Kritiker sei auf die Stellungnahme der Neuen Richtervereinigung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung verwiesen. Nach deren Auffassung verstoßen die geplanten Regelungen gegen Unionsrecht und gegen das Grundgesetz. »Schwerer als dieser verfassungs- und unionsrechtliche Befund wiegen die zu prognostizierenden Auswirkungen auf unsere Verfassungsrealität. Die Entscheidung, unerwünschten Unionsbürger_innen für eine sehr lange Zeit das soziale Existenzminimum zu verweigern widerspricht den Geboten der Mitmenschlichkeit.« Darüber hinaus werde das Gesetz neue Rechtsunsicherheit schaffen. Dabei wird in der Stellungnahme vermutet, dass es Widerstände geben wird in den sozialgerichtlichen Instanzen dergestalt, »dass die Gewährung minimaler Sozialleistungen an alle längerfristig hier lebenden Menschen nicht nur moralisch, sondern auch verfassungsrechtlich geboten ist.  Entsprechend werden viele Sozial- und Landessozialgerichte im Rahmen von Eilverfahren wie bisher Leistungen gewähren, bis eine erneute Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und eine erstmalige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage vorliegen.«

Und die Neue Richtervereinigung spricht die eigentliche Zielgruppe des Gesetzes an: »Das Gesetz wendet sich vorwiegend gegen Sinti und Roma aus Rumänien und Bulgarien, deren Anwesenheit in unreflektierter Tradition als besonders unerwünscht gilt. Die Situation dieser Menschen ihren Herkunftsländern ist vielfach von einem so krassen Elend geprägt, dass es nicht gelingen wird, ihre Lage in Deutschland im Vergleich dazu schlechter zu gestalten.« Und: »Schwerer Schaden droht dem Arbeits- und Sozialrecht. Die Regelung schafft eine Gruppe moderner Sklaven, die alle Arbeitsbedingungen und jedes Lohnniveau akzeptieren müssen, um hier zu überleben. Dies erhöht den Druck auf diejenigen, die zur Zeit regulären Beschäftigungen im untersten Qualifikations- und Einkommensbereich nachgehen.«
Die kritische Bilanz am Ende der Stellungnahme ist mehr als deutlich:

»Die Regelung legt Axt an das Fundament unserer Verfassungs- und Gesellschaftsordnung. Nach dem einleuchtenden Verständnis des Bundesverfassungsgerichts wurzeln existenzsichernde Leistungen unmittelbar in der Menschenwürde. Bisher galt, dass  jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft dasselbe Recht auf ein Leben in Würde in sich trägt. Die Neuregelung ersetzt diese tragende Prinzip durch sozialrechtliche Apartheid. Die Folgen für die deutsche Gesellschaft sind unabsehbar.«

Aber diese Einwände sind am Gesetzgeber abgeprallt. Und im kommunalen Raum, natürlich vor allem dort, wo man mit „Armutszuwanderung“ besonders konfrontiert ist, also beispielsweise in den Ruhrgebietsstädten, sind die Erwartungen hoch, die mit der Neuregelung verknüpft werden: »Ein neues Bundesgesetz soll Sozialleistungen für EU-Ausländer einschränken. Die Stadt Essen hofft hier auf Millionen-Einsparungen«, kann man diesem Artikel von Christina Wandt entnehmen: Stadt Essen will Sozialleistung-Tourismus stoppen. Der Gesetzgeber will damit sogenannten Sozial-Tourismus verhindern; also dass sich hier Menschen niederlassen, die weder arbeiten noch einer selbständigen Tätigkeit nachgehen. „Wir müssen das Tor an dieser Stelle schließen“, wird der Essener  Sozialdezernent Peter Ränzel zitiert (was zugleich nochmals darauf verweist, dass die Regelungen eben nur für eine Untergruppe der Zuwanderer gilt und nicht für die, die einen Fuß im Arbeitsmarkt haben, so fragwürdig der auch sein mag).

Die praktischen Auswirkungen dieser – vor allem im Kategoriesystem der politischen Psychologie zu verstehenden – Gesetzgebung werden überschaubar bleiben. Aber die nächste Stufe steht schon vor der Tür – das wäre dann die gesetzgeberische Erfassung und partielle Exklusion derjenigen, die hier in welcher Form auch immer erwerbstätig sind. Denn Sinn & Co. beziehen sich auf diese Personen, die vom nunmehr verabschiedeten „Unionsbürgerausschlussgesetz“ (noch) gar nicht betroffen sind und die beschriebenen Vorschläge der EU-Kommission versuchen eine Antwort auf den in vielen EU-Staaten ansteigenden Druck zu geben, auch hier einschränkender tätig werden zu können.

Schrottimmobilien inmitten mehrdimensionaler Geschäftsmodelle rund um die Armut, mit Zuwanderern und – auch – durch Zuwanderer

Wenn es Themen in die Politikmagazine des öffentlich-rechtlichen Fernsehens schaffen, dann meistens nicht, weil die dort schaffenden Redaktionen exklusiv etwas zu Tage gefördert haben. Das ist hin und wieder auch der Fall sein, in der Gesamtschau aber eher die Ausnahme, was auch nicht überrascht, denn investigative Überraschungseier sind seltene Exemplare und sie lassen sich in den heutigen Zeiten auch immer schwerer bis gar nicht mehr „produzieren“, weil man dafür Zeit und Manpower braucht, mithin eine Menge Ressourcen. Meistens registrieren die Magazine sehr aktuell, wo gerade berichtenswerte Dinge ablaufen und wo es kritisches Material gibt, was dann in einem Beitrag fokussiert und bebildert werden kann. Insofern sind die Themen der Politikmagazine immer auch eine Art Seismograf für das, was im medialen Raum – beispielsweise an sozialpolitischen Themen – wahrgenommen und verarbeitet wird. Und natürlich spielt dabei auch immer die Frage eine Rolle, ob man die Themen mit Blick auf die Zuschauer skandalisieren kann, schließlich leben wir in einer Erregungsökonomie.

Man kann das gut konkretisieren am Beispiel eines Beitrags des ZDF-Politikmagazins „Frontal 21“, der am 6. September 2016 ausgestrahlt wurde: „Sozialbetrug mit Schrottimmobilien“ (Video bzw. Manuskript), so lautet die Überschrift des Beitrags, der sich mit dieser Thematik befasst: »Sogenannte Schrottimmobilien im Ruhrgebiet geraten zunehmend in den Blick krimineller Banden. Die nutzen die Not von Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien aus, um unsere Sozialsysteme abzuzocken.« 

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Nicht nur (medialer) Missbrauch mit dem Missbrauch von Sozialleistungen. Aber wer „missbraucht“ was und wen? Und die Gesetzgebungsmaschinerie darf auch nicht fehlen

Wenn es um Sozialleistungen geht, dann geht es in der öffentlichen Debatte nicht immer, zuweilen gar nicht um Tatsachen und durchaus kontrovers entscheidbare normative Anliegen (beispielsweise die Zielbestimmung der angemessenen Absicherung des Existenzminimums unabhängig von der Ursache der Notlage versus eines restriktiven, sanktionierenden und dabei gerne auch moralisierenden Systems von Sozialleistungsgewährung, um nur ein Beispiel zu nennen). Sondern um Bedrohungsgefühle, um Ängste und um Stimmungen, die man aufgreifen kann und muss, die sich aber natürlich immer auch produzieren, zumindest verstärken und dadurch auch instrumentalisieren lassen. Ein beliebtes Mittel ist dabei die Herstellung einer Differenz von „berechtigter“ versus „unberechtigter“ oder „guter“ versus „schlechter“ Bedürftigkeit, die dann entweder einen Hilfeimpuls oder aber Ablehnung auslösen können.

Eine Folge ist dann nicht selten eine Positionierung der Armen gegen die noch Ärmeren, die von den Armen als potenzielle – und zuweilen ganz handfest-reale – Bedrohung wahrgenommen werden, weil der begrenzte Umverteilungskuchen dann von einer größeren Grundgesamtheit beansprucht wird. Beobachten kann man dass derzeit bei den Diskussionen über die Verteilungskonflikte, mit denen es viele Tafeln zu tun haben, seitdem die hausgemachte Armut zunimmt und nun auch noch Flüchtlinge als neue „Kunden“ aufschlagen (vgl. dazu bereits vom 14. Oktober 2015 den Blog-Beitrag Die Tafeln und die Flüchtlinge. Zwischen „erzieherischer Nicht-Hilfe“ im bayerischen Dachau und der anderen Welt der Tafel-Bewegung). Oder die (scheinbar plausible) Gegenüberstellung von „unseren“ Obdachlosen und den „anderen“ (vgl. dazu nur als ein Beispiel den Artikel Flüchtlinge und Obdachlose stehen in Konkurrenz, ebenfalls aus dem vergangenen Jahr).

Zu dieser zwischen „gut“ und „schlecht“ codierenden Welt gibt es zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit, die auch sozialwissenschaftlich aufgearbeitet worden sind, man denke hier nur an die immer wiederkehrende Debatte über „faule Arbeitslose“, die eben nicht zufälligerweise in einem Zusammenhang zu sehen ist mit Kürzungen und Rechtsverschärfungen seitens des Gesetzgebers, für den dann natürlich ein solches Gerede eine hilfreiche Legitimationsfolie hergeben kann (vgl. dazu Frank Oschmiansky, Silke Kull, Günther Schmid: Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen einer Debatte, Berlin 2001 oder den Beitrag Faule Arbeitslose? Zur Debatte über Arbeitsunwilligkeit und Leistungsmissbrauch aus dem Jahr 2003).

Dieses Muster kann selbst weltpolitische Implikationen haben, man denke an dieser Stelle nur an die für viele anfangs eher befremdlich, mittlerweile allerdings angesichts seiner Erfolge als unfassbar und bedrohlich daherkommende Erfolgsgeschichte eines Donald Trump bei den Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl in den USA. Offensichtlich wird dieser Mann auch und gerade von sozial deklassierten Menschen gewählt bzw. sie projizieren ihre Frustration mit dem System und ihre Hoffnungen auf irgendwas anderes in ihn hinein. Vgl. dazu den empfehlenswerten Artikel  I Know Why Poor Whites Chant Trump, Trump, Trump von Jonna Ivin.

Aber kehren wir wieder zurück in die Gegenwart des deutschen Systems und steigen hinab in die untersten Etagen des Sozialstaats. Da fungiert die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), also das umgangssprachlich Hartz IV genannte System als letztes Auffangnetz, allerdings weniger für eine kleine Gruppe an bedürftigen Menschen, sondern eher als ein großes Auffangbecken für sehr viele temporär oder auch auf Dauer exkludierten Menschen – mehr als sechs Millionen sind es derzeit, die aus ganz unterschiedlichen Gründen auf Leistungen aus diesem System angewiesen sind.

Und aus diesem nicht nur großen, sondern mit zahlreichen rechtlichen Eigenheiten bestückten System werden immer wieder Berichte über den (angeblichen) „Missbrauch“ von Leistungen in die Öffentlichkeit getragen. Dabei geht es oft um das diffuse Bedrohungsgefühl, dass arme Menschen aus anderen Ländern sich aufmachen, um wegen Hartz IV nach Deutschland zu kommen. Begrifflich werden diese Menschen dann oft als (noch harmlose Formulierung) „Armutsflüchtlinge“ oder (weitaus heftiger) als „Sozialschmarotzer“ bezeichnet.

Solche Begrifflichkeiten sind eben nicht nur semantisch ein Problem – sie befüllen einen Resonanzraum, der bei nicht wenigen Menschen als abstraktes Bedrohungsgefühl bis hin zu übersteigerten Angstgefühlen gegenüber den „fremden Armen“ vor allem aus (Süd)Osteuropa vorhanden ist. Und wenn dann berichtet wird von (angeblich) hier Hartz IV-Leistungen missbrauchende Ausländer, dann löst das Abwehrreaktionen auch bei vielen anderen aus, die eine Überforderung unserer sozialen Sicherungssysteme befürchten.

Und wir haben in den zurückliegenden Monaten immer wieder das mediale Aufgreifen der ohne Zweifel vorhandenen Armutsmigration vor allem aus den Armenhäusern der EU, also Rumänien und Bulgarien, studieren können – und die Bebilderung des Themas war  oftmals – vorsichtig formuliert – mehr als einseitig, mit einer erheblichen Unwucht versehen: Verslumte „Problemhäuser“ im Ruhrgebiet, Männer auf dem „Arbeiterstrich“ oder Tagelöhner auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Aber seien wir ehrlich – wo waren und sind die Berichte über die vielen Ärzte aus Bulgarien und Rumänien, die in den deutschen Krankenhäuser Dienst schieben, um nur ein Beispiel zu nennen?

Und von dieser sehr einseitigen Berichterstattung handeln auch die beiden folgenden Beispiele.

Fall 1: Wie EU-Bürger deutsche Sozialkassen ausnehmen, so titelte der Bayerische Rundfunk auf seiner Online-Seite am 3. Mai 2016 – das Politikmagazin „report München“ (ARD) hat den Bericht dazu überschrieben mit Abkassieren bis an die Schmerzgrenze. Wie deutsche Sozialgesetze Missbrauch Tür und Tor öffnen. Zum (angeblichen) Sachverhalt dieses Missbrauchs unseres Sozialsystems erfahren wir:

»Die sogenannte Drachenburg – ein heruntergekommenes Wohnhaus im niederbayerischen Landshut: Hier sollen rumänische Staatsbürger zig Tausend Euro an Sozialleistungen zu Unrecht kassiert haben. Das berichteten zahlreiche Medien, nachdem in einem Protokoll des Quartierbeirats der Stadt Landshut vom 16. März von einem „perfekt organisierten System“ sozialen Missbrauchs die Rede war.«

Das wurde von vielen Medien aufgegriffen – wobei einige wenige wenigstens ein Fragezeichen an die Formulierungen angebracht und ein „angeblich“ eingebaut haben: Nutzen Rumänen systematisch den Sozialstaat aus?, so ist ein Artikel der WELT überschrieben: »In einem Wohnkomplex in Landshut sollen sich EU-Bürger fingierte Wohnadressen verschafft haben, um ganz legal an Sozialleistungen zu kommen. Medien berichten von einem angeblich ausgeklügelten System.«

Schauen wir uns vor einer weiteren Durchdringung des Sachverhalts noch das zweite Fallbeispiel an:

Fall 2: Ohne Geld und Wohnung in Lehe, konnte man am ebenfalls am 3. Mai 2016 der Online-Seite von Radio Bremen entnehmen. Zur dortigen Fallkonstellation:

»Anfang April wurden in Bremerhaven zahlreiche Fälle von mutmaßlichem Sozialbetrug aufgedeckt. Die Verantwortlichen von zwei Bremerhavener Vereinen sollen gezielt Bulgaren nach Bremerhaven gelockt und ihnen geholfen haben, Sozialleistungen zu erschleichen. Außerdem sollen sie die Zuwanderer ausgebeutet haben. Die meisten Bulgaren leben im sozial benachteiligten Stadtteil Lehe, und vielen von ihnen hat das Jobcenter inzwischen das Geld gestrichen.«

Also offensichtlich wieder ein „Hartz IV-Betrug“. Allerdings wird der eine oder andere schon etwas irritiert gewesen sein bei dieser Meldung im Vergleich zu dem, was bislang über den Landshuter Fall hier berichtet wurde, denn bei der Skizzierung der Vorgänge in Bremerhaven taucht auch der Hinweis auf, dass nicht nur die Bulgaren (angeblich) unrechtmäßig Sozialleistungen bezogen haben, sondern auch, dass sie „ausgebeutet“ worden seien. Es kommt also ein Dritter mit ins Spiel. Und den bzw. die gibt es auch im Landshuter Fall, wie wir gleich sehen werden.

Aber zuerst einmal die Situationsbeschreibung aus Bremerhaven-Lehe:

»Viele der zugewanderten Bulgaren hat das Jobcenter inzwischen aufgefordert, zu Unrecht bezogene Sozialleistungen zurückzahlen. In einzelnen Fällen seien Summen von weit über 10.000 Euro aufgelaufen, sagt Anna Zdroba von der AWO. Sie arbeitet im Zuwanderer-Beratungsbüro in Bremerhaven. Ob die Bulgaren überhaupt wissen, dass sie möglicherweise Sozialbetrug begangenen haben – das möchte sie nicht beurteilen. Fest stehe aber: Die Menschen säßen ohne Geld und ohne Krankenversicherung in Lehe. Viele von ihnen, auch Familien mit Kindern, würden aus ihren Wohnungen fliegen, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können … Da die meisten Zuwanderer offenbar aus der Region um Varna kämen, hätten viele Verwandte oder Freunde in der Stadt, bei denen sie erst einmal unterkriechen könnten, sagt Zdroba. Eine andere Möglichkeit seien Unterkünfte der Diakonie. Dort aber werden Familien nach Männern und Frauen mit Kindern getrennt. Viele Bulgaren seien bereits in ihre Heimat zurückgekehrt, andere aber wollten bleiben … Alexander Niedermeier, Familienhelfer in Lehe und Stadtverordneter für die Piratenpartei, ist da pessimistischer. Er erwartet nicht, dass die meisten der nun praktisch mittellosen Zuwanderer nach Bulgarien zurückkehren. Er befürchtet vielmehr, dass bald ziemlich viele Menschen in Lehe buchstäblich auf der Straße sitzen und versuchen werden, sich im Stadtteil irgendwie durchzuschlagen.«

Wie war das jetzt noch mal mit dem oder den Dritten? Bereits Anfang April hatte Radio Bremen über den Betrugsverdacht berichtet, damals unter der Überschrift Zuwanderer in Bremerhaven ausgebeutet? »Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Verantwortliche von zwei Vereinen, die Zuwanderer gezielt in die Stadt gelockt haben sollen. Mit Scheinarbeitsverträgen sollen sie ihnen Sozialleistungen ermöglicht haben, um dann Geld zu verlangen.«

Pikant an den Vorwürfen in Bremerhaven – die richten sich gegen Vereine, die vom Namen her erst einmal einen ganzen anderen Zweck verfolgen (sollten):

»Die Behörden ermitteln nach Angaben der Staatsanwaltschaft Bremen gegen Verantwortliche des Vereins „Agentur für Beschäftigung und Integration“ und der „Gesellschaft für Familie und Gender Mainstreaming“. Das bestätigte Behördensprecher Frank Passade. Beide Vereine haben denselben Vorsitzenden.«

Offensichtlich geht es um Patrick Cem Öztürk, einem SPD-Politiker aus Bremerhaven und Mitglied in der Bremischen Bürgerschaft. Einem Wikipedia-Eintrag zu seiner Person kann man entnehmen:

Er »war bis 2015 ehrenamtlicher Vorstand des Vereins Agentur für Beschäftigung und Integration e.V. (ABI). Dieser Verein wurde von Selim Öztürk, Vater von Patrick Öztürk, geleitet. Im Wahlkampf zur Bürgerschaft wurde Öztürk von einem vermeintlichen „Bündnis der Sozialeinrichtungen“ unterstützt, hinter dem auch das ABI und damit der Vater stand. Auf dem Flugblatt genannte Organisationen, wie der Paritätische, stellten fest, dass Sie diesem „Bündnis der Sozialeinrichtungen“ nicht angehörten und dieses auch nicht existierte.
Dem Verein ABI wird vorgeworfen, bei Zuwanderern aus Südosteuropa im großen Stil Beihilfe zur Erschleichung von Sozialleistungen geleistet zu haben. Aus der Bremer SPD kam hierauf die Aufforderung an Patrick Öztürk, sein Bürgerschaftsmandat zurückzugeben.«

Aber was genau sollen die – nach Informationen von Radio Bremen soll es sich um rund 20 Menschen handeln, die den Betrug organisiert haben – wie gemacht haben? Dazu der Bericht von Radio Bremen:

»Vereinsmitarbeiter haben dem Bremerhavener Jobcenter zufolge EU-Zuwanderer aufs Amt begleitet und gedolmetscht – teilweise offenbar verfälschend. Laut Jobcenter haben die Vereine den Zuwanderern zudem Arbeitsverträge ausgestellt und damit zum Anspruch auf Sozialleistungen verholfen. Im Gegenzug sollen sie von den Zuwanderern Geld kassiert haben. Zahlreiche Arbeitsverhältnisse sollen allerdings nur auf dem Papier bestanden haben.«

Die Zuwanderer wurden den Angaben zufolge unter anderem dafür eingesetzt, ohne Gesundheitsschutz Schiffe zu lackieren, und sie mussten weit unter dem Mindestlohn arbeiten. 800.000 Euro sollen nach Angaben der Ermittler ins Ausland überweisen worden sein.

Und jetzt nähern wir uns dem zentralen Punkt: „Mit den fingierten Arbeitsverträgen, vorzugsweise geringfügige Beschäftigungen, war es möglich, ergänzende Sozialleistungen zu bekommen“, so wird der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Frank Passade, zitiert.

An dieser Stelle passt dann der Sprung zurück zu Fall 1 aus dem bayerischen Landshut. Denn auch dort taucht diese dritte Seite auf. Bereits in der Berichterstattung des Bayerischen Rundfunks wird auf ein mit Bremerhaven strukturell vergleichbares Muster hingewiesen:

»Zwei Firmen in Landshut haben rumänische Staatsangehörige für unter 200 Euro pro Monat angestellt, das bestätigt ein Informant, der die Aktenlage gut kennt. Die rumänischen Bürger hätten „ein Minimum verdient, um Sozialleistungen zu kassieren“. Thomas Haslinger, für die Junge Liste im Landshuter Stadtrat: „Auch uns liegen Informationen vor, dass mit Hilfe von zwei Landshuter Firmen, das System ausgereizt wurde, was die Auszahlung von Arbeitslosengeld II anbelangt.“ Nach einem halben Jahr, so der Informant, habe die Firma die rumänischen Angestellten noch in der Probezeit gekündigt. Dann hätten die Rumänen „noch ein halbes Jahr weiter kassiert. Alles legal“. Die Rumänen hatten nur wenige Stunden pro Woche gearbeitet und weniger als 200 Euro pro Monat verdient.«

Hier offenbart sich ein strukturelles Problem im Kontext der deutschen Sozialgesetzbuch, wenn man denn die Inanspruchnahme der Sozialleistungen über diese Fallgestaltungen als Problem wahrnimmt, was auf der deutschen Seite sicher mehrheitlich der Fall sein wird.

Die hier nur anzudeutende Perspektive der betroffenen Menschen aus Bulgarien und Rumänien ist sicher eine andere. Für sie ist das kein Vergnügen, unter den immer wieder berichteten Umständen nach Deutschland zu kommen und unter teilweise erbärmlichen Bedingungen hier ihr Glück zu versuchen. Für viele von ihnen ist das angesichts der unglaublichen materiellen Not in ihrer Heimat ein Teil einer Art „Überlebensökonomie“. Auch wenn man aus unserer Sicht dem ein Riegel vorzuschieben bestrebt ist, sollte man diesen Aspekt nicht einfach ausblenden. Er rechtfertigt nichts, erklärt aber einiges.

Das angesprochene strukturelle Problem wird wenige Tage nach den hochgezogenen Berichten über den „Sozialbetrug“ der Rumänen in Landshut in diesem Artikel der Süddeutschen Zeitung erkennbar: Unter der Überschrift Gefühlter Sozialbetrug in Landshut wird von Andreas Glas berichtet: »Angeblich beschäftigen zwei Firmen rumänische Bewohner der berüchtigten Drachenburg kurzzeitig für geringen Lohn – um ihnen Anspruch auf Hartz IV zu verschaffen. Das klingt anrüchig, wäre aber legal.«

Das wäre legal bzw. „gesetzeskonform“, so hört man es oft in Landshut von denen, die Verantwortung tragen (sollen) – hier ist der entscheidende Punkt. In den Worten von Andreas Glas:

»Der gefühlte Sozialbetrug – wenn es ihn denn gibt – könnte völlig legal sein. Wer nach weniger als einem Jahr unfreiwillig arbeitslos wird, kriegt danach sechs Monate lang Hartz IV, das ist sein Recht. Wer länger als ein Jahr gearbeitet hat, dem stehen die Sozialleistungen sogar unbefristet zu.«

Mit Blick auf Landshut muss man ergänzend anführen, was die Stadt zwischenzeitlich herausgefunden hat:

»In den 67 bewohnten Einheiten in der Drachenburg seien 23 Alleinstehende oder Familien gemeldet, die Hartz-IV bekommen. Bei 20 dieser Fälle handle es sich um Aufstocker, die legal arbeiten gehen, aber zu wenig für ihren Lebensunterhalt verdienen und deswegen Sozialleistungen bekommen. Auch für die übrigen drei Fälle gebe es keine Hinweise auf Sozialbetrug.« Allerdings »werde man die in der Vergangenheit in der Drachenburg gemeldeten Personen darauf prüfen, „ob es fingierte Arbeitsverhältnisse gab“. Sollten sich doch Hinweise finden, „dann müsste man fragen, welches Interesse eine Firma daran haben könnte“, einen Menschen nur zum Schein anzustellen, damit dieser Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen bekomme.«

Diese Frage kann sich die Stadt zumindest auf der Ebene der Hypothesen selbst beantworten  – und das verweist zugleich auf die möglichen wahren Profiteure:

»Denkbar sei zum Beispiel, dass der Angestellte als Gegenleistung für die Firma arbeite „und nichts dafür kriegt“ … Die Profiteure wären dann wohl weniger die Arbeitnehmer als vor allem die Firmen, die sich die Geldnot vieler rumänischer Zuwanderer zunutze machen, um Lohnkosten zu sparen. Und obendrein profitieren die Vermieter, die den Rumänen regelrechte Bruchbuden wie die Drachenburg für teures Geld vermieten, weil es für Zuwanderer schwierig ist, auf dem angespannten Wohnungsmarkt etwas Besseres zu bekommen.«

Ist es jetzt wirklich überraschend, dass genau an dieser Stelle, als in Umrissen erkennbar wurde, dass die Rumänen oder welchen armen Schlucker auch immer eben nicht alleine zum Jobcenter gelaufen sind (und das übrigens nach zahllosen Stimmen aus den Jobcentern in unserem Land weiter tun), um unseren Hartz IV-Staat auszuplündern, sondern dass es Dritte gibt und geben muss und dass das oftmals Unternehmen sind, die hier tätig sind, das genau in diesem Moment die Berichterstattung gegen Null abgesunken ist?  In einem Moment, in dem bei etwas genauerem Hinschauen klar wird, dass es sich hier – man mag das beklagen, ändert aber nichts – um eine durchaus „gesetzeskonforme“ Inanspruchnahme der vorhandenen Leistungen nach dem SGB II handelt? Die allerdings voraussetzt, dass die EU-Ausländer irgendwo – sehen wir mal vom kaum relevanten Fall der ausschließlichen Schein-Beschäftigung ab – in Unternehmen hier bei uns ein Arbeitsverhältnis haben müssen, und sei es ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis.

Aber war da nicht was aus Berlin? Hat uns die große Bundesregierung nicht versprochen, der „Zuwanderung in unsere Sozialsysteme“ einen Riegel vorzuschieben? Und ist sie da nicht schon tätig geworden?

Durchaus. Mittlerweile liegt ein Referentenentwurf vom 28.04.2016 für ein „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“  vor. Damit soll das erreicht werden:

»Die Leistungsausschlüsse im SGB II werden ergänzt und damit klargestellt, dass Personen ohne materielles Freizügigkeitsrecht oder Aufenthaltsrecht ebenso wie Personen, die sich mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, sowie Personen, die ihr Aufenthaltsrecht nur aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ableiten, von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind. Im SGB XII werden die Leistungsausschlüsse denjenigen im SGB II angepasst. Daneben wird im SGB XII ein Anspruch für einen Zeitraum von vier Wochen geschaffen mit der Möglichkeit darlehensweise die Kosten für ein Rückfahrticket zu übernehmen. Außerdem wird im SGB II ein Leistungsanspruch nach fünf Jahren Aufenthalts in Deutschland geschaffen.«

Na also, werden die Schnellleser sagen, geht doch. Bei einigen anderen wird die Formulierung „Personen, die sich mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten“ für Skepsis sorgen, ob das, was hier geregelt werden soll, für unsere Fallkonstellationen überhaupt relevant ist.

Genau das ist der Punkt. Der Gesetzentwurf geht an den hier vorgestellten Fallkonstellationen vorbei. Denn der Gesetzentwurf verlangt „nur“, dass EU-Ausländer von Sozialhilfe ausgeschlossen werden, wenn sie nicht arbeiten oder durch vorherige Arbeit Ansprüche erworben haben. Wenn die Menschen aber – und sei es nur zu sehr niedrigen Löhnen oder geringer Stundenzahl – hier gearbeitet haben, dann stellt sich die Situation anders dar, die nicht unter die Ausschlussregelung des neuen Gesetzes fallen würden.

In anderen Worten: An der Aufstocket-Problematik (und der mit ihnen verbundenen tatsächlichen Missbrauchspotenziale seitens der Arbeitgeber, die das ausnutzen) ändert sich nichts und wenn die Betroffenen dann arbeitslos werden, haben sie – und sei es für einige (in den Maßstäben ihrer „Überlebensökonomie“ sehr wertvolle) Monate Anspruch auf Sozialleistungen.

Man kann sich die Eskalation der Gesetzgebungsmaschinerie an dieser Stelle gut vorstellen. Wenn der derzeitige Entwurf Gesetz geworden ist und man natürlich feststellen wird, dass das an den anderen Problemen nichts ändert, wird man versuchen, den Regelungsmechanismus auch auf die hier beschriebenen Fälle auszudehnen. Manche werden nie arbeitslos werden im bestehenden System.

Mehr als ein rentenpolitischer Sturm im Wasserglas? Die „Lebensleistungsrente“ erhitzt die Gemüter

Was plant die Bundesregierung? Einen erneuten milliardenschweren Griff in die Rentenkasse? Will sie das sozialpolitische Füllhorn über die Rentner auskippen? Auf solche Fragen wird man förmlich gestoßen, wenn man einen Blick auf die Berichterstattung in den Medien wirft: Wirtschaftsflügel der Union protestiert gegen geplante Mindestrente heißt es in der Überschrift eines Artikels. Oder eine Nummer heftiger: Unionsaufstand gegen Mindestrente für Geringverdiener. Aber offensichtlich haben nicht nur Teile der Union Probleme: Rentenversicherung sträubt sich gegen Lebensleistungsrente, so ist ein anderer Artikel überschrieben. Auch die Kommentaren bringen sich in Stellung: Von Rente ohne Leistung bis hin zu Lebensleistungsrente ist ein sozialpolitisches Placebo. Auslöser für diese Reaktionen sind solche Berichte: »Die Regierungsparteien haben sich darauf verständigt, die im Koalitionsvertrag vereinbarte „solidarische Lebensleistungsrente“ für Geringverdiener wie geplant umzusetzen. Der CDU-Rentenexperte Peter Weiß verteidigte am Dienstag in einem Zeitungsinterview die Reformpläne als notwendig, um künftige Akzeptanzprobleme für die gesetzliche Rentenversicherung zu vermeiden. Die Lebensleistungsrente sei „fraglos nötig, weil es immer mehr Menschen gibt, die lange hart gearbeitet haben, im Alter aber trotzdem nicht auf einen Rentenanspruch kommen, der oberhalb der Grundsicherung liegt“, erklärte Weiß gegenüber der „Badischen Zeitung“. Diese Entwicklung sei „gefährlich, weil die Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung schwindet“.«

Wie immer hilft an dieser Stelle ein Blick in den Koalitionsvertrag zwischen den Unionsparteien und der SPD aus dem Dezember 2013. Dort findet man auf der Seite 52 die folgende Vereinbarung:

»Lebensleistung in der Rente honorieren
Wir wollen, dass sich Lebensleistung und langjährige Beitragszahlung in der Sozialversicherung auszahlen. Wir werden daher eine solidarische Lebensleistungsrente einführen. Die Einführung wird voraussichtlich bis 2017 erfolgen.
Grundsatz dabei ist: Wer langjährig in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert war, Beiträge gezahlt hat (40 Jahre) und dennoch im Alter weniger als 30 Rentenentgeltpunkte Alterseinkommen (Einkommensprüfung) erreicht, soll durch eine Aufwertung der erworbenen Rentenentgeltpunkte bessergestellt werden. Dies kommt vor allem Geringverdienern zugute und Menschen, die Angehörige gepflegt oder Kinder erzogen haben. Durch eine Übergangsregelung bis 2023 (in dieser Zeit reichen 35 Beitragsjahre) stellen wir sicher, dass insbesondere die Erwerbsbiografien der Menschen in den neuen Ländern berücksichtigt werden. In allen Fällen werden bis zu fünf Jahre Arbeitslosigkeit wie Beitragsjahre behandelt. Danach soll zusätzliche Altersvorsorge als Zugangsvoraussetzung erforderlich sein. In einer zweiten Stufe sollen jene Menschen, die trotz dieser Aufwertung nicht auf eine Rente von 30 Entgeltpunkten kommen, jedoch bedürftig sind (Bedürftigkeitsprüfung), einen weiteren Zuschlag bis zu einer Gesamtsumme von 30 Entgeltpunkten erhalten. Die Finanzierung erfolgt aus Steuermitteln … .«

Das hat man bislang liegen gelassen und nun wurde das erneut aufgerufen. Einige Kommentatoren nehmen die Hinweise auch von Rentenexperten aus der Union, dass ein strukturelles Problem in der gegebenen Rentenversicherung vorhanden ist, was in den vor uns liegenden Jahren an Gewicht gewinnen wird, gar nicht erst auf, sondern ordnen den Vorstoß entweder ein in eine parteipolitische Manöverkritik oder aber in ein gerne gespieltes Instrument, nach dessen Melodie es „den“ Alten heute gut und „den“ Jungen vor allem in Zukunft schlecht gehen wird, wenn man was auf der Leistungsseite zugunsten (eines Teils) der Älteren macht.

Für die erste Kritiklinie steht beispielhaft Karl Doemens, der in seinem Kommentar Lebensleistungsrente ist ein sozialpolitisches Placebo den Ansatz zu einem sozialdemokratischen Projekt verengt, obgleich die ersten Anläufe bereits von der damaligen christdemokratischen Bundesrentenministerin Ursula von der Leyen stammen:

»Deutschland altert. Doch die Anhänger der SPD ergrauen besonders schnell. Bei den drei Landtagswahlen Anfang des Monats erhielt die Partei deutlich mehr Stimmen von den über 60-Jährigen als vom Rest der Bevölkerung. Es ist also kein Wunder, dass Parteichef Sigmar Gabriel der Rentenpolitik zentralen Stellenwert einräumt. Gleich nach der Bundestagswahl 2013 machte er die Rente mit 63 zur Bedingung für eine große Koalition. Nun forciert er in der Flüchtlingskrise eine Mindestrente für Geringverdiener.
Beide Projekte folgen demselben Grundgedanken: Wer lange  gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, der soll es im Alter auf jeden Fall besser haben als derjenige, der kürzer oder gar nicht eingezahlt hat. Als Anerkennung winkt ein früherer Ruhestand oder ein Zuschlag, der das Altersgeld über Sozialhilfe-Niveau hebt.«

Heike Göbel von der FAZ hingegen wirft in ihrem Kommentar Rente ohne Leistung Union und SPD in eine Tonne und ordnet das ganze in eine andere Kritiklinie ein:

»Union und SPD haben Übung darin, Gruppen der Rentner willkürlich besserzustellen. Doch die Lebensleistungsrente hat ein Legitimationsproblem, denn den Alten geht es besser als den Jungen.«

Und wieder werden wir auch hier konfrontiert mit einem bekannten Argumentationsmuster, das darauf abstellt: »… nach wie vor sind nur drei Prozent der Rentner, eine halbe Million, auf den Gang zum Sozialamt angewiesen. In der Gesamtbevölkerung ist die Armutsquote mehr als doppelt so hoch. Armut betrifft in Deutschland nach wie vor mehr junge Leute und alleinerziehende Haushalte, nicht Alte.« Das ist nicht offensichtlich falsch, aber der Fehler liegt in der Generalisierung („die“ Alten, die es eben nicht gibt) und der – wenn überhaupt – nebulösen Hinweise, dass Altersarmut „noch“ kein Problem sei (aber eines werden kann). Dazu beispielsweise bereits den Beitrag Die vorprogrammierte Altersarmut im System und das hässliche Gesicht der Altersarmut vor Ort. Und dann das Nichtstun als Alternative zur Alternative vom 10. April 2015.

Ist also die geplante „Lebensleistungsrente“ – nur als Fußnote sei hier notiert, dass in den aktuellen Berichten und Diskussionen das „solidarische“ an dieser neuen Leistung irgendwie schon verloren gegangen ist – eine echte Lösung für ein reales Problem mit eingebauter Wachstumsgarantie?

Man kann die Beantwortung grundsätzlich angehen – oder aber in einem ersten Schritt die aktuelle Protestwelle heranziehen. Bei deren Analyse wird deutlich, was es bedeutet, wenn man zu kurz springt. Schauen wir uns beispielsweise die Argumentation der Kritiker innerhalb der Union an. Dem Artikel Unionsaufstand gegen Mindestrente für Geringverdiener kann man entnehmen:

„Die Mindestrente ist nicht finanzierbar“, sagte etwa Hans Michelbach, Chef der CSU-Wirtschaftsvereinigung. Und der JU-Vorsitzende Paul Ziemiak fordert statt der Lebensleistungsrente gar eine Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters: „Es kann nicht bei der Rente mit 67 bleiben, wenn wir Altersarmut vermeiden wollen.“

Nicht finanzierbar? Um welche Größenordnungen geht es hier? Man muss an dieser Stelle vorwegschicken, dass sich die Leistungsausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung im vergangenen Jahr auf über 270 Milliarden Euro summiert haben. Dem Artikel Regierung einig: Für neue Rente kann man entnehmen: »Kurz vor Ostern hatte sich die Bundesregierung darauf verständigt, 2017 erstmals 180 Millionen Euro für die Lebensleistungsrente im Bundeshaushalt vorzusehen. Diese Summe soll laut Medienberichten bis 2020 schrittweise auf 700 Millionen Euro jährlich anwachsen.«

Wohlgemerkt – es handelt sich hierbei um Bruttobeträge, nicht um die tatsächlichen Ausgaben, darauf verweist schon der Passus im Koalitionsvertrag von Ende 2013. Dort steht auf der bereits erwähnten Seite 52: »Die Finanzierung erfolgt aus Steuermitteln, u.a. dadurch, dass Minderausgaben in der Grundsicherung im Alter als Steuerzuschuss der Rentenversicherung zufließen, und durch die Abschmelzung des Wanderungsausgleichs.«

Anders formuliert: Die Zuschussrente soll nicht aus Beitragsmittel der Rentenversicherung finanziert werden (was ja ein weiterer klassischer Verschiebebahnhof wäre), sondern aus Steuermitteln – aber nicht aus zusätzlichen, sondern vor allem aus solchen, die ansonsten in einem anderen Systemen geflossen wären bzw. fließen werden: aus der Grundsicherung für Ältere (und Erwerbsgeminderte) nach dem SGB XII, die früher von den Kommunen finanziert werden mussten, mittlerweile ist hier der Bund eingestiegen, um die Kommunen zu entlasten.
Noch anders formuliert: Ein nicht geringer Anteil dessen, was hier als „neue“ Leistung verkauft wird, würde sowieso fließen im Rahmen der Grundsicherung für Ältere.

Noch hanebüchener ist die Forderung des Vorsitzenden der Jungen Union zu bewerten, dass man das – abschlagsfreie – Renteneintrittsalter über 67 Jahre anheben und an die – statistische und durchschnittliche – Lebenserwartungsverlängerung koppeln sollte. Wenn man ganz zynisch drauf wäre könnte man diesen Vorschlag so kommentieren: Wenn die Leute nur lange genug gezwungen sind zu arbeiten, dann lässt sich darüber die verbleibende Rentenbezugsdauer deutlich verkürzen und das Rentenproblem gleichsam biologisch gelöst. Aber auch weniger dramatisierend ist der Ansatz nicht logisch, denn der Anstieg der Lebenserwartung ist eben gerade nicht gleichverteilt über alle Menschen, wir haben erhebliche Lebenserwartungsunterschiede in Abhängigkeit von der sozialen Lage der Menschen und das würde im Ergebnis dazu führen, dass die Menschen im unteren und mittleren Bereich schlechter gestellt werden als die im oberen Bereich, die sich zudem noch überdurchschnittlich häufig aus der gesetzlichen Rentenversicherung verabschiedet haben (beispielsweise in die berufsständischen Versorgungswerke oder als Selbständige ganz aus dem System).

Man kann aber auch ganz grundsätzlich an die Sache herangehen und fragen, warum es überhaupt den Problemdruck gibt, der offensichtlich zu dem Ansatz einer solidarischen Lebensleistungsrente geführt hat. Und der Erklärungskern dafür liegt in der Rentenformel begründet, die von ihrer Mechanik her voraussetzungsvoll daherkommt: Eine monatliche Bruttorente von etwas über 1.200 Euro bekommt man, wenn man 45 Jahre lang immer ohne Unterbrechung gearbeitet und Beiträge gezahlt hat – und zwar immer in Höhe des durchschnittlichen Einkommens der Versicherten, also ein Vollzeiteinkommen. Wenn man sich dieses Muster in Erinnerung ruft, dann wird klar, warum Menschen, die viele Jahre oder vielleicht sogar ihr gesamtes Erwerbsleben im Niedriglohnsektor gearbeitet haben oder die – noch schlimmer – viele Jahre in Teilzeit beschäftigt waren, keine Chance haben werden, eine gesetzliche Rente zu bekommen, die über, geschweige denn deutlich über dem Grundsicherungsniveau liegen wird.

Was aber würde sich mit der geplanten „Lebensleistungsrente“ wirklich ändern? Nicht viel, das kann man an dieser Stelle schon mal vorausschicken. Bereits im Dezember 2013 hatte sich der Rentenexperte Johannes Steffen in seinem Beitrag »Solidarische Lebensleistungsrente«. Rentenniveausenkung konterkariert Armutsvermeidung kritisch mit den Hoffnungen auseinandergesetzt. Er hat sich damals diese Fragestellung genauer angeschaut: Reichen in der Summe 30 Entgeltpunkte aus, um zumindest bei einer typisierenden Betrachtung die Aufstockung der Rente durch Leistungen der Grundsicherung zu vermeiden? Das ernüchternde Ergebnis seiner Analyse, das heute aufgrund der von ihm angesprochenen grundsätzlichen Problematik einer mit den „Rentenreformen“ auf den Weg gebrachten und bis heute nicht korrigierten Absenkung des Rentenniveaus genau so Bestand hat, lautet: »Mit sinkendem Rentenniveau sinkt die Wertigkeit sämtlicher Rentenanwartschaften – immer im Vergleich zur Entwicklung der Löhne. Kaum, dass der »Kampf« gegen Altersarmut 2017 aufgenommen wird, ist er auch schon verloren. Denn ab 2020 reichen 30 EP nicht mehr aus, um den Grundsicherungsbedarf zu decken. Wer unbeirrt an der Rentenniveausenkung festhält, wird bei der Bekämpfung von Altersarmut absehbar scheitern.«

Man kann sich die bescheidene Wirkung der geplanten Lebensleistungsrente verdeutlichen, wenn man sich die aktuellen Beträge anschaut, um die es hier geht bzw. gehen würde:

Vorgesehen ist ja eine Anhebung der Renten auf eine Rente, die 30 Entgeltpunkten entspricht.
Mit aktuellen Werten bedeutet das aufgerundet:
30 EP x 29,21 Euro (= aktueller Rentenwert in Westdeutschland) = 876 Euro brutto => 782 Euro netto (nach Abzug der Sozialbeiträge der Rentner).
Auf diese Summe soll also die Rente aufgestockt werden (bei Bedürftigkeit).
Und wie sieht es in der Grundsicherung aus?
Dort liegt der Bedarf (von dem dann eigenes Einkommen abgezogen wird) für einen alleinstehenden Rentner bei (pauschalierten Unterkunft- und Heizkosten):
404 Euro Regelbedarf + 300 Euro Unterkunftskosten + 70 Euro Heizkosten = 774 Euro
Das wären also überschlägig noch nicht einmal 10 Euro Unterschied, wobei man aber berücksichtigen muss, dass auch der Rentner mit einer niedrigen Rente möglicherweise Anspruch hat auf Wohngeld.
Hinzu kommt: Die Lebensleistungsrente bekommt man nur mit den 40 Versicherten-/30 Beitragsjahren, außerdem würde das nur alle Neurentner betreffen, also alle im Bestand haben davon nichts.

Dafür dieser Aufwand? Denn man muss berücksichtigen, dass mit der Lebensleistungsrente ein Fremdkörper in die gesetzliche Rentenversicherung eingebaut werden würde.
Um diesen Punkt zu verstehen, muss man mal wieder grundsätzlich werden: Wo gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen der Rentenversicherung und der Fürsorge? Auf die Leistungen aus der Rentenversicherung hat der Versicherte einen Rechtsanspruch, unabhängig davon wie und mit wem er lebt. Auf eine Fürsorge-Leistung hat man nur Anspruch, wenn die Bedürftigkeit geprüft wird, wenn also kein vorrangig anzurechnendes Einkommen oder gar Vermögen vorhanden ist.

Was das bedeuten würde? Eine bedürftigkeitsgeprüfte Altersrente verwischt die Grenze zwischen erworbenem Rentenanspruch und Fürsorge. Die Rentenversicherung kennt den Haushaltszusammenhang nicht, müsste diesen also erst einmal abbilden, um zu einer Entscheidung zu kommen. Eine Bedürftigkeitsprüfung wäre sehr aufwändig (was jeder besichtigen kann bei einem Besuch in einem Jobcenter, die sich damit tagtäglich herumschlagen müssen) und würde Doppelstrukturen in der Verwaltung schaffen. Und nicht zu vergessen: Bedürftigkeitsprüfungen bei Auslandsrenten wären kaum möglich, die spielen aber keine vernachlässigbare Rolle.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Sozialbeirat der Bundesregierung in seinem Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2015 zu einem skeptisch-ablehnenden Befund gekommen ist:

»Der Sozialbeirat hat sich zu nicht beitragsgedeckten Rentenaufstockungen in seinen Gutachten der vergangenen Jahre aus guten Gründen stets kritisch geäußert. Das Äquivalenzprinzip der Rentenversicherung (nach dem sich die Höhe der Renten – wie bei einer privaten Versicherung – an den zuvor eingezahlten Beiträgen orientieren) nähme Schaden, wenn am Fürsorgeprinzip orientierte Elemente in die Ermittlung der Rentenhöhe einbezogen würden und der Zusammenhang zwischen Beitragsleistung und späterer Rentenhöhe geschwächt würde. Wenn ein Teil des Rentenzahlbetrages einer Einkommensanrechnung unterliegt, dürfte die Rente insgesamt in den Augen der Versicherten in die Nähe einer einkommensabhängigen Fürsorgeleistung rücken. Letztlich würden die steuerfinanzierte, fürsorgerisch motivierte Grundsicherung im Alter und die beitragsfinanzierte Rente der Sozialversicherung vermengt. Dadurch – so unterstellt nicht nur der Sozialbeirat – dürfte das Vorhaben negative Auswirkungen auf die Akzeptanz der Rentenversicherung haben, weil dadurch gleich hohe Beitragsleistungen unterschiedlich hohe Rentenansprüche bewirken könnten.«

Aber der Sozialbeirat ist sich auch des folgenden Dilemmas bewusst:

»Allerdings verkennt der Sozialbeirat auch nicht die Problematik, dass langjährige Vorsorge nicht zwingend zu einem höheren Alterseinkommen führt als unterbliebene Vorsorge und dies vielfach als unbefriedigend empfunden wird. Zum einen wird argumentiert, dass die Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung darunter leide („warum soll ich einzahlen?“), zum zweiten wird angeführt, dass deshalb private und betriebliche Altersvorsorge unterbleibe („die lohnt sich für mich am Ende nicht“).«

Gibt es aus Sicht des Sozialbeirats einen Lösungsansatz? Wenn, dann findet man ihn hier:

»Zur Überwindung der Problematik, dass lange Jahre der Beitragszahlung nicht immer ausreichenden Schutz vor Altersarmut bieten bzw. nicht immer zu einem höheren Alterseinkommen führen als eine Grundsicherung, bestehen zwei verschiedene Konzepte. Neben der „solidarischen Lebensleistungsrente“, die durch eine Aufwertung erworbener Entgeltpunkte langjährige Vorsorge belohnen will, gibt es den Vorschlag, Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung bzw. der privaten und betrieblichen Altersvorsorge nur teilweise auf die Grundsicherung anzurechnen. Während die „solidarische Lebensleistungsrente“ damit an die gesetzliche Rentenversicherung als Leistungssystem anknüpft, setzt das Konzept der Anrechnungsfreibeträge bei der Grundsicherung an.«

Der Sozialbeirat kommt zu dem Ergebnis, dass die „solidarische Lebensleistungsrente“ nur für vergleichsweise wenige Fälle geeignet sei, das Problem zu lösen. »Insofern erscheint der mit der „solidarischen Lebensleistungsrente“ verbundene deutliche Bruch mit dem Äquivalenzprinzip, der zu Akzeptanzverlusten der gesetzlichen Rentenversicherung führen dürfte, unverhältnismäßig, da nur in sehr begrenzter und wenig zielgenauer Weise erreicht wird, dass geleistete Altersvorsorge stets zu einem höheren Alterseinkommen führt.«

Aus dieser Perspektive besteht eine Lösung darin, Alterssicherungsleistungen nur in begrenztem Umfang auf die Grundsicherung im Alter anzurechnen. Aber so ganz überzeugt ist auch der Sozialbeirat in seiner offiziellen Stellungnahme zumindestens nicht, denn es würden neue Abgrenzungsfragen aufgemacht: »So wäre z. B. zu beantworten, warum Alterssicherungsleistungen nur begrenzt, Partnereinkommen dagegen voll auf die Grundsicherung angerechnet werden.« Und hinzu kommt: »Die Einführung von Anrechnungsfreibeträgen für Alterssicherungsleistungen in der Grundsicherung würde – auch aufgrund der damit verbundenen Ausweitung der Zahl der Empfänger – zu höheren Kosten der Grundsicherung führen.«

Man kann es drehen und wenden wie man will – erneut stoßen wir an dieser Stelle auf die strukturellen Probleme des bestehenden Alterssicherungssystem, das bis zu den erheblichen Rentenkürzungen, die Anfang des Jahrtausends beschlossen wurden, hervorragend funktioniert hat. Wenn immer mehr Menschen nicht die Voraussetzungen erfüllen (können), die man für eine halbwegs armutsfeste Alterssicherung braucht, dann muss man das System ändern.

Das aber würde bedeuten eine Debatte führen zu müssen über die Aufhebung der wirklichen Bremsstellen im System, also die Begrenzung der Finanzierung der Alterssicherung auf das Lohneinkommen aus sozialversichrungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen und die auch noch begrenzt durch eine Beitragsbemessungsgrenze, ab deren Überschreiten kein Euro mehr zur Finanzierung der Renten herangezogen wird. Dann die zahlreichen Exklusionen aus dem System der Gesetzlichen Rentenversicherung, angefangen von den Beamten über die berufsständische Versorgungswerke für Ärzte & Co.bis hinzu den Selbständigen.

Und dann müsste man eine halbwegs armutsfeste Mindestrente einführen und die dafür erforderlichen Finanzmittel können nur über eine Umverteilung von oben nach unten mobilisiert werden, wie wir sie beispielsweise aus dem Schweizer System kennen. Alle zahlen ein, abhängig von ihrer Leistungsfähigkeit, aber die Renten sind nicht nur armutsfest über eine Basisrente, sondern auch über eine Maximalrente, die natürlich so hoch bzw. niedrig dimensioniert ist, dass wir eine deutliche Umverteilung von oben nach unten hätten.

Der föderale Flickenteppich und die Flüchtlinge: Die einen kriegen eine Chipkarte, die anderen müssen zum Amt. Am Gelde hängt’s

Bei welchem Asylpaket sind wir eigentlich mittlerweile angekommen? Auf alle Fälle gab es das Paket I, dessen asylrechtlichen Änderungen seit dem 23.10.2015 in Kraft sind.  Mit dem Asylpaket I wurde Ende 2015 die Möglichkeit eröffnet, für Asylsuchende eine Gesundheitskarte mit eingeschränktem Leistungsanspruch einzuführen.  Die Verantwortung für die Umsetzung wurde in die Hände der Bundesländer gelegt – man ahnt schon, was jetzt kommen muss. Flickenteppich bei Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden – so hat die Bertelsmann-Stiftung eine Bestandsaufnahme der Umsetzung des Ansatzes überschrieben. Bis Ende Februar 2016 wurde die Gesundheitskarte für Asylsuchende in Berlin, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen eingeführt (in NRW allerdings nicht flächendeckend im Land, bislang haben lediglich 20 Kommunen ihre Beteiligung zugesagt). Brandenburg plant die landesweite Implementierung zum 1. April 2016. In den beiden Stadtstaaten Bremen und Hamburg gibt es die Gesundheitskarte schon seit einigen Jahren.

Entstanden ist eine unübersichtliche Landschaft hinsichtlich der Art und Weise, wie die gesundheitliche Versorgung der Asylsuchenden organisiert wird.

Die Erfahrungen in Bremen und Hamburg mit der Gesundheitskarte für Asylbewerber sind nach offiziellen Verlautbarungen positiv. Verwaltungskosten wurden eingespart. Sozial- und Gesundheitsämter seien entlastet worden. Das hat sicher auch die Empfehlung aus Fachkreisen beeinflusst, diesen Ansatz bundesweit einzuführen, so auch die Forderung einer Expertenkommission der Robert Bosch Stiftung (vgl. Themendossier Zugang zu Gesundheitsleistungen und Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge und Asylbewerber). Allerdings handelt es sich bei den beiden Erfolgsmodellen nicht ohne Grund um zwei Stadtstaaten und nicht um Flächenländer, denn in den Stadtstaaten fällt die kommunale und die Landesebene zusammen. Das ist bei den Flächenländern nicht der Fall und hier schlägt jetzt wieder das föderale Finanzierungsdurcheinander zu, das wir auch aus so vielen anderen Bereichen kennen.

Es geht mal wieder um das liebe Geld. Zur Einordnung: Die Kommunen tragen die Kosten für die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen in den ersten 15 Monaten bzw. bis zu deren Anerkennung. Allerdings dürfen wir uns das nicht so vorstellen, dass das mit dem vergleichbar ist, was „normale“Versicherte der Gesetzlichen Krankenversicherung bekommen. Asylbewerber sind über die Sozialhilfeverwaltung krankenversichert. Vor einem Arztbesuch müssen sie sich vielerorts beim Sozialamt einen Krankenschein abholen. Die Kosten werden nur bei eindeutigen Notversorgungen geleistet.

»Der Krankenschein wird durch das Sozialamt mit Anmerkungen für die ÄrztInnen versehen, dabei werden mitunter äußerst restriktive Auslegungen von § 4 AsylblG abgedruckt. Viele ÄrztInnen zeigen sich in der Praxis angesichts der Gesetzeslage überfordert und verweigern manchmal selbst die Notversorgung oder entscheiden sich bei Zahnschmerzen zur Ziehung des Zahns statt zu einer kostenintensiveren Wurzelbehandlung«, so eine kritische Darstellung von ProAsyl.

Die Begrenzung auf eine Notversorgung ist gesundheitspolitisch problematisch, denn sie führt unter anderem dazu, dass präventive Impfungen wie gegen Tuberkulose oft erst nach Monaten durchgeführt würden – in Gemeinschaftsunterkünften steige so die Ansteckungsgefahr.

Auch die Gesundheitskarte beinhaltet einen eingeschränktem Leistungsanspruch. Flüchtlinge haben bis zu ihrer Anerkennung nur ein Anrecht auf Versorgung im Notfall. Vorsorgeuntersuchungen können nur Schwangere erhalten.

Ursache für die schleppende Einführung ist vor allem der Streit um die Finanzierung. Für die Kosten der Gesundheitsversorgung von Asylbewerbern müssen die Kommunen aufkommen. Wie bereits erwähnt, eröffnete das Asylpaket I zwar die Möglichkeit, die Gesundheitskarte einzuführen, die Umsetzung wurde aber den Bundesländern übertragen – und der Bund übernahm auch keine Finanzverantwortung. »Der Bund hat es abgelehnt, die Gesundheitskosten für Flüchtlinge komplett zu übernehmen, und auch die Länder belassen die Kosten in der Regel bei den Kommunen«, kann man dem Artikel Gesundheitskarte für Flüchtlinge kommt kaum voran entnehmen.

»Die meisten Länder arbeiten noch an der Umsetzung. Dazu stehen die Länder in Verhandlungen mit den gesetzlichen Krankenkassen, um die Kostenaufteilung und den Leistungsrahmen der medizinischen Versorgung der Asylsuchenden zu definieren. Die im Gesetz auf Bundesebene vorgesehene Rahmenvereinbarung zwischen dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und den kommunalen Spitzenverbänden wird ebenfalls noch verhandelt«, so die Bertelsmann-Stiftung.

Da der Bund sich einer Finanzierung verweigert, bleibt die Zuständigkeit bei den Kommunen und die Bundesländer haben sicher kein Interesse, durch eine Übernahme der Kosten die Kommunen zu entlasten. Die Kommunen hingegen stehen vor der Situation, dass ihnen einerseits Kostenersparnisse in ihren Verwaltungen in Aussicht gestellt werden, weil die Betroffenen nicht mehr wegen jeder Einzelleistung im Amt vorstellig werden müssen. Aber das kostet natürlich, denn die Krankenkassen lassen sich das natürlich vergüten, wenn sie das für die Kommunen abwickeln. Eine Richtgröße in diesem Kontext sind (mindestens) zehn Euro Verwaltungsgebühr oder deren Ausgestaltung als prozentualer Abzug, z.B. 8 Prozent.

Im Saarland will die Regierung die Karte ermöglichen, „aber sämtliche Landkreise weigern sich, sie einzuführen“, heißt es. Und in Rheinland-Pfalz ist man schon weiter (das Gesundheitsministerium des Landes hatte Mitte Januar mit den gesetzlichen Krankenkassen eine Rahmenvereinbarung zur Einführung einer Gesundheitskarte abgeschlossen), aber auch hier verweigert sich die kommunale Ebene: »Der Plan der rot-grünen Landesregierung für eine Gesundheitskarte für Flüchtlinge ist offenbar gescheitert. Nach SWR-Recherchen hat bis jetzt keine einzige Kommune die Karte eingeführt. Der Grund sind die hohen Verwaltungskosten«, heißt es in dem Artikel Wohl keine Gesundheitskarte für Flüchtlinge des SWR.

Dabei geht es ja nicht nur um die Gesundheitskarte (und damit verbunden die Abwicklung über die Krankenkassen), sondern es sollte auch darum gehen, was da drin steckt. Die Kommission der Robert Bosch Stiftung hat für eine bundeseinheitliche Grundversorgung der Flüchtlinge plädiert. Das würde dann aber auch ein Bundesfinanzierung konsequenterweise zur Folge haben, was eine erhebliche Entlastung der Kommunen zur Folge hätte.

Darüber hinaus haben Sozialverbände zudem wiederholt gefordert, auch Asylsuchenden das Leistungsspektrum regulär Krankenversicherter zu eröffnen. Das wurde von der Politik bislang mehrheitlich abgelehnt, wobei schnell klar wird, dass es hier nicht nur um die Abwehr höherer Ausgaben geht, die mit einem solchen Vorschlag verbunden wären, sondern wie bei so vielen anderen Fragen hat das eine normative Dimension:

»So erklärten Bayern und Sachsen, keine Gesundheitskarte einzuführen, auch weil sie darin einen Anreiz für die Flucht nach Deutschland sehen.«

Hier geht es also wieder um die abschreckende Wirkung einer möglichst restriktiven Ausgestaltung der Leistungen, ein Gedanke, der für das deutsche Asylrecht seit langem prägend war. Aber ob Menschen über das Mittelmeer kommen, weil es in Deutschland die Gesundheitskarte gibt, nun ja.