Nicht nur die Baby-Boomer: Kipppunkte der Pflege ante portas?

Aus der Klima-Diskussion kennen viele den Begriff der „Kipppunkte“. Was muss man sich darunter vorstellen? »Die Klimaforschung diskutiert seit den frühen 2000er-Jahren über Kipppunkte im Erdsystem – damals definierten Forscher um Johann Rockström und Timothy Lenton neun entsprechende Punkte, darunter das Abschmelzen der Eisschilde am Nord- und Südpol, die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes oder das Erlahmen der thermohalinen Zirkulation – einer wichtigen Ozeanströmung. Kippen sie, so das Konzept, sei diese Veränderung irreversibel. Das Bild einer auf dem Tisch stehenden Kaffeetasse wird gerne von der Klimaforschung dafür verwendet. Lange Zeit kann sie bis über den Tischrand geschoben werden, ohne dass sie herunterfällt. Irgendwann steht sie so weit über dem Tischrand, dass sie kippt und fällt«, so der Erläuterungsversuch von Janina Schreiber in ihrem Artikel Wenn das Klima kippt. Darin verweist sie auf den im Dezember 2023 veröffentlichten Bericht Global Tipping Points. Mehr als 200 Wissenschaftler aus den Klima- und Sozialwissenschaften aus 26 Ländern haben an dem Bericht mitgearbeitet. In dem Report wird auch auf sogenannte „positive“ Kipppunkte hingewiesen, also nicht nur ein gerne rezipiertes apokalyptisch daherkommendes Szenario aufgemacht.

Vor dem Hintergrund dieser wie man sich vorstellen kann überaus kontroversen Debatte in der Klimaforschung und den klimapolitischen Schlussfolgerungen kommt es erst einmal eher marketingtechnisch rüber, wenn in einem der vielen jährlich veröffentlichten Berichte über die Pflege von „Kipppunkten der Pflege“ gesprochen wird. Aber da steckt mehr Substanz drin.

Wo das auftaucht? Im neuen DAK Pflegereport 2024. Der Bericht beruht auf fünf eigenständigen Analysen, u.a. eine repräsentative Bevölkerungsbefragung, eine Analyse der GKV-Routinedaten zur gesundheitlichen Situation und krankheitsbedingten Beeinträchtigungen von beruflich Pflegenden sowie eine Untersuchung über das Verhältnis von Qualifizierungen und altersbedingtem Berufsaustritten in der Pflege.

Hier findet man das Original:

➔ Thomas Klie et al. (2024): Pflegereport 2024. Die Baby-Boomer und die Zukunft der Pflege – Beruflich Pflegende im Fokus. Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung Bd. 47, Hamburg: DAK-Gesundheit, April 2024

Welchen zentralen Ergebnisse werden uns präsentiert? Dazu die Zusammenfassung unter der Überschrift DAK-Pflegereport 2024: Die Baby-Boomer und die Zukunft der Pflege – beruflich Pflegende im Fokus.

Die Pflegeversicherung im demografischen Transformationsprozess

Hier taucht gleich am Anfang der Begriff der Kipppunkte auf – offensichtlich mit Blick auf die Relation derjenigen, die das Berufsfeld Pflege altersbedingt verlassen zu denen, die „unten“ nachkommen:

➞ Kipppunkte der Pflege ab Ende der 2020er Jahre: Altersbedingte Austritte aus dem Pflegeberuf werden nicht mehr durch Absolventen / Absolventinnen von Pflegefachschulen ersetzt werden können.
➞ Ältere Pflegekräfte sind von gesundheitlichen Belastungen besonders betroffen und weisen eine hohe Zahl von Arbeitsunfähigkeitstagen auf, in der Altenpflege liegt sie im Schnitt bei über 50 Tagen per anno. Auf sie haben sich Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung in besonderer Weise auszurichten.
➞ Die demographische Transformation führt zu steigendem Bedarf an pflegerischer Unterstützung bei gleichzeitig abnehmenden Personalressourcen.

Und dann wird ein wichtiger Aspekt aufgerufen:

➞ Die Baby Boomer sind das Problem und die Lösung zugleich: Angesichts eines zurückgehenden Familienpflegepotentials bedarf neuer Formen informeller und solidarischer Unterstützung in einer Gesellschaft des langen Lebens.

Was denkt und sagt die Bevölkerung?

Das Thema Pflege, Pflegeversicherung und Personalmangel in der Pflege wird von der Bevölkerung als eines der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit gewertet. Das ist angesichts der nun schon seit vielen Jahren geführten Diskussion sowie der persönlichen Erfahrungen der Menschen in ihrem engeren und weiteren Umfeld eher trivial, denn man muss schon mit Realitätsverweigerung geschlagen sein, wenn man das nicht erkennt. Was resultiert daraus für die Befragten? Über 50 Prozent der über 40-Jährigen sind bereit, Nachbarn, Freunde und Bekannte bei Pflegebedürftigkeit regelmäßig im Alltag zu unterstützen. Sagen sie zumindest.

Die Bevölkerung ist überwiegend ratlos, wie sich das Problem der Sicherstellung der pflegerischen Versorgung in der Zukunft lösen und finanzieren lässt. Das spiegelt nicht nur die Stimmung bzw. Wahrnehmung der breiten Bevölkerung, sondern man kann diesen Befund sicher auch auf das politische Feld im engeren Sinne beziehen.

Und mit Blick auf „neue“, zumindest andere Versorgungsformen als das, was man in der Alten- bzw. Langzeitpflege bislang kennt, interessant: Über 50 Prozent der deutschen Bevölkerung wünschen sich bei Pflegewohngruppen eine finanzielle Unterstützung vergleichbar mit der von Pflegeheimen. Unter den Personen, die dieses Angebot bereits vor der Befragung kannten, steigt dieser Anteil nochmals an. »Eine Mixtur aus nachberuflicher Erwerbstätigkeit und bürgerschaftlichem Engagement vor Ort könnte einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Pflegesituation leisten. Bisherige Regelungen sind zu bürokratisch (z.B. die Anerkennungsvoraussetzungen für die Leistungserbringung gem. § 45b SGB XI). Von Pflegediensten organisierte betreuungs- und hauswirtschaftliche Unterstützungsformen stehen zudem nicht in bedarfsdeckendem Maße zur Verfügung.«

Arbeitsunfähigkeit beruflich Pflegender: ein Weckruf

Zuerst einmal ein wichtiger Befund vor dem Hintergrund der oftmals kolportierten Behauptung, dass beruflich Pflegende nur wenige Jahre im Beruf bleiben und dann aussteigen: Pflegekräfte, insbesondere Pflegehilfskräfte bleiben trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen lange im Beruf. Aber sie sind in besonderer Weise von gesundheitlichen Risiken betroffen. Dabei spielen sowohl Erkrankungen im Bewegungsapparat eine Rolle als auch – und dies in besonders ausgeprägter Weise – psychische Belastungen.

Und mit Blick auf die stark besetzten Jahrgänge der Baby-Boomer auch in der Pflege: Beruflich Pflegende der Boomer-Generation sind besonders häufig von gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen und weisen eine hohe Zahl von Arbeitsunfähigkeitstagen auf, in der Altenpflege liegt sie im Schnitt bei über 50 Tagen pro Jahr. Das liegt deutlich über dem Durchschnitt der Beschäftigten:

Die zentrale Schlussfolgerung kann man in dieser Allgemeinheit nur teilen: »Die gesundheitlichen Belastungen von beruflich Pflegenden im späteren Erwerbsalter (Baby-Boomer) fordern eine explizite Präventions- und Gesundheitsförderungsstrategie für beruflich Pflegende. Auch die Arbeitsbedingungen gilt es, weiter in den Fokus pflegepolitischer Aufmerksamkeit zu rücken.«

Ende der 2020er Jahre werden erste Kipppunkte erreicht

Zuerst behauptet der neue Pflegereport der DAK: Eine ganze Reihe von Narrativen, die die Pflegediskussion bestimmen, entbehren einer empirischen Grundlage. Was meinen die damit?

➞ Pflegekräfte haben keine kurze Verweildauer im Beruf. Im Gegenteil: Sie sind berufstreu.
➞ Die Zahl der Erwerbstätigen in der beruflichen Pflege ist stabil. Es gibt keine Hinweise darauf, dass ein „Pflexit“ (eine coronabedingte Flucht aus dem Pflegeberuf) stattgefunden hat. Hier muss man aber anmerken, dass die Engführung des „Pflexits“ auf einen möglichen pandemiebedingten Ausstieg aus dem Beruf verkürzt ist, die Debatte, die sich hinter diesem Begriff verbirgt, ist weiter ausgreifend und nicht auf die Besonderheiten der Corona-Jahre begrenzt.
➞ »Der Pflegeberuf ist nicht unattraktiv: 2020/2021 wurden so viele Pflegende ausgebildet wie noch nie. Die Ausbildungszahlen halten sich auch nach Einführung der generalistischen Ausbildung stabil – dabei spielen allerdings Zugewanderte regional eine zum Teil dominante Rolle.« Das ist aber nur teilweise richtig, was die Ausbildungszahlen in den Pflegefachberufen angeht. Siehe hierzu ausführlicher den Beitrag Das ist weiterhin nicht gut. Die Entwicklung der Ausbildungszahlen in den Pflegefachberufen vom 13. April 2024.
➞ Beruflich Pflegende sind sektoren- und ortstreu: Ein Sog ins Krankenhaus wegen besserer Bezahlung oder Arbeitsbedingungen lässt sich nicht nachweisen.

Dann aber kommt ein wichtiger Hinweis, der auch hier bereits immer wieder angeführt wird, wenn es um „den“ Pflegearbeitsmarkt geht, was sich dann in der einen vielfach zitierten Zahl an fehlenden Pflegekräften niederschlägt, was einen bundesdeutschen Arbeitsmarkt voraussetzt, den es aber hier nicht gibt:

»Pflege ist ein regionaler Beruf, der Arbeitsmarkt der Pflege ist regional: Insofern sind konsequent regionale Betrachtungsweisen anzustellen, wenn es um die Einschätzung des Pflegepersonals aber auch der demografischen Dynamiken geht.«

Und weiter heißt es: »Der Arbeitsmarkt der Pflege ist regional: Insofern sind konsequent regionale Betrachtungsweisen anzustellen, wenn es um die Einschätzung des Pflegepersonals aber auch der demografischen Dynamiken geht. Ein Ausbau der Personalkapazitäten in der Pflege wird demografiebedingt nicht gelingen – mithilfe von Zuwanderung lässt er sich bestenfalls stabil halten. Weitere berufliche Qualifikationen auf dem Niveau von Assistenzberufen werden gefragt sein.«

Und dann werden sie konkretisiert, die „Kipppunkte“ der Pflege:

➔ »Die ersten Kippunkte (die Renteneintritte übertreffen die Quote der Berufseinsteiger, die in den Beruf einmünden) werden in den ersten Bundesländern ab 2029 erwartet.«

Noch in den 2020er-Jahren werde es nicht mehr ausreichend nachrückende Absolventen von Pflegeschulen geben, um die Lücke der aus dem Beruf ausscheidenden Baby-Boomer zu schließen. So gab es laut 2023 über 1,14 Millionen professionell Pflegende in Deutschland. Mehr als jeder Fünfte von ihnen erreiche in den nächsten zehn Jahren das Rentenalter. In jedem Bundesland müssten dann um die 20 Prozent des Personals ersetzt werden – der Bedarf variiere zwischen 19,7 Prozent in Sachsen und 26,5 Prozent in Bremen. Wenn man Kipppunkte dahingehend definiert, dass es sich um (Zeit)Punkte handelt, an denen deutlich mehr Pflegende in den Ruhestand gehen als Nachwuchskräfte in den Beruf einsteigen, dann werde das in Bremen und Bayern bereits 2029 der Fall sein.

Pflegepolitische Forderungen im DAK Pflegereport 2024

Der DAK Pflegereport 2014 lässt drei zentrale Herausforderungen sichtbar werden, auf die sich die Gesundheits- und Pflegepolitik zu konzentrieren habe:

1. Die Sicherung der fachpflegerischen Versorgung verlangt nach einem kompetenzorientierten Einsatz von Pflegekräften inklusive eigenständiger heilkundlicher Aufgabenwahrnehmung. Das Pflegekompetenzgesetz könnte hier einen wichtigen Beitrag leisten. Neben der Fachpflegekräfte, zu denen akademisierte Pflegeausbildungen ihren Beitrag zu leisten haben, sind Assistenzberufe sowohl in der Pflege als auch in der Hauswirtschaft gefragt. Sie gilt es konsequent und flächendeckend zu etablieren.

2. Die Finanzierung der Pflegeversicherung ist nicht einmal bis Ende 2024 gesichert. Es müssen dringend alle Anstrengungen unternommen werden, die soziale Pflegeversicherung in ihrem Bestand zu sichern und zukunftsfest zu machen. Alle Überlegungen, (zusätzlich) eine kapitalgedeckte Pflegezusatzversicherung einzuführen, helfen nicht, um den absehbar kurzfristigen Finanzierungsbedarf der Pflege zu decken: Sie greifen erst dann, wenn der Peak an Pflegebedürftigkeit, der durch die Boomer ausgelöst wird, verstrichen ist. Sie führen überdies zu einer zusätzlichen Belastung der jüngeren Generation. Die Stabilisierung häuslicher Pflegearrangements ist einer der Schlüssel zur Sicherung der Finanzierung der Pflegeversicherung.

3. Die Baby-Boomer sind das Problem und die Lösung zugleich: Durch die für die Boomer-Generation typische Individualisierung, die Veränderung von Lebensverhältnissen und die Abnahme von Familienbindungen werden andere soziale Netzwerke an Bedeutung gewinnen: Nachbarschaften, Freundschaften, zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse. Diese Formen der Selbstorganisation von Sorge, fachlich begleitet durch Fachkräfte, wird eine der zentralen Perspektiven für die Sicherung der Pflege darstellen müssen, mit kommunalen Unterstützungsformen und einem effizienten Einsatz von Pflegefachkräften. Dabei bedarf es auch der bürokratischen Abrüstung im Bereich der Pflegedienste und der Unterstützungsleistungen.

Vor allem der dritte Punkt wird für eine in die Zukunft gerichtete Diskussion über die Sicherstellung – welcher? – Versorgung der pflegebedürftigen Menschen in den kommende Jahren von zentraler Bedeutung. Hier lassen sich viele fachpolitische Debatten, die schon seit Jahren geführt werden, andocken (man denke hier an eine geforderte umfassende Kommunalisierung der Langzeitpflege, an die Auseinandersetzung mit neuen Wohn- und Betreuungsformen zwischen oder jenseits der Versäulung in häusliche, ambulante und stationäre Betreuung und Pflege, um nur zwei Beispielbereiche zu nennen).

Aber die damit einhergehenden Herausforderungen und Belastungen müssen auch politisch kommuniziert werden (vor allem gegenüber den Menschen aus der Baby-Boomer-Generation). Da zeigt sich bislang eine der vielen Leerstellen der pflegepolitischen Diskussion.