Jedes Jahr veröffentlichen einzelne Kranken- und Pflegekassen sogenannte „Pflegereporte“ – eine wahre Fundgrube an Materialien zu Entwicklung der Pflegelandschaft. So war das auch 2024.

Aus den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik
Jedes Jahr veröffentlichen einzelne Kranken- und Pflegekassen sogenannte „Pflegereporte“ – eine wahre Fundgrube an Materialien zu Entwicklung der Pflegelandschaft. So war das auch 2024.

Im Frühjahr 2024 richteten sich für einen dieser für unsere Zeit so typischen sehr kurzen Momente die Scheinwerfer der medialen Berichterstattung auf einen angeblich „explosionsartigen“ Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen mit Leistungsanspruch nach SGB XI. Angeblich, so der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), wäre im Jahr 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über 360.000. „Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau“, so der Minister im Mai 2024. Besonders putzig war der präferierte Erklärungsversuch des offensichtlich überforderten Ministers: »Ich gehe vielmehr davon aus, dass wir einen Sandwicheffekt erleben: Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden. Es gibt also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und deren Eltern.« Also die Babyboomer tragen sicher für vieles die Verantwortung, aber derzeit wohl kaum für die Dynamik bei der Zahl der Pflegebedürftigen – denn es handelt sich um diejenigen, die zwischen Mitte der 1950er und Ende der 1960er Jahre, als jeder einzelne Jahrgang mit teilweise deutlich über eine Million Geburten besetzt war, zur Welt gekommen sind und die sind heute um die 60 Jahre und damit (noch) nicht wirklich relevant für die Pflegebedürftigkeit.
Der Bundesgesundheitsminister wurde befragt und gab Auskunft: »Klar ist, dass wir mittel- und längerfristig eine solidere Form der Finanzierung der Pflege benötigen. Mit dem jetzigen Beitragssystem allein werden wir das Leistungsniveau der Pflege nicht erhalten können. Es gilt zu verhindern, dass die Pflege durch Preissteigerungen und höhere Löhne für die Pflegekräfte entwertet wird. Deshalb müssen die Leistungen dynamisiert, also regelmäßig erhöht werden.« Und er weist darauf hin, dass Deutschland im internationalen Vergleich nicht übermäßig viel für die Pflege ausgibt. »Hier ist vieles schon jetzt auf Kante genäht. So darf es nicht bleiben.« Da werden viele grundsätzliche zustimmen und natürlich sogleich die Frage aufwerfen, woher und damit von wem denn die offensichtlich erforderlichen Ausgaben geschultert werden sollen/müssen. Genau darüber hat sich über Monate eine interministerielle Arbeitsgruppe (beteiligt sind das Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Familienministerium) Gedanken gemacht. Hintergrund: Im Pflegeunterstützungs- und entlastungsgesetz (Pueg) von 2023 war das Bundesgesundheitsministerium angehalten worden, bis 31. Mai 2024 Vorschläge für eine nachhaltige Pflegereform vorzulegen. Kommt da (noch) was?
Das sind Schlagzeilen, die in der modernen Medienwelt geliebt werden, garantiert doch die alarmierend daherkommende, Bedrohungsgefühle und Ängste auslösende semantische Zuspitzung – immerhin vom Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vorgetragen – auf dem den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgenden Markt der öffentlichen Wahrnehmung sichere Klicks in der flüchtigen Welt des Nachrichtenstroms: Lauterbach sieht „explosionsartigen“ Anstieg bei Pflegebedürftigen. Diese und andere Artikel verweisen auf ein Interview des Ministers mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Dort wird er mit den Worten zitiert: »In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflegebedürftigen geradezu explosionsartig gestiegen. Demografisch bedingt wäre 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über 360.000. Eine so starke Zunahme in so kurzer Zeit muss uns zu denken geben. Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau.«
Das liest sich doppelt alarmierend: Statt 50.000 über 360.000 neue Pflegefälle? Und dann versteht man da oben nicht genau, warum es so einen starken Anstieg gegeben haben soll? Alles sehr beunruhigend, wenn es denn so wäre. Der krasse Unterschied zwischen dem, was angeblich zu erwarten war und was dann tatsächlich gekommen ist, die ist durch die Berichterstattung bei vielen hängengeblieben. Aber schauen wir uns mal die Zahlen genauer an:

Aus der Klima-Diskussion kennen viele den Begriff der „Kipppunkte“. Was muss man sich darunter vorstellen? »Die Klimaforschung diskutiert seit den frühen 2000er-Jahren über Kipppunkte im Erdsystem – damals definierten Forscher um Johann Rockström und Timothy Lenton neun entsprechende Punkte, darunter das Abschmelzen der Eisschilde am Nord- und Südpol, die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes oder das Erlahmen der thermohalinen Zirkulation – einer wichtigen Ozeanströmung. Kippen sie, so das Konzept, sei diese Veränderung irreversibel. Das Bild einer auf dem Tisch stehenden Kaffeetasse wird gerne von der Klimaforschung dafür verwendet. Lange Zeit kann sie bis über den Tischrand geschoben werden, ohne dass sie herunterfällt. Irgendwann steht sie so weit über dem Tischrand, dass sie kippt und fällt«, so der Erläuterungsversuch von Janina Schreiber in ihrem Artikel Wenn das Klima kippt. Darin verweist sie auf den im Dezember 2023 veröffentlichten Bericht Global Tipping Points. Mehr als 200 Wissenschaftler aus den Klima- und Sozialwissenschaften aus 26 Ländern haben an dem Bericht mitgearbeitet. In dem Report wird auch auf sogenannte „positive“ Kipppunkte hingewiesen, also nicht nur ein gerne rezipiertes apokalyptisch daherkommendes Szenario aufgemacht.
Vor dem Hintergrund dieser wie man sich vorstellen kann überaus kontroversen Debatte in der Klimaforschung und den klimapolitischen Schlussfolgerungen kommt es erst einmal eher marketingtechnisch rüber, wenn in einem der vielen jährlich veröffentlichten Berichte über die Pflege von „Kipppunkten der Pflege“ gesprochen wird. Aber da steckt mehr Substanz drin.