Von „heißer Liebe zum deutschen Volk“ zum „1.000 Euro Starterpaket für jedes neue Baby“. Neues Altes zur Familien- und Rentenpolitik

„Aus heißer Liebe zum deutschen Volk“ – so hieß es am 26. Juni 1945 im Berliner Gründungsaufruf der Christdemokraten. Deshalb feiert die CDU ab der kommenden Woche ihren 70. Geburtstag und in einer etwas eigenen Adaption an diese Gründungsaufforderung hat sich jetzt die Junge Union zu Wort gemeldet, die Jugendorganisation der Union, immerhin mit offiziell 117.000 Mitglieder eine ziemlich große Organisation. Passend in unsere Zeit der Individualisierung wie auch der alle Lebensbereiche durchdringenden Ökonomisierung will man jetzt offensichtlich das deutsche Volk von unten unterstützen und die „heiße Liebe zum Kinderzeugen“ anreizen. Mit einem – festhalten, jetzt wird es ganz heiß – „1.000 Euro-Starterpaket für jedes neue Baby“. Wie scharf ist das denn?

Aber die Jungunionisten erweisen der immer irgendwie mitlaufenden Vorstellung, dass junge Menschen eine Präferenz für radikale Vorstellungen haben und sich gegen „die Alten“ auflehnen wollen und müssen (was empirisch spätestens seit den Shell-Jugendstudien mehr als widerlegt ist, denn dort wurde dokumentiert, dass die meisten Jugendlichen ihre Eltern als Kumpel und nette Partner wahrnehmen, was sicher nicht die Abarbeitung an den Positionen der Eltern befördert), scheinbar, aber eben nur scheinbar ihre Referenz: Sie fordern eine – aufgepasst – „radikale Reform der Familien- und Rentenpolitik“. Robert Roßmann beschreibt diese in seinem Artikel Junge Union fordert Sonderabgabe für Kinderlose.

Der JU-Chef Paul Ziemiak hat dazu einen Forderungskatalog dazu vorgelegt, der sich – man ahnt es schon – an „der“ demografischen Entwicklung abarbeitet.

Zur Rentenpolitik: Die Junge Union fordert die sofortige Abschaffung der Rente mit 63 und der JU-Chef »fordert eine grundlegende Änderung des Rentensystems. „Es muss eine Verknüpfung zwischen Renteneintrittsalter und Lebenserwartung geben“, sagt Ziemiak. Wenn die Lebenserwartung steige, verlängere sich bisher auch die Bezugsdauer der Rente, ohne dass die Versicherten dafür höhere Beiträge eingezahlt hätten …  Die Junge Union wolle, dass zwei Drittel der zusätzlichen Lebenszeit angerechnet werden.«

Nur eine von vielen möglichen kritischen Anmerkungen zu dieser Forderung, die ja nicht wirklich von den jungen Unionisten kommt, sondern die haben copy und paste gemacht beim Institut der deutschen Wirtschaft, bei Professor Sinn und anderen bis hin zu einem Teil der „fünf Wirtschaftsweisen“, die genau so eine Regelung seit längerem einfordern. Hier an dieser Stelle nur der eine Hinweis: Die Forderung kommt für viele auf den ersten Blick so plausibel daher, denn das leuchtet doch ein: Wenn die Lebenserwartung weiter ansteigt und man länger Rente bezieht, dann kann man doch einen Teil der gewonnenen Lebenserwartung dafür einbringen, über Arbeit die Beiträge (und Steuern) zu erwirtschaften, die man braucht, um das zu finanzieren. Genau so argumentiert die Junge Union in Person ihres Vorsitzenden Paul Ziemiak: „Wenn beispielsweise die durchschnittliche Lebenswartung der Jahrgänge von 1985 bis 1990 um drei Monate steigt, muss das Renteneintrittsalter für diese Jahrgänge um zwei Monate steigen“, so wird er zitiert. Schon mal was vom Unterschied zwischen Durchschnitt und Streuung der Originalwerte gehört? Ein Durchschnittswert kann zuweilen mehr verschleiern als Information verdichten, vor allem, wenn die Ausgangswerte sehr stark streuen um den Durchschnittswert. Und genau hier haben wir ein Riesenproblem bei dem durchschnittlichen Anstieg der Lebenserwartung. Der geht nämlich so: Bei der oberen Hälfte ist der Anstieg nicht drei Monate, sondern vielleicht fünf oder sechs, ganz oben noch mehr. Aber in der unteren Hälfte sind es nicht drei, sondern zwei, ganz unten vielleicht nur ein Monat oder gar keiner. Wenn wir jetzt aber eine anscheinend plausibel daherkommende Regelbindung haben, nach dem Muster ausgehend vom Durchschnitt drei Monate mehr = 2 Monate mehr beim gesetzlichen Renteneintrittsalter, dann ist die relative Belastung oben viel geringer als unten und unten erweist sich aufgrund der Streuung der Werte eine solche Regelung als das, was sie wohl auch sein soll: Eine richtig harte Rentenkürzung, denn man darf nicht vergessen, dass das Erreichen der Regelaltersgrenze verbunden ist mit der Abschlagsregelung im Rentenrecht, also alle, die es nicht bis dahin schaffen, werden mit lebenslangen Abschlägen bei ihrer – dann auch noch zumeist an sich niedrigeren – Rente belastet.

Zur „Familienpolitik“: »Die JU verlangt außerdem die Umwandlung des Ehegattensplittings in ein Familiensplitting. „Wir wollen nicht nur eine Erhöhung der Freibeträge, sondern ein echtes Familiensplitting“, sagt Ziemiak. Die steuerliche Entlastung durch das Splitting solle sich also – anders als bisher – mit der Zahl der Kinder erhöhen.«

Nun gibt  es diese Debatte schon lange und es handelt sich hier ebenfalls um keinen neuen Ansatz, sondern erneut haben die jungen Leute einfach nur abgeschrieben – aus dem Wahlprogramm der eigenen Mutterpartei. Die hat das 2013 bei der Bundestagswahl in ihrem Programm drin stehen gehabt. Eine „radikale“ Erweiterung besteht wohl darin, dass man ein „echtes“ Familiensplitting“ fordert und nicht „nur“ eine Anhebung der Freibeträge. Hier nur einige wenige Aspekte aus der kritischen Auseinandersetzung allein schon mit dem Modell der höheren Freibeträge, die von Richard Ochmann und Katharina Wrohlich 2013 in ihrem Aufsatz Familiensplitting der CDU/CSU: Hohe Kosten bei geringer Entlastung für einkommensschwache Familien vorgetragen wurden. Familien mit geringen Einkommen werden unterdurchschnittlich bis gar nicht entlastet. Je höher das (zu versteuernde) Einkommen, desto größer ist die Entlastung, was der Mechanik des Steuersystems geschuldet ist. Logischerweise und nicht vermeidbar bedeutet das, dass wenn man die Freibetragslogik mit der Zahl der Kinder koppelt, dass dann in den oberen Haushaltseinkommen richtig viel ankommt für deren Kinder, während es unten sehr viel weniger bis gar nichts wäre. Die notwendigen finanziellen Ressourcen für eine solche steuerliche Entlastung wären enorm. Und Oschmann/Wrohlich weisen darauf hin: »Generell haben alle Splittingmodelle den gravierenden Nachteil, dass sie dem familienpolitischen Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie entgegenwirken.«

Aber die Jungunionisten fordern nicht nur, sondern wie es sich heutzutage gehört, man liefert den Hohepriestern der Religion von der „schwarzen Null“ und einem schuldenfreien Haushalt gleich auch schon das passende Opfer der Gegenfinanzierung der Geld kostenden Vorschläge. Und was schlägt die Junge Union hier vor – um das gleich scheinbar „familienpolitisch“ zu ummänteln?
»Kinderlose sollen eine Sonderabgabe in Höhe von einem Prozent des Bruttoeinkommens zahlen.«
Man hat die Stimmen schon im Ohr, die auf eine gruppenbezogene Diskriminierung hinweisen werden. Der JU-Chef hält dagegen: „Das wäre keine Benachteiligung, sondern nur ein Ausgleich“, so wird er zitiert. Ausgleich für was bitte? Die Argumentation von Ziemiak geht so: »Eltern hätten enorme Ausgaben, die Kinderlose nicht hätten. Wegen der Mehrwertsteuer auf diese höheren Ausgaben würden Eltern bisher auch steuerlich schlechter gestellt als Kinderlose.« Aber auch daran ist gar nichts Neues, denn bereits vor drei Jahren hatten Bundestagsabgeordnete aus der Union genau diese Forderung zur Diskussion gestellt: »Die Abgeordneten hatten vorgeschlagen, Kinderlose vom 25. Lebensjahr an mit einem Prozent ihres Einkommens zur Kasse zu bitten. Die Abgabe sollte nach der Anzahl der Kinder gestaffelt werden. Kinderlose müssten voll zahlen, Eltern mit einem Kind die Hälfte, Eltern mit mehreren Kindern nichts.«

Auch das hat sich nicht ohne Grund nicht durchgesetzt, der vielleicht am Anfang vorhandene Charme einer gewissen Logik, „die“ Kinderlosen zahlen mehr als die armen mit Kindern belasteten Familien schmilzt wie die Butter in der Sonne, wenn man berücksichtigt, dass „die“ Kinderlosen dann zusätzlich belastet werden sollen für den Ausgleich einer höheren Steuerbelastung der Familien, obgleich die doch in dem Modell der Union parallel massiv entlastet werden sollen über das Familiensplitting.

Abschließend sind wir wieder am Anfang angekommen, denn die Junge Union fordert »die Einführung eines „Starterpakets“ für Eltern. Sie sollen für jedes Kind, das geboren wird, 1000 Euro vom Staat als Erstausstattung erhalten.« Super. Aber mal ehrlich – unabhängig von der Tatsache, dass es viele einkommensschwache Familien gibt, für die 1.000 Euro bei der Geburt eines Kindes mehr als hilfreich sein könnte: Von einer Begrenzung des „Starterpakets“ auf die, die materiell wirklich in schwierigen Verhältnissen sind, liest man nichts. Das „Starterpakekt“ sollen alle bekommen, also auch die Haushalte, die nun wirklich nicht angewiesen sind auf diesen Betrag. Und davon gibt es Gott sei Dank immer noch sehr viele in unserem Land. Was soll das? Will man perspektivisch die Premium-Hersteller von Kinderwägen pampern über diesen Betrag, den die Eltern dann in ein noch hipperes Modell reinvestieren werden? Vielleicht ist das aber auch ein geniales Programm zur Stärkung der Binnennachfrage.

Halt – alle würden die 1.000 Euro bekommen? Es steht zu befürchten, dass das in einer Hinsicht wieder nicht gelten würde: Für die, die einen solchen Betrag am nötigsten hätten. Also die Eltern im Grundsicherungsbezug. Erinnern wir uns an dieser Stelle an das „Betreuungsgeld“, das von den Befürwortern ausdrücklich als eine Honorierung der elterlichen Erziehung- und Betreuungsleistung zu Hause herausgestellt wurde, deshalb würden auch alle in den Genuss dieser Leistung kommen, also einkommensabhängig. Und tatsächlich ist es auch so, dass auch sehr einkommensstarke Haushalte die 150 Euro überwiesen bekommen – alle, aber nicht die „Hartz IV-Eltern“, denn bei denen wird das Betreuungsgeld vollständig angerechnet auf ihren Anspruch auf SGB II-Leistungen, mithin verrechnet. Sie gehen leer aus. Es steht zu befürchten, dass der gleiche Mechanismus zuschlagen würde beim „Starterpaket“.

Ach, jede Gesellschaft hat die Jugend, die sie verdient, könnte man jetzt bilanzieren. Oder anders: Entweder mal richtig auf die Pauke hauen und was Großes fordern oder aber wenn man sich schon so klein macht, dass man passungsfähig zu werden hofft, dann muss man sich eben auch messen lassen an Sorgfältigkeit beim Denken und entsprechendem Tiefgang beim Verfassen von Forderungen. Aber vielleicht wollte man einfach auch nur mal wieder in die Medien.

Die demografische Entwicklung ist eine große Herausforderung. Aber sie taugt nicht wirklich als Schreckgespenst zur Rechtfertigung der sozialpolitischen Planierraupe. Wenn man ein wenig rechnet

Vor wenigen Tagen wurde die neueste Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes veröffentlicht (Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2060). Ein mutiges Unterfangen, im Jahr 2015 bis zum Jahr 2060 den Blick zu weiten und für diesen Zeitpunkt Zahlen zu präsentieren – wobei die Statistiker immer wieder selbst darauf hinweisen, dass es sich um keine Prognosen handelt, sondern um Vorausberechnungen auf der Grundlage ganz bestimmter Annahmen, vor allem zur Geburtenrate, der Entwicklung der Lebenserwartung sowie des Wanderungssaldos, also der Bilanzierung der Zu- und Abwanderung. Wenn die getroffenen Annahmen nicht eintreten oder sich die wirklichen Werte anders entwickeln, dann bekommen wir ganz andere Ergebnisse. Darauf und auf die kritischen Anfragen an eine Vorausschau, die einen so langen Zeitraum abzubilden versucht, gerade aus Sicht der Überprüfung dessen, was zurückliegende Vorausberechnungen in den Raum gestellt haben und was aus ihnen geworden ist, habe ich in dem Beitrag Zwischen Unausweichlichkeit und Glasperlenspiel: Vorhersagen der demografischen Entwicklung im Spannungsfeld von Notwendigkeit und scheinbarer Gewissheit vom 26.04.2015 hingewiesen. Dass wir tendenziell weniger und vor allem im Durchschnitt eine deutlich ältere Gesellschaft werden, diese beiden großen Schneisen lassen sich durchaus ableiten aus den drei grundlegenden Bestimmungsfaktoren der Bevölkerungsentwicklung und da braucht man auch nichts herumzudeuteln.

Sehr wohl aber muss man die von vielen Medien sofort und gerne aufgegriffenen Schreckensszenarien als Ableitungen aus den tatsächlich bzw. unterstellten Folgen der demografischen Entwicklung in die Mangel nehmen – denn hier wird erneut „die“ Demografie als eine quasi naturgesetzliche Begründung herangezogen für den Einsatz der sozialpolitischen Planierraupe, da man sich das bisherige einfach „nicht mehr leisten“ könne bzw. weil man die „Jungen“ ansonsten in die Knechtschaft der Alten treibt. Dass es genau zu solchen Reaktionen kommt, habe ich bereits am 28.04.2015 in dem Beitrag Leider erwartbare Folgeschäden des schnellen Konsums der neuen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes: „Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen“ aufgegriffen und kritisiert. Aber für viele ist die Kraft des scheinbar Faktischen sehr stark – und da reichen dann oft nur einige wenige Zahlen, mit denen man verdeutlicht, dass die Entwicklung im Desaster enden müsse. Allerdings nur, wenn man dann aufhört zu rechnen. Sollte man aber nicht.

Und genau das leistet Johannes Steffen in seinem instruktiven Beitrag Schreckgespenst Demografie. Rente mit 74 und Kündigung des Generationenvertrages?, den man sich genauer anschauen sollte. Dies aus mehreren Gründen, zum einen, weil er nicht bei den gängigen Schreckenswerten die Relation zwischen Alten und (mehr oder weniger) Jungen betreffend stehenbleibt, sondern weiter rechnet. Zum anderen, weil er in seinen Berechnungen als einer der wenigen überhaupt neben der wie selbstverständlich auch für die Zukunft fortgeschriebenen Grenze für „die Alten“ bei 65 auch mit der neuen Altersgrenze von 67 rechnet, man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre keineswegs abgeschafft ist, sondern Schritt für Schritt scharf gestellt und voll für den Geburtsjahrgang 1964 – nicht zufälligerweise der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland – gelten wird.

Johannes Steffen hat sich nun die neuen Zahlen der 13. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes angeschaut und mal konsequent weitergerechnet, er ist also nicht bei dem ersten Rechenschritt stehen geblieben, den man in vielen Artikeln noch finden kann Mit Blick auf das Zieljahr 2060 führt er am Anfang aus:

»Der Bevölkerungsrückgang geht einher mit einer Verschiebung des Altersaufbaus: Die Anzahl junger Menschen unter 20 Jahren sinkt von 14,7 Millionen auf nur noch 10,9 Millionen, die der Älteren ab 65 Jahren [ab 67 Jahren] aufwärts steigt von 16,8 [15,1] Millionen auf 22,3 [20,6] Millionen. Und schließlich sinkt die Anzahl der Personen im mittleren Alter von 20 bis unter 65 [67] Jahren von 49,3 [51,0] Millionen auf 34,3 [36,1] Millionen.«

An dieser Stelle kommt dann der sogenannte „Altenquotient“ zum Vorschein, auf den sich so viele immer gerne beziehen: Der „Altenquotient“ ist das zahlenmäßige Verhältnis der Älteren ab 65 [67] Jahren zu den Menschen im Alter von 20 bis unter 65 [67] Jahren.  Er steigt von von 34 [30] im Jahr 2013 auf 65 [57] im Jahr 2060. In anderen Worten:

»Während heute auf 100 Personen im mittleren Alter 34 [30] Personen im Alter von 65 [67] Jahren und mehr entfallen, verschlechtert sich diese Relation bis 2060 auf 100 zu 65 [57]. Das entspricht einer Steigerung des »Altenquotienten« um 90 [92] Prozent.«

Wie sollen das die arbeitenden Jahrgänge stemmen? Eine Verschlechterung des „Altenquotienten“ um 90 Prozent in den vor uns liegenden Jahren – da ist es doch mehr als offensichtlich, dass die mittlere Generation das nicht mehr schultern kann. Folglich konnte man sofort die Stimmen wieder hören, die eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalter fordern, beispielsweise auf die besagten 74 Jahre (vgl. dazu nur als ein Beispiel den Artikel Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen von Tobias Kaiser).

Aber man darf an dieser Stelle nicht stehen bleiben – und die Argumentation von Johannes Steffen geht so:
Von der mittleren Altersgruppe müssen nicht nur die Älteren, sondern auch die Jüngeren ökonomisch geschultert werden (nicht umsonst gab es ja mal den Begriff des „Drei-Generationen-Vertrags“). Also müssen wir einen Blick werfen auf den „Jugendquotienten„, der definiert ist als das Verhältnis der unter 20jährigen Menschen zu denen in der Altersgruppe 20 bis 65 [67]. Und hier muss man feststellen, sollte die Bevölkerungsvorausberechnung stimmen, dass sich auch der »Jugendquotient« leicht von 30 [29] Prozent auf 32 [30] Prozent erhöht.

An dieser Stelle bildet Steffen den ersten „Gesamtquotient (A)„, also die Summe der Altersgruppe unter 20 Jahren und der ab 65 [67] Jahren im Verhältnis zur mittleren Altersgruppe.
Dieser Gesamtquotient (A) steigt von heute 64 [59] auf 97 [87] im Jahr 2060 an. Und die guten Kopfrechner werden sofort erkennen: Der ursprüngliche Zuwachs von 90 Prozent beim Altenquotienten hat sich damit auf 51 [49] Prozent fast halbiert.

Aber Steffen hört an dieser Stelle nicht auf und argumentiert weiter: Die mittlere Altersgruppe muss nicht nur die Jüngeren und die Älteren »tragen«, sondern selbstverständlich auch sich selbst. Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs bildet er den „Gesamtquotient (B)„, der das zahlenmäßige Verhältnis der Gesamtbevölkerung zur Bevölkerung mittleren Alters abbildet. Und wie sehen hier die Werte aus? Der „Gesamtquotient (B)“ steigt von 164 [159] auf 197 [187] oder um nur noch 20 [18] Prozent. »Der rechnerische Anstieg schrumpft noch einmal um mehr als die Hälfte«, so Steffen.

Aber wir sind noch nicht am Ende. Völlig zu Recht notiert Steffen:
»Schließlich sind nicht alle Personen im erwerbsfähigen Alter auch tatsächlich erwerbstätig. Ökonomisch entscheidender ist daher der „Gesamtquotient (C)“ – das zahlenmäßige Verhältnis der Gesamtbevölkerung zur Anzahl der Erwerbstätigen der mittleren Altersgruppe.«
Um den zu bestimmen, muss man eine Annahme machen, wie es mit der Erwerbstätigenquote im Jahr 2060 aussehen wird bzw. könnte. Er geht davon aus, dass die Erwerbstätigenquote der mittleren Altersgruppe – also der Anteil der Erwerbstätigen an der gleichaltrigen Bevölkerung – bis 2060 um fünf Prozentpunkte ansteigen wird und begründet diese Annahme mit dem Hinweis, dass alleine von 2005 auf 2013 die Erwerbstätigenquote der mittleren Altersgruppe laut Mikrozensus um fast sieben Prozentpunkte angestiegen ist.

Wenn man so vorgeht, dann reduziert sich der Zuwachs weiter auf 13 [9] Prozent bis zum Jahr 2060.

Fazit dieses Rechenwegs: Der vermeintlich untragbare »Belastungsanstieg« von anfänglich 90 [92] Prozent (»Altenquotient«) reduziert sich am Ende auf gerade noch 13 [9] Prozent (Gesamtquotient C).

Anders formuliert und vielleicht für viele fassbarer, was das bedeutet:

»Entfielen 2013 auf jeden Erwerbstätigen der mittleren Altersgruppe (einschließlich seiner selbst) 2,0 Köpfe der Gesamtbevölkerung, so wären es im Jahr 2060 2,3 [2,2] Köpfe.«

Und auch der letzte Gedankenschritt des Johannes Steffen soll hier zitiert werden. Er geht davon aus, dass ja in den vielen Jahren bis 2060 die Produktivität der Menschen nicht stehen oder gleichsam eingefroren bleibt. In den Jahren 1992 bis 2014 lag der durchschnittliche Zuwachs der Stundenproduktivität bei 1,4 Prozent, so dass er diesen fortschreibt:

Bei einem weiteren Anstieg der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde von im Durchschnitt 1,4 Prozent jährlich steigt die Leistung pro Erwerbstätigen bis 2060 um fast 100 Prozent. Davon können alle Generationen gleichermaßen profitieren – sofern die Verteilung »stimmt«.

Damit wären wir natürlich bei dem entscheidenden Punkt – wenn die Verteilung stimmen würde. Aber unabhängig von den vielen sich an dieser Stelle ergebenden Fragen kann man eines ganz gewiss sagen: Die Demografie kann nicht dazu instrumentalisiert werden, eine Zwangsläufigkeit von Renten- und anderen Kürzungen als quasi unvermeidbare Konsequenz aus der Bevölkerungsentwicklung zu behaupten.

Leider erwartbare Folgeschäden des schnellen Konsums der neuen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes: „Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen“

Sie haben es wieder getan, die Bundesstatistiker. Eine neue, diesmal die 13. Bevölkerungsvorausberechnung, hat das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Die letzte, also die 12., stammt aus dem Jahr 2009, normalerweise wäre nach dem Drei-Jahres-Rhythmus 2012 die nächste fällig gewesen, aber aufgrund des „Zensus 2011“ wurde das auf 2013 verschoben und die Ergebnisse liegen jetzt der Öffentlichkeit vor. Natürlich wurde sofort darüber berichtet, um so schneller, desto besser. »Die Zahl der Deutschen wird nach Einschätzung der Statistiker langsamer abnehmen als bisher berechnet. 2060 werde die Bevölkerungszahl etwa 67,6 bis 73,1 Millionen betragen, sagte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Roderich Egeler, am Dienstag. 2009 war seine Behörde bei der Vorausberechnung noch von 65 bis 70 Millionen Menschen ausgegangen«, kann man beispielsweise dem Artikel Deutschland schrumpft dank Zuwanderern langsamer entnehmen. Bereits an dieser Stelle wird der interessierte Zeitgenosse im derzeit laufenden Jahr 2015 nachdenklich verweilen und sich fragen, wie man glaubt, die Bevölkerung im Jahr 2060 – also in schlappen 45 Jahren – so genau prognostizieren zu können, denn bis dahin kann und wird sicher eine Menge passieren, vom dem man sich noch in vielerlei Hinsicht gar nicht vorstellen kann, dass man es sich vorstellen muss.

Womit wir aber schon beim ersten hervorzuhebenden Fehler sind – denn um eine „Prognose“ handelt es sich gerade nicht, sondern – das betonen die Bundesstatistiker, ordentlich, wie sie nun mal sind, auch besonders – wir haben es mit „Bevölkerungsvorausberechnungen“ (der Plural ist hier wichtig) zu tun, die auf einem ganzen Set an notwendigerweise zu treffenden Annahmen basieren, so dass die vorausberechneten Werte dann eintreten, wenn … Eben, wenn die zugrundeliegenden Annahmen zur Geburtenrate, der Entwicklung der Lebenserwartung sowie des Wanderungssaldos eintreten würden. Was sie natürlich nicht müssen. Dann müsste man sich korrigieren, wie beispielsweise jetzt gegenüber der Vorhersage aus dem Jahr 2009, die hinsichtlich der Bevölkerungszahl nach oben angehoben werden muss. Weil man die Zuwanderung unterschätzt hat. Die damit verbundenen Probleme sowie eine daraus ableitbare grundsätzlich kritische – was nicht bedeutet alles ablehnende – Haltung ergibt sich allein aus der Betrachtung der Erfahrungswerte aus der Vergangenheit (vgl. dazu den Beitrag Zwischen Unausweichlichkeit und Glasperlenspiel: Vorhersagen der demografischen Entwicklung im Spannungsfeld von Notwendigkeit und scheinbarer Gewissheit vom 26.04.2015). In diesem Beitrag finden sich bereits zahlreiche kritische Anfragen an die Vorhersagen – ohne diese, das sei an dieser Stelle besonders hervorgehoben – grundsätzlich für nutzlos zu erklären, denn sie können schon wichtige Erkenntnisschneisen schlagen, man muss nur aufpassen, dass man nicht von der Modellierung mehr oder weniger plausibler demografischer Entwicklungspfade auf die abschüssige Bahn einer „Demografisierung“ sozialer Probleme gerät.

Aber genau das kann und muss man leider derzeit wieder erleben. Ein Beispiel dafür wäre der Artikel Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen von Tobias Kaiser. Er rezipiert einige der zentralen Aussagen aus der neuen Bevölkerungsvorausberechnung und kommt am Ende seines Artikels zu dem Ergebnis:

»Um die Erwerbstätigkeit deshalb auf dem heutigen Niveau zu halten, genügt mehr Zuwanderung nicht. Die Statistiker gehen davon aus, dass das Renteneintrittsalter bis 2060 auf 74 Jahre steigen müsste, damit die Erwerbstätigkeit konstant bleibt. Und auch damit wäre das Problem nur halb gelöst: Wegen der steigenden Zahl älterer Menschen wäre das Verhältnis von Erwerbstätigen und Senioren immer noch schlechter als heute.«

Kaiser kommt zu dieser Schlussfolgerung u.a. auf der Grundlage dieser Ausführungen:

»Bis 2060 soll die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 64 Jahren stark schrumpfen: Je nach der Stärke der Zuwanderung würde die Zahl um 23 Prozent bis 30 Prozent sinken. Für die Sozialsysteme ist dieser Wandel eine erhebliche Belastung: Kommen heute auf 100 Menschen im Erwerbsalter noch 34 Seniorinnen und Senioren, würden es 2060 bereits 60 und damit beinahe doppelt so viele sein.«

Dem aufmerksamen Leser wird sich an dieser Stelle die Frage stellen, warum wird hier – bezogen auf die Menschen im „erwerbsfähigen Alter“ – eigentlich immer der Schnitt bei 64 Jahren gesetzt? Haben wir nicht die gesetzlich fixierte Heraufsetzung des Renteneintrittsalters sukzessive auf 67 Jahre, die dann für den Geburtsjahrgang 1964, gerade nicht zufälligerweise der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland, vollständig Anwendung finden wird, es sei denn, diese Regelung würde wieder abgeschafft, was kaum zu erwarten ist? Bereits das ist eine grobe Verzerrung der Daten.

Und was „Demografisierung“ sozialer Probleme konkret bedeutet, kann man gerade an diesem Punkt erläutern: Die heutige Verhältnisse innerhalb des gegebenen Systems der Alterssicherung werden einfach fortgeschrieben in eine weit weg liegende Zukunft. Aber das ist keineswegs zwingend, denn natürlich gibt es die politische Option, unser Alterssicherungssystem umzubauen bzw. vom Kopf auf die Füße zu stellen, in dem wir es ablösen von seiner Begrenzung auf den Faktor sozialversicherungspflichtige Arbeit und die dann auch noch gedeckelt durch eine Beitragsbemessungsgrenze. Würde man also eine andere Finanzierungsgrundlage einziehen und würde es im Idealfall gelingen, die steigende Wertschöpfung besser an der Finanzierung zu beteiligen, dann bräuchte man sich weitaus weniger Sorgen machen über die Finanzierung des Alterssicherungssystems.

Vor diesem Hintergrund verblassen dann die vielen weiteren, ärgerlichen Fehlinterpretationen dessen, was die Bundesstatistiker heute veröffentlicht haben. Nicht nur Kaiser behauptet in seinem Artikel, dass es um eine „Prognose … für die Entwicklung der Bevölkerung bis 2060“ geht, die jetzt vorgelegt worden ist. Auch die Online-Ausgabe der BILD-Zeitung hat das in den Raum gestellt in ihrem Artikel mit der wie immer reißerischen Überschrift Der Schrumpf-Schock. Deutschland vergreist. Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass es sich eben nicht um Prognosen handelt, sondern um Vorausberechnungen unter der Bedingung, dass ganz bestimmte Annahmen eintreten, die wichtigsten kann man der Tabelle des Statistischen Bundesamtes entnehmen.

Und beide, Kaiser wie auch die BILD-Zeitung, sprechen von der „letzten Volkszählung im Jahr 2011“, die neben anderen Dingen zutage gefördert hat, dass »Deutschland rund 1,5 Millionen Einwohner weniger hatte als zuvor angenommen«, so Kaiser in seinem Artikel. Aber auch diese Differenz sei mittlerweile ausgeglichen durch die starke Zuwanderung der vergangenen Jahre. Auch die BILD-Zeitung erwähnt, dass »2011 die Bevölkerung neu gezählt worden (sei) (Zensus 2011).«

Damit wird – wie an vielen anderen Stellen auch – behauptet, dass es 2011 eine „echte“ Volkszählung gegeben hätte. Genau das ist aber nicht der Fall, denn es handelte sich um einen typisch deutschen Kompromiss. Da man sich zum einen nicht getraut hat, eine wirkliche Volkszählung durchzuführen und zugleich die damit verbundenen Kosten gescheut hat, griff man zu Stichprobenerhebungen und Registerabgleiche vorhandener Daten. Das war und ist aber eben keine Vollerhebung, die man in regelmäßigen Abständen durchaus braucht, um den Nullpunkt der Weiter- und Hochrechnungen bestimmen zu können. Was war anders 2011 als beispielsweise 1984?
Dazu Andreas Berg in seinem Aufsatz Das Hochrechnungsverfahren zur Ermittlung der Einwohner- zahl im Zensus 2011 aus dem Jahr 2014:

»Mit dem zum Erhebungsstichtag 9. Mai 2011 durchgeführten Zensus 2011 hat die amtliche Statistik in Deutschland die Abkehr von einer Vollerhebung aller Personen und Haushalte vollzogen und methodisches Neuland betreten. Beim sogenannten registergestützten Zensus bilden die Melderegister die wesentliche Grundlage zur Ermittlung der Bevölkerungsergebnisse.
Eine zusätzliche Stichprobenerhebung – die sogenannte Haushaltsstichprobe – diente in Gemeinden ab 10.000 Einwohnern der Sicherung der Datenqualität der Einwohnerzahl und der nach demografischen Merkmalen untergliederten Bevölkerungszahlen. Die Stichprobe wurde genutzt, um Unter- und Übererfassungen der Melderegister zu quantifizieren und die Melderegister statistisch um diese Über- und Untererfassungen zu korrigieren.«

Fazit: Es sind wichtige Daten, die das Statistische Bundesamt heute veröffentlicht hat. Selbst das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln hat seinen Artikel über die neuen Zahlen mit der Überschrift versehen: Nichts Genaues weiß man nicht. Auf der Basis sollte man nun wirklich nicht derart weltfremde Schlussfolgerungen ziehen wie die Unabwendbarkeit einer Rente mit 74.

Die vorprogrammierte Altersarmut im System und das hässliche Gesicht der Altersarmut vor Ort. Und dann das Nichtstun als Alternative zur Alternative

Leistungen begrenzen, Beiträge und Lebensarbeitszeit erhöhen, staatliche Zuschüsse ausweiten – das waren und sind die vier großen Stellschrauben in der Rentenpolitik der letzten Jahrzehnte. Das kann man einer Sendung des Deutschlandradio Kultur entnehmen, die unter diese Überschrift gestellt wurde: Und in 50 Jahren ist alles vorbei? Die Zukunft der Rentenkasse. Ein Parcours-Ritt durch die Geschichte und Gegenwart der Gesetzlichen Rentenversicherung, der wichtigsten Säule der Alterssicherung. Und wenn man sich mit dieser beschäftigt, dann stößt man immer wieder auf zwei besonders herausgestellte Bewertungen: Da wird zum einen damit argumentiert, dass es noch nie einer Rentnergeneration so gut ging wie der heutigen – und das sei eben auch Ausdruck des Erfolgs der guten alten Tante Rentenversicherung, die ansonsten immer gerne in Grund und Boden geredet und geschrieben wird. Und parallel dazu läuft seit längerem ein Diskurs, der darauf abstellt, dass in den vor uns liegenden Jahren die Altersarmut (wieder) erheblich ansteigen wird bzw. muss, denn innerhalb des Systems der Alterssicherung ist die  tragende Säule, also die gesetzliche Rentenversicherung, durch ständige Bauarbeiten an vielen Stellen beschädigt worden.

Vor allem die Rentenniveauabsenkung im Gefolge der „Rentenreformen“, vor allem der Einschnitte während der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, werden hier ins Feld geführt. Die rot-grüne Regierung hatte damals das gesetzliche Versorgungsniveau bis 2030 um ein Fünftel abgesenkt. Und mit dem damaligen Bundesarbeitsminister Walter Riester untrennbar, auch namentlich verknüpft ist der Vorstoß in die kapitalgedeckte individuelle Alterssicherung – Stichwort „Riester-Rente“ -, mit der eine Kompensation der Rentensenkungen im umlagefinanzierten Teil der Alterssicherung versprochen wurde.

Das alles hat sich als ein grandioser Irrtum erwiesen, wie Karl Doemens in seinem Leitartikel Auf dem Weg in die Altersarmut herausgearbeitet hat:

»Um die sinkenden Renten im Alter auszugleichen, müssten hundert Prozent der Beschäftigten jeweils vier Prozent ihres Gehalts in einen Riester-Vertrag stecken, der sich bei zehnprozentigen Verwaltungskosten Jahr für Jahr mit vier Prozent verzinst. So unterstellt es die Bundesregierung kurzerhand in ihrem jährlichen Rentenversicherungsbericht. Eine Utopie.
Tatsächlich dümpelt der Garantiezins bei 1,25 Prozent, die Kostenquote beträgt oft zwölf bis 15 Prozent, und von den 34 Millionen künftigen Rentnern zahlen nur 6,4 Millionen die vollen vier Prozent in einen Riester-Vertrag ein. Zwar haben im Westen Deutschlands viele ältere männliche Beschäftigte in der Industrie oder dem Bankgewerbe noch eine Betriebsrente. Doch laut einer ministeriellen Studie wird ein Drittel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten künftig alleine auf die schrumpfende gesetzliche Rente angewiesen sein.«

Dabei war der Systemwechsel durchaus anders geplant gewesen. Riester wollte ein Obligatorium für die private Altersvorsorge installieren. Wieder einmal war es wohl die BILD-Zeitung, die diesem Vorhaben ein jähes Ende bereitet hat: »Für die Altersvorsorge in Deutschland aber war der 17. Juni 1999 ein schicksalhafter Tag. „Auch das noch! Riester plant Zwangsrente“, titelte die „Bild“-Zeitung und löste in der Regierung Panik aus. Die Grünen rebellierten, der Kanzler sah eine „Wut-Welle“ heranrollen. Eilig stoppte Gerhard Schröder die Pläne seines Sozialministers für eine verpflichtende Zusatzvorsorge.« Unabhängig von der eigenen Positionierung den Sinn und Unsinn einer kapitalgeeckten individuellen Altersvorsorge, mit erheblichen Steuermitteln gepampert, betreffend – der Verzicht auf eine obligatorische private Altersvorsorge kann und muss durchaus als Geburtsfehler der rot-grünen Rentenreform identifiziert werden.

»Stattdessen kam eine freiwillige Lösung, die nun dazu führt, dass aus sozialpolitischer Sicht zu wenige einen Vertrag abschließen«, so der Volkswirt Gert Wagner vom DIW, zugleich Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung, der diese in Rentenfragen berät, in einem Interview mit der Überschrift „Riester-Rente funktioniert nicht“.

Auch Wagner kommt zu diesem Befund: »Für viele Niedrigverdiener lohnt sich die Riester-Rente nicht. Selbst wenn einige ein ganzes Arbeitsleben sparen, kommen sie am Ende nicht über die Grundsicherung.« Er plädiert für eine  Abschaffung der staatlichen Zulagen, die dann nur noch an die Altfälle ausgezahlt werden würde. Wagner: »Für viele Niedrigverdiener lohnt sich die Riester-Rente nicht. Selbst wenn einige ein ganzes Arbeitsleben sparen, kommen sie am Ende nicht über die Grundsicherung.« Sein Alternativvorschlag – zugleich ein Hinweis darauf, welche Rentendebatte uns in der zweiten Jahreshälfte bevorsteht, denn genau daran versucht sich die heutige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles bereits mit ersten Entwürfen: »Man sollte die betriebliche Altersvorsorge ausbauen. Damit können alle Beschäftigten obligatorisch erfasst werden, die einem Tarifvertrag angehören.« Und das wären zumindest mehr als heute einen Riester-Rentenvertrag unterschrieben haben.

Zurück zu dem, was damals passiert ist: Für alle (zukünftigen) Rentner wurde das Versorgungsniveau in der Gesetzlichen Rentenversicherung verpflichtend abgesenkt – was natürlich die unteren Einkommensgruppen relativ gesehen viel stärker trifft als die mit höheren Rentenansprüchen. Aber genau die unteren Einkommensgruppen sind diejenigen, die die staatliche Förderung des Aufbaus einer individuellen, kapitalgedeckten Alterssicherung am wenigstens bis gar nicht in Anspruch genommen haben. »Die … Einbußen für künftige Senioren sollten durch die Erträge aus einer neuen kapitalgedeckten Vorsorgesäule ausgeglichen werden. Doch während die Kürzungen im Gesetzbuch festgeschrieben wurden, basiert die Kompensation auf dem Prinzip Hoffnung: Finanzielle Anreize durch Zulagen und Steuervergünstigungen sollen die Bürger zum Sparen bringen«, so auch Karl Doemens. Die Hoffnungen, die man mit diesem Systemwechsel verbunden hatte – Systemwechsel deshalb, weil die staatliche Förderung der privaten Altersvorsorge nicht als zusätzliche Ergänzung zum bestehenden System ausgelegt war, sondern Einschnitte in dieses kompensieren sollte -, haben sich auch deshalb zerschlagen, weil die Annahmen, mit denen man die Kompensationshoffnung grundiert hatte, mittlerweile wie die Butter in der Sonne dahingeschmolzen sind. Der Volkswirt Reinhold Thiede, bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zuständig für Forschung und Entwicklung, wird in einem Radiobeitrag (Und in 50 Jahren ist alles vorbei? Die Zukunft der Rentenkasse) mit den folgenden Worten die damalige Situation bei Einführung der Riester-Rente beschreibend:

»Das achte Weltwunder des Zinseszinseffektes wurde beschworen, es wurden Rendite unterstellt von Kapitalanlagen von acht Prozent in gewissen Modellen, von Wissenschaftlern, die heute noch bekannt sind und die einen guten Namen haben.«

Zurück zum Thema Altersarmut. Denn in der aktuellen Diskussion wird immer darauf hingewiesen, dass Altersarmut derzeit „kein Problem sei“. Zwar befinden sich gut 500.000 Menschen in der Grundsicherung für Ältere (vgl. dazu auch meinen Blog-Beitrag Sie wächst und wird weiter wachsen – die Altersarmut. Neue bedrückende Zahlen am Anfang einer bitteren Wegstrecke vom 4.11.2014), aber das seien „nur“ gut drei Prozent der Älteren. Für einen kritischen Blick auf die in der aktuellen Debatte immer wieder behauptete Nicht-Existenz von Altersarmut heute vgl. auch meinen Blog-Beitrag Elfenbeinturm pur: „Altersarmut existiert in Deutschland praktisch nicht“. Und dann spielt Biedermann wieder mal mit den Brandstiftern: Eine „Diktatur der Rentner“ sei ante portas vom 22.02.2015).

Unabhängig von der gerade bei Älteren ausgeprägten Nicht-Inanspruchnahme rechtlich eigentlich zustehender Grundsicherungsleistungen stellt sich natürlich die Frage, ob diese Teilgruppe wirklich „Altersarmut“ adäquat abzubilden in der Lage ist.

Für eine neue Übersicht über die Diskussion der Bestimmung von Altersarmut vgl. auch diese neue Publikation aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung:

Johannes Geyer: Grundsicherungsbezug und Armutsrisikoquote als Indikatoren von Altersarmut. Berlin, April 2015

Vor diesem Hintergrund und aufgrund der in die Rentenformel eingebauten Mechanik der Bestimmungsfaktoren der Rentenhöhe ist eines auf alle Fälle sicher: Ceteris paribus wird es zu einer stetigen und sich beschleunigenden Entwicklung der Altersarmut kommen. Selbst Ökonomen, die zu der Gruppe gehören, von der Reinhold Thiede in seinem Zitat gesprochen hat, müssen das konstatieren, wie beispielsweise die Schlüsselfigur beim Umbau der der Alterssicherungssysteme, Bert Rürup, der sich in einem Interview („Die Lebensversicherer haben ein dickes Problem“) zum Thema (drohende) Altersarmut äußert:

»Altersarmut ist … derzeit – zum Glück – noch kein gesellschaftlich relevantes Problem. Allerdings gibt es Anzeichen, dass die Risiken steigen.«

Rürup sieht vor allem zwei Risikofaktoren:

»Die Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus spielt sicher auch eine Rolle. Wichtiger ist allerdings, dass sich die Erwerbsbiographien der Menschen im Vergleich zu früher deutlich gewandelt haben … Die Lohnspreizung und die Teilzeitbeschäftigung haben zugenommen. Es gab eine Destandardisierung der Erwerbsverhältnisse – Stichwort Solo-Selbstständige -, und für Bezieher des Arbeitslosengelds II werden keine Beiträge gezahlt. Gerade in den neuen Ländern haben sich diese durchbrochenen Erwerbsbiografien auch in die Rentenbiografien eingefräst. Da sind Altersarmutsprobleme vorprogrammiert.«

Bevor hier abschließend Hinweise gegeben werden, was denn nun mit Blick auf das System an Alternativvorschlägen diskutiert wird, sei an dieser Stelle auf einen anderen Zugang zum Thema Altersarmut hingewiesen, der wesentlich konkreter und fassbarer und auch realistischer daherkommt. Nehmen wir aus der Vielzahl der vorliegenden Berichte diesen hier: Das Leid wohnt nebenan. Altersarmut in der Kreisstadt. Und hier geht es nicht um zukünftige und mögliche und umstrittene Entwicklungen, sondern um die Gegenwart, die vor allem die wahrnehmen, die mit armen alten Menschen arbeiten: »Verwahrloste Wohnungen, in denen es kaum Essen und kein Telefon gibt, alte Menschen, die seit Jahren nicht beim Arzt waren, vereinsamte Senioren ohne jeden Kontakt zur Außenwelt: So präsentiert Marion Eisler, seit 35 Jahren fürs Diakonische Werk, die Kirche, den Betreuungsverein und die Ahrweiler Tafel aktiv, das hässliche Gesicht der Altersarmut in Bad Neuenahr-Ahrweiler.«

Der Artikel berichtet über die Arbeit von Marion Eisler in einer rheinland-pfälzischen Kurstadt, die schon seit langem einen überdurchschnittlichen Anteil an älteren Menschen hat – von den rund 28.000 Einwohnern sind heute 10.563 über 60 Jahre alt. In den kommenden drei Jahren kommen 1.430 hinzu. Von den 369 Personen, die derzeit Sozialhilfe nach SGB XII erhalten, sind rund 200 über 60 Jahre alt sind. Auch hier: Tendenz steigend:

»Die Kurstadt, die bebaut ist mit Stadtvillen für Gutbetuchte, bietet so gut wie keinen bezahlbaren Wohnraum für Senioren, die Grundsicherung nach SGB XII – auch Hartz IV für Ältere genannt – beziehen. Das heißt im Klartext: 399 Euro monatlich plus eine Miete, die jedoch höchstens 295 Euro betragen darf, was bei maximal 50 Quadratmetern einem Preis von 5,90 Euro pro Quadratmeter entspricht. Es gibt keine Beihilfen mehr für Kleidung, Schuhe, Renovierung, Brillen, Fahrten zum Arzt oder beispielsweise kaputt gegangene Haushaltsgegenstände. Stirbt der Partner, muss binnen sechs Monaten der Betroffene, bei dem das Geld nicht reicht, in eine „angemessene“ Wohnung ziehen. „Womit wir wieder beim nicht vorhandenen Angebot plus der derzeitigen Situation, dass jeder Meter Wohnraum für Flüchtlinge benötigt wird, sind“, so Eisler zum Teufelskreis … Welche Lawine gerade erst anrollt, das machte Eisler klar: Langzeitarbeitslose werden ebenso in der Grundsicherung landen, wie Menschen mit geringem Einkommen. Selbst der Mindestlohn von 8,50 Euro reicht nicht aus und wird im Alter dorthin führen. „Alle Aufstocker, also Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, durch Niedriglöhne aber Leistungen vom Jobcenter erhalten, gehen in die Grundsicherung. Die, die Kinder erzogen haben, also immer noch schwerpunktmäßig Frauen, sind bedroht. Zwangsverrentungen durch das Jobcenter, also vorzeitige Altersrente mit Abschlägen mit 63 Jahren, kommen in Frage. Wir können uns anhand der Arbeitslosenstatistik ausrechnen, was da auf uns zukommt.“«

Natürlich stellt sich auch hier, gerade hier vor Ort, die Frage nach: Was tun?

„Wir, die täglich mit Menschen in Not zu tun haben, wissen, dass aus der materiellen Armut oft auch eine soziale Armut entsteht. Manche wissen nicht, dass sie Anträge stellen können oder sind nicht in der Lage, sie auszufüllen. Viele schämen sich und nehmen keine Hilfe in Anspruch. Mein Appell: Schauen Sie links und rechts in Ihrer Nachbarschaft genau hin. Kümmern Sie sich“, forderte Eisler auf.
Für sie ist die Einführung eines „Topfes für aktive Hilfe“ unabdingbar. „Ich fände es schön für eine Stadt mit solch unermesslichem Reichtum, wenn die Solidargemeinschaft in diesen Topf einzahlt für die, die aus dem Leben geschmissen wurden. Das stünde einer Stadt wie unserer gut zu Gesicht.“

Und wie es vor Ort auch aussehen kann für ältere Menschen in Armut, verdeutlicht dieser Bericht aus einer – von oben betrachtet – sehr reichen Stadt. Also München: Abgewiesen vom Amt, so hat Sven Loerzer seinen Artikel überschrieben: »Weit mehr als ihr halbes Leben hat eine 78 Jahre alte Münchnerin in derselben Wohnung verbracht. Doch jetzt hätte nicht viel gefehlt, dass die Frau, die seit 1959 dort lebt, obdachlos geworden wäre – und zwar ohne eigenes Verschulden. Beim zuständigen Sozialbürgerhaus fand sie zunächst kaum Hilfe und Unterstützung, sondern fühlte sich im Gegenteil drangsaliert.«

Zurück auf die große Bühne der Riester- und sonstigen Renten. Doemens, mit dessen kritischen Leitartikel wir begonnen haben, berichtet über zwei konträre Lösungsvorschläge aus den Reihen der Oppositionsparteien:

»Die Linke möchte die drohende Versorgungslücke einfach dadurch schließen, dass sie die Einschnitte der Rentenreformen zurücknimmt.« Diesen Ansatz hält er für nicht wirklich praxistauglich, denn so seine Einschätzung: »Nicht nur müssten dann nämlich Millionen Menschen, die auf staatliches Geheiß eine private Police abgeschlossen haben, neben ihren Prämien auch noch kräftig steigende Rentenbeiträge zahlen. Vor allem würden die Kosten komplett von den Älteren auf die Jüngeren abgewälzt.«

Also rüber zu den Grünen, die es dem Artikelschreiber schon deutlich mehr angetan haben:

»Sie fordern ein einfaches, kapitalgedecktes Basisprodukt zur Altersvorsorge unter öffentlich-rechtlicher Verwaltung. Wer sich nicht mit dem Vergleich unzähliger Angebote beschäftigen will, der könnte einen solchen Pensionsfonds erwerben, der ohne exzessive Vertriebskosten in Anleihen oder auch Aktien investiert, die im Augenblick wesentlich rentabler sind. In Schweden gibt es ein ähnliches Modell. Dort ist es sogar verpflichtend.«

Ob das schon als „revolutionäre Reformidee“ zu bezeichnen ist, wie das Doemens tut, sei hier mal dahingestellt. Aber er ist insofern realistisch, als er keinerlei Bewegung bei der Bundesregierung erkennen kann, auch nur Schritte in diese Richtung zu gehen. Er kommt zu einem pessimistischen Ausblick:

»Zwar hat das Haus von Sozialministerin Andrea Nahles kürzlich Sympathien für den Ausbau der betrieblichen Altersversorgung durch die Tarifparteien bekundet. Doch gerade in eher schlecht bezahlten Berufen wie der Pflege- oder Baubranche existieren praktisch keine Betriebsrenten. Weder soll es nun mehr Fördermittel noch eine Verpflichtung geben. So klingt das Ganze bislang eher nach weißer Salbe als nach einer entschlossenen Initiative. Mit den fragwürdigen Wahlgeschenken der Mütterrente und der Rente mit 63 hat die große Koalition nicht nur ihren finanziellen Spielraum verspielt. Es scheint, als habe sie auch jede Ambition im Kampf gegen die drohende Altersarmut aufgegeben.«

Dass Handlungsbedarf besteht, konstatiert selbst Bert Rürup, der maßgeblich beteiligt war an der Herbeiführung der jetzigen Strukturprobleme. Auf die Frage, was zu tun wäre, antwortet er:
»Eine Art Lebensleistungsrente wäre sinnvoll. Deutschland gehört zu den wenigen OECD-Ländern, in denen Geringverdiener bei der Festsetzung oder Anpassung ihrer Renten gleichbehandelt werden wie Durchschnitts- oder Besserverdiener. Durch die Lebensleistungsrente würde man eine gewisse Umverteilung zugunsten der Geringverdiener erreichen. Das halte ich für wichtig, auch aus Gründen der Legitimation unseres Rentensystems …  Ich gehe davon aus, dass die Regierung noch in dieser Legislaturperiode eine Lebensleistungsrente, eine Solidarrente – oder wie immer Sie es nennen wollen – einführt.« Schauen wir mal.

Der (nicht nur) niedrigzinsgebeutelte Riester-Rentner wird gerettet! Über demnächst ganz viel Geld von den Versicherungen für deutsche Infrastruktur

Jetzt wird bald wieder so richtig in die Hände gespuckt. Überall werden Baustellen errichtet und die gerade in Westdeutschland vielerorts vor sich hinbröselnde Infrastruktur wird endlich saniert oder abgerissen und neu gebaut. Der gewaltige Investitionsstau, der sich in den zurückliegenden Jahren aufgestaut hat, wird mit entschlossenem Mitteleinsatz abgebaut und die infrastrukturelle Basis für die kommenden zwanzig, dreißig Jahre wird vor unseren Augen entstehen. Das ist nicht – um es an dieser Stelle gleich anzumerken – die Vision verrückter Utopisten, sondern eine der Botschaften, die wir in wenigen Wochen überall zu lesen und zu hören und zu sehen bekommen werden. Und diese Botschaft wird geliefert werden von einer Expertenkommission unter Vorsitz von Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) im August 2014 eingesetzt hat. In dieser Kommission vertreten ist – neben der irgendwie immer anwesenden Deutschen Bank mit Jürgen Fitschen – auch die deutsche Versicherungswirtschaft, konkret durch Dr. Helga Jung von der Allianz SE und Dr. Torsten Oletzky von der Ergo. Und die hat bekanntlich ein sehr schwerwiegendes Problem: Sie ist aufgrund des jahrelangen Niedrigzinsumfeldes und der Anlagevorschriften immer weniger bis gar nicht mehr in der Lage, die erforderlichen Renditen auf die Anlage des ihr anvertrauten Kapitals zu erwirtschaften und die in der Vergangenheit versprochenen bzw. in Aussicht gestellten Auszahlungsbeträge realisieren zu können.

Und da sind wir bei unserem Riester-Rentner, der ja nun schon so einiges erleiden musste, nachdem er sich auf diese scheinbare Honigspur der staatlich, also mit Steuermittel geförderten privaten Altersvorsorge begeben hat. Der Riester-Rentner (wie auch andere privat für das Alter Vorsorgende, man denke hier an die vielen kleinen Selbständigen) ist nicht nur mit der „Kosten“- bzw. Profitwirklichkeit der Versicherungen und anderer Akteure der Finanzwelt konfrontiert, sondern er ahnt auch, dass es noch schlimmer kommen muss angesichts der geld- und damit zinspolitischen Rahmenbedingungen, die in den kommenden Jahren relativ plausibel so bleiben werden wie sie sind: richtig mies für den Normal-Sparer. Verständlich, dass man da nach jedem Strohhalm greifen möchte, der sich einem zu bieten scheint. Und deshalb werden wir in den kommenden Wochen auch erleben, dass bei den notwendigen Legitimationsversuchen der zu erwartenden Vorschläge der Fratzscher-Kommission die Riester-Rentner, von denen es immerhin einige Millionen in diesem Land gibt, wie auch die an eine oder mehrere Lebensversicherungen gebundene Sparer in den Mittelpunkt gerückt werden, wenn es darum geht, zu begründen, warum alle und besonders der kleine Sparer von dem Modell der Kommission profitieren wird. Man könnte an dieser Stelle bereits ein erstes Fazit vorwegnehmen und argumentieren, dass der „kleine Sparer“ noch nie in der Vergangenheit wirklich gut weggekommen ist. Warum soll das also jetzt anders werden? Aber schauen wir einmal genauer hin.

Beginnen wir mit der Story, die auf uns zukommen wird und die auf den ersten Blick durchaus plausibel rüberkommt: Der Staat hat ein enormes Problem – und das heißt die selbst verordnete Schuldenbremse in Verbindung mit einem enormen Investitionsstau (vgl. dazu auch die Studie von Katja Rietzler: Anhaltender Verfall der Infrastruktur. Die Lösung muss bei den Kommunen ansetzen aus dem Juni 2014), der es notwendig macht, dass erhebliche Finanzmittel für seine Behebung organisiert werden müssen. Gleichzeitig haben wir zahlreiche Versicherungen, die auf sehr großen Summen an Kapital sitzen, für das sie händeringend eine rentierliche Anlage suchen, die sie aber – angesichts der geldpolitischen Rahmenbedingungen der vergangenen und wahrscheinlich auch vor uns liegenden Jahre – derzeit immer weniger finden. Was liegt also nahe? Beide Seiten zusammen zu bringen. Genau daran hat die Kommission gearbeitet und dafür wird sie Vorschläge präsentieren, die auch sehr wahrscheinlich umgesetzt werden, denn hier tut sich eine klassische „win-win-Situation“ auf, die ihre eigenen Reize entfalten wird. Der Staat braucht Geld, viel Geld für seine Investitionen – und die privaten Versicherungsunternehmen sitzen genau auf diesem. Das alles schreit förmlich nach dem, was bereits seit vielen Jahren unter „PPP“ bzw. „ÖPP“ diskutiert wird – „Public Private Partnership“ (bzw. „Öffentlich-Private Partnerschaft“).

Private Unternehmen finanzieren (und teilweise betreiben) die Infrastruktur, der Staat vergütet das dann über regelmäßige, über viele Jahre laufenden Zahlungen an diese Unternehmen. David Hall hat das kürzlich vor dem Hintergrund auch der internationalen Erfahrungen mit diesem Instrumentarium aufgearbeitet (dazu sein Artikel Öffentlich-Private Partnerschaften – Lehren aus internationaler Erfahrung vom 11.03.2015): »Der Bundesrechnungshof beklagt seit längerem ihre Unrentabilität für die öffentlichen Kassen. Auch internationale Erfahrungen der letzten 15 Jahre zeigen, dass es sich bei Öffentlich-Privaten-Partnerschaften (ÖPP) langfristig um eine teure und ineffiziente Finanzierungsform für Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen handelt, die finanzielle Probleme weniger löst als verursacht.«

Nun wissen auch die Kommissionsmitglieder um die Evidenz der kritischen, teilweise vernichtend schlechten Bestandsaufnahmen der bisherigen PPP- bzw. ÖPP-Modelle. Deshalb wird man – folgt man den bislang vorliegenden Material aus der Kommission – vorschlagen, einen Fonds einzurichten, in den Geld fließt, das dann verwendet werden kann für größere Bündel an Infrastrukturinvestitionen beispielsweise der Kommunen. Ein Investitionsfonds zwischen Staat und Privatwirtschaft, der natürlich dann auch nicht mehr Gefahr läuft, zum Ziel von Angriffen zu werden, als wenn man nur ein einzelnes Projekt, wie beispielsweise eine Justizvollzugsanstalt, errichten würde. Und auch wenn es natürlich vor allem um das viele Geld der Versicherungsunternehmen geht, wird man vorschlagen, das auch für private Investoren aus den Niederungen der Normalbürger zu öffnen, um sie zu (scheinbar) Beteiligten zu machen und gerade deren Not, irgendwo halbwegs sicher das Geld anlegen zu können, für die Unterstützung dieses Ansatzes zu verwenden. Gabriel selbst hat dazu in seiner Haushaltsrede bereits im September 2014 ausgeführt, es gehe ihm „nicht um die Neuauflage von ÖPP-Projekten, sondern um veränderte Rahmenbedingungen für Investitionen in die öffentliche Infrastruktur“, so Kai Schlieter in seinem Artikel Gabriels Profitexperten. Und in diesem Artikel findet man auch den folgenden Hinweis, der erkennen lässt, warum das alles mit hohen Realisierungswahrscheinlichkeiten behaftet ist: »Das Schöne aus Sicht dieser Politik besteht darin, dass niemand auf die Schuldenbremse Rücksicht nehmen muss. Das ist das politische Anreizmodell. Denn die anfallenden Kosten dieser Privatisierung werden über einen Zeitraum von meist 30 Jahren gestreckt.«

Das muss man sich in aller Deutlichkeit klar machen: Der Staat hat sich mit der sogar verfassungsrechtlich in Zement gegossenen Schuldenbremse selbst in beide Knie geschossen und steht jetzt vor dem Problem, dass er nicht das machen kann, was a) durchaus volkswirtschaftlich grundsätzlich in Ordnung wäre (also eine Kreditfinanzierung langlaufender Investitionsvorhaben, um die nachkommenden Generationen an der Finanzierung dieser Investitionen zu beteiligen) und was b) vor dem Hintergrund der gegenwärtig und absehbar anhaltenden Situation auch ein an sich gutes Geschäft wäre, denn derzeit bekäme der Staat für eine auf dreißig Jahre laufende Staatsanleihe zur Finanzierung der Investitionen Konditionen, die mit 0,7 Prozent und weniger deutlich unter den Renditeerwartungen der privaten Investoren liegen, die mit fünf Prozent kalkulieren (noch im Dezember gab es die Vorstellung von sieben bis acht Prozent, worauf Schlieter in seinem Artikel hinweist, in dem er den DGB-Vorsitzenden Hoffmann zitiert: „Die Renditeforderungen mancher Versicherungen von sieben bis acht Prozent sind inakzeptabel“. Apropos Gewerkschaften: »Der Privatisierungsexperte Carl Waßmuth wirft den Gewerkschaften Naivität vor. Sie dienten Gabriels Kommission als Feigenblatt. Ähnlich sei es bei der Hartz-Kommission abgelaufen. „Auch da waren sie von Anfang an dabei«, so Schlieter in seinem Artikel.

Nun muss man kein ehemaliger und den Pflichten des aktuellen Handelns entbundener Bundesfinanzminister sein wie Hans Eichel, der in einem Interview unter der Überschrift „Das wird alles teurer werden“ im Dezember 2014 ausgeführt hat: »Wenn wir die Infrastruktur direkt finanzierten, wäre das wesentlich günstiger, denn der Bundesfinanzminister bekommt zur Zeit für 0,8 Prozent oder weniger eine 10-jährige Anleihe. Der Staat kann sich Geld viel billiger leihen.«
Aber er darf es im Kontext der selbstgeschaffenen Schuldenbremse eben nicht mehr und wird förmlich in die Arme getrieben der Finanzindustrie, die sich dann natürlich ihre „Rettungsaktion“ entsprechend vergüten lassen möchte. Mit dem Modell eines Fonds kann man die Blockade der Schuldenbremse gleichsam umgehen, denn statt die Gelder für ein oder mehrere Projekte vom Staat besorgen zu lassen, weicht man aus auf die privaten Versicherungsunternehmen und Banken, die sich dafür natürlich bezahlen lassen. Unter dem Strich muss dieses – überaus lukrative – Geschäft am Ende gegenfinaziert werden. Das wird dann über das Kollektiv der Steuerzahler erfolgen müssen.

Die Interessen der beteiligten Versicherungsunternehmen sind seit längerem bekannt und naheliegend: Ein Interview mit dem Chef des Versicherungsunternehmens Ergo, Torsten Oletzky, der ja auch direkt in der Kommission des Bundeswirtschaftsministers sitzt, wurde bezeichnenderweise überschrieben mit „Wir würden auch Schulen bauen“. Darin der Ergo-Chef höchstselbst: »Wir haben früher eine hohe Erwartungshaltung geweckt, die wir heute nicht erfüllen können. Wir haben den Eindruck suggeriert, dass am Ende auf den garantierten Zins immer noch ein dickes Extra drauf kommt.« In diesem Artikel findet man dann den folgenden Passus:

»Die Unternehmen suchen nach alternativen Anlageformen, die höhere Renditen abwerfen als klassische Investitionen in Anleihen. Zudem bringen sie neue Lebensversicherungsprodukte ohne die klassischen Zinsgarantien auf den Markt. So bauen sowohl Marktführer Allianz als auch die Versicherer Ergo und Axa auf solch neuartige Policen, bei denen Kunden im Gegenzug von höheren Renditechancen profitieren sollen. Bei der Anlage der Versichertengelder geht der Trend zu Investitionen in Infrastruktur wie Autobahnen, Gas- und Stromnetze, Solar- und Windkraftanlagen oder Flughäfen. Die Versicherungsbranche fordert vom Staat, solche Investitionen zu erleichtern.«

Und es ist für den normal denkenden Menschen klar: Das muss einfach teurer werden, als wenn sich der Staat angesichts der derzeitigen Bedingungen auf den Kapitalmärkten das erforderliche Geld selbst besorgen würde. Darf er aber nicht, wegen der Schuldenbremse.

Eine nachdankenswerte Analyse dessen, worüber hier gesprochen wird, hat bereits im November des vergangenen Jahres Jens Berger in seinem Artikel Autobahnen vom Lebensversicherer? Das ist Irrsinn mit Methode geliefert.
Berger beginnt deutlich: » … schon bald könnte es so weit sein, dass Versicherungskonzerne Autobahnen bauen und sich die lukrativen Renditen vom Steuerzahler bezahlen lassen. Das ist – nicht nur – volkswirtschaftlicher Irrsinn.« Er argumentiert so:

»Hohe Renditen verbunden mit niedrigem Risiko – das ist eigentlich die Quadratur des Kreises, da im Finanzwesen höhere Renditen stets mit einem höheren Risiko einhergehen. Und hier kommen nun die privaten Investitionen in die staatliche Infrastruktur ins Spiel. Man spricht bei solchen Projekten auch gerne von „Öffentlich-privater Partnerschaft“ (ÖPP) oder „Public-private-Partnership“ (PPP). ÖPP- bzw. Die Partnerschaft ist dabei folgendermaßen zu verstehen: Der Staat sorgt dafür, dass der private Partner nicht nur erstklassig – zu Lasten des Steuerzahlers – abgesichert ist, sondern auch – ebenfalls zu Lasten des Steuerzahlers – vergleichsweise hohe Renditen einfahren kann. Die Quadratur des Kreises wird durch PPP-Projekte somit ermöglicht.«
Jens Berger illustriert seine Kritik an zwei Rechenbeispielen. Er beginnt mit der Variante, die dem PPP zugrunde liegt:

»Szenario 1 (PPP): Ein Versicherungskonzern übernimmt die Investitionskosten i.H.v. 1.000 Mio. Euro für den Ausbau einer Autobahn. Dafür kriegt er über 30 Jahre hinweg aus den laufenden Mauteinnahmen des Bundes eine Abschlagsrate, die sich aus dem Abtrag und einer Verzinsung von 7% bezogen auf die Restschuld zusammensetzt. Innerhalb von 30 Jahren summieren sich diese Zahlungen damit auf 2.015 Mio. Euro. Der Bund – also der Steuerzahler – hat also im Endeffekt mehr als das Doppelte der eigentlichen Investitionskosten bezahlt, während die Versicherungskonzerne und ihre Kunden einen ordentlichen Reibach gemacht haben.«

Und wie sieht die Alternative aus?

»Szenario 2 (herkömmliche Finanzierung über Kredite durch den Staat): Der Bund finanziert das Projekt über eine Neuverschuldung i.H.v. 1.000 Mio. Euro, die Kosten werden über 30 Jahre gestreckt mit einer Verzinsung von 1% (dies ist der aktuelle Zinssatz für derart langlaufende Staatsanleihen) aus den laufenden Einnahmen aus der Maut beglichen. Bei diesem Modell belaufen sich die Kosten auf lediglich 1.145 Mio. Euro.«

Das würde bei einer nüchternen Betrachtung doch alles dafür sprechen, auf die Einschaltung der privaten Konzerne zu verzichten.

Und unser Riester-Rentner? Der hat derzeit ganz andere Sorgen, die ihn möglicherweise davon abhalten, „nur“ wegen der Betroffenheit „der“ Steuerzahler insgesamt nicht auf das scheinbar verlockende Angebot einzugehen. Dafür nur ein Beispiel von vielen:
Daniel Mohr berichtet in seinem Artikel Riestern lohnt sich für fast alle, der zugleich Programm ist:
»Viele der derzeit 16 Millionen Riester-Verträge beruhen auf einem Missverständnis. Die staatliche Zulage wurde mit einer Art Staatsgarantie für eine gute Altersvorsorge verwechselt. Ein oft teurer Irrtum. Die Anbieter von Riester-Verträgen hatten leichtes Spiel … Doch die staatliche Zulassung als zertifizierter Riester-Anbieter ist nichts anderes als eine Prüfung formaler Kriterien. Sie sagt nichts darüber aus, ob der Anleger tatsächlich einen vernünftigen Vertrag für seine Altersvorsorge abgeschlossen hat.«

»In diesen Wochen erhalten die Riester-Kunden wieder ihre Jahresabrechnungen. Beispielhaft eine im Dezember 2006 abgeschlossene Riester-Rente: Das Vertragsguthaben beträgt nach mehr als acht Jahren 12.200 Euro. Doch der Kunde hat 13.400 Euro eingezahlt. Dazu kamen fast 2.000 Euro staatliche Zulagen. Doch der Versicherer hat fast 5.000 Euro an Gebühren kassiert. Die haben damit die staatlichen Zulagen weit überwogen und auch die Erträge aus der Geldanlage von rund 1800 Euro locker aufgefressen. Von den Kosten war im Beratungsgespräch natürlich nie die Rede. Nur von den Zulagen.«

Eigentlich spricht das, was Mohr berichtet, für sich und gegen die Riester-Rente, dennoch schafft es der Verfasser, wie die Überschrift des Artikels anzeigt, dennoch eine große Werberede für die Riester-Rente zu halten.

Fazit: Wir stehen vor einem großen Theater, dessen Ende leider offensichtlich ist, folgt das Stück doch einem Drehbuch mit einer ganz eigenen Logik starker Interessen. Die kann und muss man zur Kenntnis nehmen, aber der kleine Riester-Rentner sollte nicht meinen, dass er oder sie mehr sein wird als eine billige legitimatorische Staffage in einem – für andere – sehr lukrativen Stück.

Die ganze Thematik wurde auch aufgegriffen in einem Beitrag des Politikmagazins „Panorama“ (ARD) am 19.03.2015: Warum ein englischer Rentner von einem deutschen Knast profitiert, so ist der Filmbeitrag überschrieben.

Ergänzend dazu die Reportage Vielen Dank, Deutschland! von Marcus Pfeil und Christian Salewski: »Sigmar Gabriel will mit privatem Geld das Investitionsloch im Land stopfen. Schulen, Schwimmhallen und Autobahnen will er fit machen für den Kapitalmarkt. Gibt es längst – auch in Deutschland. Ein Knast in Sachsen-Anhalt hat es bis an die Londoner Börse geschafft, am Ende landet das Geld sogar bei britischen Rentnern. Lässt sich auch die deutsche Altersvorsorge mit Infrastruktur retten?«