Der angeblich „explosionsartige“ Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen und die Infragestellung von Pflegegrad 1

Im Frühjahr 2024 richteten sich für einen dieser für unsere Zeit so typischen sehr kurzen Momente die Scheinwerfer der medialen Berichterstattung auf einen angeblich „explosionsartigen“ Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen mit Leistungsanspruch nach SGB XI. Angeblich, so der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), wäre im Jahr 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über 360.000. „Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau“, so der Minister im Mai 2024. Besonders putzig war der präferierte Erklärungsversuch des offensichtlich überforderten Ministers: »Ich gehe vielmehr davon aus, dass wir einen Sandwich­effekt erleben: Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden. Es gibt also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und deren Eltern.« Also die Babyboomer tragen sicher für vieles die Verantwortung, aber derzeit wohl kaum für die Dynamik bei der Zahl der Pflegebedürftigen – denn es handelt sich um diejenigen, die zwischen Mitte der 1950er und Ende der 1960er Jahre, als jeder einzelne Jahrgang mit teilweise deutlich über eine Million Geburten besetzt war, zur Welt gekommen sind und die sind heute um die 60 Jahre und damit (noch) nicht wirklich relevant für die Pflegebedürftigkeit.

Dass der Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen gar nicht so „explosionartig“ war und ist und warum hinter den Schreckensmeldungen des Ministers eher haushaltspolitische Motive stehen, wurde hier ausführlich in diesem Beitrag analysiert: Von einem gar nicht so „explosionsartigen“ Anstieg der neuen Pflegefälle (nach SGB XI) und der eigentlichen Dramatik hinter der primär haushaltspolitisch motivierten Dramatisierung (28.05.2024).

Auch von anderer Seite wurden die Zahlen – mit einem Blick auf die der tatsächlichen Pflegebedürftigkeit gleichsam vorgelagerten Zahlen der für eine Einstufung des Schweregerads der Pflegebedürftigkeit erforderlichen Pflegebegutachtungen – eingeordnet: »Der Medizinische Dienst (MD) Bund ist nicht überrascht über den starken Anstieg der Zahl pflegebedürftiger Menschen, den Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vor kurzem verkündet hatte«, so diese Meldung aus dem Juni 2024: Zahl der Pflegebegutachtungen steigt kontinuierlich an. „Die Anzahl der Pflegebegutachtungen durch den MD steigt seit 2016 kontinuierlich an: von 1,67 Millionen auf 2,89 Millionen im letzten Jahr“, wird die stellvertretende Vorstandsvorsitzende des MD Bund, Carola Engler, zitiert. Die Anzahl der Pflegebegutachtungen sei in den vergangenen Jahren dabei zum einen infolge des demografischen Wandels und zum anderen durch die Einführung der fünf Pflegegrade im Jahr 2017 erheblich gestiegen. Ein weiterer Grund sei, dass pflegebedürftige Menschen heute häufiger begutachtet würden als früher: wenn sie eine Höherstufung in einen anderen Pflegegrad beantragen. Mit Blick auf das Jahr 2023 erfahren wir: »Bei den 2,89 Millionen Pflegebegutachtungen im vergangenen Jahr erhielten 17,1 Prozent der Pflegebedürftigen den Pflegegrad 1, 30,9 Prozent den Pflegegrad 2 und 24,8 Prozent den Pflegegrad 3. Den Pflegegrad 4 erhielten 12,6 Prozent der Pflegebedürftigen, beim Pflegegrad 5 waren es 5,3 Prozent. In neun Prozent der Fälle entschied der MD, dass kein Pflegegrad vorliegt.«

Bei der vor kurzem ablaufenden Suche nach den Ursachen für den Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen in der Abgrenzung des SGB XI wurde dann auch ein differenzierterer Blick darauf geworfen, welche Fallkonstellationen besonders zugelegt haben. Und dabei wurde die Aufmerksamkeit schnell auf die Dynamik beim Pflegegrad 1, also der niedrigsten Stufe der Pflegebedürftigkeit in der Hierarchie der fünf Pflegegrade nach SGB XI, gelenkt.

Mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) wurde das bisherige System der drei Pflegestufen ab dem 1.1.2017 durch ein System aus fünf Pflegegraden ersetzt. Durch ein neues Begutachtungsinstrument werden Aspekte der Pflegebedürftigkeit erfasst, unabhängig davon, ob diese auf körperlichen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen beruhen. Entscheidend für die Einstufung in die Pflegegrade ist der Grad der Selbständigkeit der pflegebedürftigen Menschen. Die Pflegegrade sind:
Pflegegrad 1: geringe Beeinträchtigung der Selbständigkeit
Pflegegrad 2: erhebliche Beeinträchtigung der Selbständigkeit
Pflegegrad 3: schwere Beeinträchtigung der Selbständigkeit
Pflegegrad 4: schwerste Beeinträchtigung der Selbständigkeit
Pflegegrad 5: schwerste Beeinträchtigung der Selbständigkeit mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung.
Für die Umstellung von den drei Pflegestufen auf die fünf Pflegegrade galten automatische Überleitungs- und Bestandsschutzregeln, die eine Schlechterstellung von Pflegebedürftigen im neuen System verhinderten.

Die Leistungen der Pflegeversicherung bei Pflegegrad 1 und deren Besonderheiten im Vergleich zu den Pflegegraden 2 bis 5

Den Pflegegrad 1 und die damit einhergehenden Leistungen bzw. Leistungsansprüche gibt es erst seit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Jahr 2017. Besonders relevant ist die Intention des Gesetzgebers. Dazu seitens des Bundesgesundheitsministeriums diese Ausführungen: »Seit der Einführung des neuen geltenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Recht der Pflegeversicherung zum 1. Januar 2017 werden in den neuen Pflegegrad 1 Menschen eingestuft, die nur verhältnismäßig geringe Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen. Dies betrifft zum Beispiel Menschen mit geringen körperlichen Beeinträchtigungen aufgrund von Wirbelsäulen- oder Gelenkerkrankungen. Dadurch, dass in solchen Fällen bereits bei geringeren Beeinträchtigungen bestimmte Leistungen zur Unterstützung, Beratung und Schulung der Pflegebedürftigen und ihrer Pflegepersonen zur Verfügung gestellt werden, werden früher als zuvor Möglichkeiten geschaffen, die Selbstständigkeit zu erhalten oder wieder zu verbessern. Durch die Einführung des Pflegegrades 1 wurde der Kreis der Menschen, die Leistungen der Pflegeversicherung erhalten können, deutlich erweitert.«

Und der wichtigste Unterschied zu den Leistungsansprüchen ab Pflegegrad 2: »Aufgrund der vergleichsweise geringen Beeinträchtigungen, die in Pflegegrad 1 vorliegen, werden für diesen Personenkreis noch keine ambulanten Sachleistungen durch Pflegedienste oder Pflegegeld vorgesehen, wie sie für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 erbracht werden. Die Leistungen der Pflegeversicherung für Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 konzentrieren sich vielmehr darauf, die Selbstständigkeit der Betroffenen durch frühzeitige Hilfestellungen möglichst lange zu erhalten und ihnen den Verbleib in der vertrauten häuslichen Umgebung zu ermöglichen.«

Was also können diejenigen an Leistungen erwarten, die in Pflegegrad 1 eingestuft werden?

Pflegebedürftige im Pflegegrad 1 haben
➔ Anspruch auf eine umfassende individuelle Pflegeberatung, mit der bereits frühzeitig auf ihre konkrete Situation eingegangen werden kann.
➔ Darüber hinaus können sie einmal je Halbjahr eine Beratung in der eigenen Häuslichkeit durch eine hierfür zugelassene Stelle – beispielsweise durch einen zugelassenen Pflegedienst – in Anspruch nehmen.
➔ Insbesondere für pflegende An- und Zugehörige besteht die Möglichkeit, kostenfrei an einem Pflegekurs teilzunehmen.
➔ Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 haben bei Bedarf zudem Anspruch auf finanzielle Zuschüsse zur Anpassung ihres Wohnumfelds (zum Beispiel zum Einbau einer barrierefreien Dusche, derzeit max. 4.000 Euro je Wohnumfeldverbesserungsmaßnahme) und auf eine Versorgung mit Pflegehilfsmitteln (derzeit 40 Euro monatlich sowie 100 Prozent der Kosten für technische Pflegehilfsmittel und sonstige Hilfsmittel*) sowie mit digitalen Pflegeanwendungen einschließlich ergänzender Unterstützungsleistungen.
➔ Wohnen die Pflegebedürftigkeit mit Pflegegrad 1 in einer ambulant betreuten Wohngruppe im Sinne des Rechts der Pflegeversicherung, haben sie außerdem Anspruch auf den Wohngruppenzuschlag (zur Zeit 214 Euro pro Monat)und gegebenenfalls die Anschubfinanzierung zur Gründung ambulant betreuter Wohngruppen.
➔ Darüber hinaus steht auch ihnen bei häuslicher Pflege der Entlastungsbetrag in Höhe von bis zu 125 Euro monatlich zu. Dieser kann in Pflegegrad 1 grundsätzlich genauso eingesetzt werden wie in den Pflegegraden 2 bis 5, allerdings mit einer Besonderheit: Anders als in den Pflegegraden 2 bis 5 kann der Entlastungsbetrag in Pflegegrad 1 auch für Leistungen ambulanter Pflegedienste im Bereich der körperbezogenen Selbstversorgung (das sind bestimmte Leistungen aus dem Bereich der körperbezogenen Pflegemaßnahmen) eingesetzt werden. Das bedeutet, dass in Pflegegrad 1 der Entlastungsbetrag beispielsweise auch für die Unterstützung durch einen Pflegedienst beim Duschen oder Baden genutzt werden kann.
➔ Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 mit vollstationärer Pflege in einem Pflegeheim erhalten von der Pflegeversicherung einen Zuschuss in Höhe von 125 Euro monatlich. In teil- und vollstationären Einrichtungen haben sie wie alle Versicherten außerdem Anspruch auf zusätzliche Betreuung und Aktivierung. Auch die Leistungen bei Pflegezeit und kurzzeitiger Arbeitsverhinderung stehen bei Pflegegrad 1 zur Verfügung.

*) Unter bestimmten Voraussetzungen ist jedoch eine Zuzahlung von 10 %, höchstens 25 € je Pflegehilfsmittel, zu leisten. Technische Pflegehilfsmittel werden vorrangig leihweise, also unentgeltlich und somit zuzahlungsfrei zur Verfügung
gestellt.

Quellen: Bundesgesundheitsministerium (2024): Leistungen bei Pflegegrad 1 sowie Bundesgesundheitsministerium (2024): Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung. Stand: 15. Juli 2024, Berlin 2024, hier: „Leistungsansprüche im Jahr 2024 in Euro“, S. 8-11

Zusammenfassend: Es stehen Leistungen im Vordergrund, die den Verbleib in der häuslichen Umgebung sicherstellen sollen. Das war auch mit der Einführung des Pflegegrades 1 beabsichtigt: Es ging darum, »die Selbstständigkeit der Betroffenen durch frühzeitige Hilfestellungen möglichst lange zu erhalten und ihnen den Verbleib in der vertrauten häuslichen Umgebung zu ermöglichen.«

Die Einführung des Pflegegrades 1 hat den Kreis der Menschen, die Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung haben, (deutlich) erweitert im Vergleich zur Situation vor der Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsdefinition im Jahr 2017. Das kann nicht überraschen, sondern muss als logische Folge der bewussten Leistungsausweitung gesehen werden.

Und das hat sich nun auch in den Zahlen niedergeschlagen. 2017 gab es im Pflegegrad 1 in der ambulanten Versorgung* 190.364 Leistungsempfänger. Für 2023 werden 778.824 ausgewiesen. wir sind hier also mit einem außergewöhnlichen Anstieg der Zahl der Leistungsempfänger konfrontiert, der die Dynamik in den anderen Pflegegrade um ein Vielfaches übertrifft.

*) In der stationären Versorgung spielen Leistungsempfänger mit Pflegegrad 1 keine Rolle: 2017 wurden hier 4.112 Leistungsempfänger gezählt, 2023 waren es nur noch 3.353.

Wenn es „nur“ um die Zahlen geht, könnte man auf die Idee kommen …

Dass sich die Soziale Pflegeversicherung in einer heftigen (finanziellen) Schieflage befindet, sollte mittlerweile überall bekannt sein. Und wenn über „zu viele“ Leistungsempfänger Klage geführt wird, die das System „überfordern“, dann könnte man auf die Idee kommen, an der Stelle einzugreifen, wo wir die Quelle der bisherigen Dynamik haben, also beim Pflegegrad 1. Bis hin zu einer Infragestellung dieses Einstiegspunktes in die Leistungswelt der Pflegeversicherung. Denn die Zahl der Pflegebedürftigen ist nicht erst im Jahr 2023 um über 300.000 gestiegen, sondern diese Dimension hatten wir bereits seit 2017 in Verbindung mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und der Einführung des Pflegegrades 1.

Und so eine Diskussion nahm dann auch kurzzeitig Fahrt auf – und den Pflegegrad 1 ins Visier. Dabei wurde dann explizit Bezug genommen auf die angesprochenen Pflegebegutachtungen und deren Entwicklung.

»Das Ziel der Reform war ausdrücklich, mehr Menschen einen Zugang zu Pflegeleistungen zu geben. Dahinter steckte auch die Hoffnung, präventive Maßnahmen früher zum Einsatz zu bringen, um es den Betroffenen auf diese Weise zu ermöglichen, länger im eigenen häuslichen Umfeld zu bleiben«, so Peter Thelen in seinem Beitrag „War die Einführung des Pflegegrads 1 ein Fehler?“, veröffentlicht vom Tagesspiegel Background am 21.06.2024. »Diese Erwartung hat sich nach den Daten des Medizinischen Dienstes zumindest in einer Hinsicht erfüllt: Es gab seither einen Boom bei den Anträgen und Begutachtungen um 70 Prozent – die meisten für den Bereich der ambulanten Pflege und für die unteren Pflegegrade Eins, Zwei und Drei.«

Und dann weist Thelen auf Medicproof hin, der für die Begutachtung der sozial im Alter oft besser gestellten privat Pflegeversicherten zuständige medizinische Dienst (sozusagen die kleine Schwester des Medizinischen Dienstes Bund, der für die Begutachtung in der Sozialen Pflegeversicherung zuständig ist), der eine eigene Analyse seiner Pflegebegutachtungen vorgelegt und sich dabei schwerpunktmäßig dem Pflegegrad 1 gewidmet hat. »Auch unter den Privatversicherten wuchsen seit 2017 vor allem die Anträge auf die unteren Pflegegrade. Die größte Dynamik gab es beim Pflegegrad 1. Im Jahr 2023 hatte er bereits einen Anteil von 24 Prozent der Erstbegutachtungen (Medinischer Dienst: 27,9 Prozent)«, berichtet Thelen. Dann aber kommt eine hier höchst relevante Formulierung: »Die Analyse … wirft aber zusätzlich die Frage auf, ob der Pflegegrad 1 überhaupt seinen Zweck erfüllt, schwerere Pflegebedürftigkeit zu vermeiden und Prävention und Rehabilitation zu fördern.« Hier öffnet sich ein (mögliches) Legitimationstor für die (mögliche) Infragestellung von Pflegegrad 1.

Da schauen wir doch erst einmal in das Original:

»Der im Jahr 2017 neu geschaffene Pflegegrad 1 führt dazu, dass die Zahl der weniger in ihrer Selbständigkeit eingeschränkten Pflegebedürftigen deutlich zunimmt. Das ist ein zentrales Ergebnis einer Analyse aus Begutachtungsdaten* des Jahres 2023 sowie einer Befragung der über 1.200 für Medicproof tätigen Gutachterinnen und Gutachter«, meldet Medicproof unter der Überschrift Pflegegrad 1 führt zu starkem Begutachtungsanstieg, versehen mit dem Untertitel „Gutachterbefragung und Datenanalyse zeigen, dass vor allem ältere – vergleichsweise selbständige – Versicherte begünstigt werden“. Und dieses Wachstum findet ausschließlich im ambulanten Bereich statt. Die Medicproof-Geschäftsführerin Franziska Kuhlmann wird mit den Worten zitiert: „Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass pflegebedürftig nicht gleich pflegebedürftig ist. Vielmehr hat sich die Spanne zwischen wenig und stark eingeschränkten Menschen durch die Reform 2017, in der drei Pflegestufen durch fünf Pflegegrade ersetzt wurden, deutlich vergrößert.“

Ja nun, könnte man anmerken, das ist ja auch logisch, wenn man einen bislang auf somatische Defizite begrenzten Pflegebedürftigkeitsbegriff mit drei Stufen nicht nur erweitert um weitere Einschränkungen, sondern auch die Skala von drei Stufen auf fünf Grade ausweitet und einen neuen Pflegegrad als neuen Einstiegspunkt bewusst einführt.

Aber lesen wir weiter: »Die Ergebnisse der Datenanalyse zeigen, dass die Einführung des Pflegegrads 1 vor allem älteren Versicherten den Zugang zu Leistungen aus der Pflegeversicherung erleichtert. Versicherte Personen, die im Anschluss an eine Erstbegutachtung Pflegegrad 1 erhalten, sind bei der Antragstellung mit fast 79 Jahren im Durchschnitt die ältesten Pflegebedürftigen. Diese sind entgegen dem verbreitenden Bild von Pflegebedürftigkeit in vielen Bereichen noch selbständig, benötigen aber in manchen Bereichen der Selbstversorgung, primär der Haushaltsführung, Unterstützung.« Und was genau fragen die hier genannten Betroffenen nach?

»Laut der befragten Gutachterinnen und Gutachter erhofften sich die Pflegebedürftigen von einem Antrag primär finanzielle Unterstützung (66 Prozent). Eine Einbindung professioneller Pflege würde nur in geringem Maße nachgefragt (16 Prozent). Heilmittel und Reha-Maßnahmen spielten für die Versicherten bei Antragstellung keine Rolle (0 Prozent). Die Mehrheit der Versicherten verfüge über Heilmittel oder sei ausreichend versorgt (59 Prozent).«

Und dann kommt es: »Über 80 Prozent der Gutachterinnen und Gutachter sehen keine Notwendigkeit, die Leistungen der Pflegeversicherung auf Personen auszuweiten, die aktuell keinen Pflegegrad erhalten. 36 Prozent sagen sogar, dass Personen mit Pflegegrad 1 keine Leistungen der Pflegeversicherung benötigten.«

Mehr als ein Drittel der Gutachter sind also laut der Befragung der Auffassung, dass der Pflegegrad 1 wegfallen könnte bzw. müsste.

Hier das Original der Befragungsergebnisse:

➔ Medicproof (2024): Pflegegrad 1 in der Begutachtung – Datenanalyse und Gutachterbefragung. Eine neue Gruppe Pflegebedürftiger, die zum starken Wachstum der Begutachtungen beiträgt. Wissenschaftliches Dossier, Köln 2024

Nun wieder zurück in den Text von Peter Thelen: »Das Verdienst der Analyse von Medicproof besteht vor allem darin, näher untersucht zu haben, um welche Patienten es sich beim neuen Pflegegrad 1 eigentlich handelt und warum sie einen Antrag gestellt haben.« Er bezieht sich auf die Einschätzung der Gutachter des medizinischen Dienstes der privat Pflegeversicherten: So können sich Menschen im Pflegegrad 1 „überwiegend“ oder „fast immer“ selbst gut versorgen. Dies gilt auch für 61 Prozent der Alleinlebenden. Nur ein Prozent kommt nach Einschätzung der Gutachter gar nicht mehr allein zurecht.

Was die Frage aufwirft, warum trotzdem ein Antrag gestellt wurde. 66 Prozent der Antragssteller geht es nach Angaben der Gutachter um die Geldleistung.

Thelen formuliert sein Fazit aus den Ergebnissen der Gutachter-Befragung so: »Letztlich helfe der Pflegegrad 1 Menschen, die auch ohne Pflegeleistungen auskommen würden, argumentieren sie. Zumal sich eine Erwartung an den neuen Pflegegrad 1 nicht erfüllt hat, zumindest für Privatversicherte: Dieser führe dort nämlich nicht zu einer signifikant stärkeren Inanspruchnahme von Präventivangeboten und von Leistungen zur Vermeidung schwererer Pflegebedürftigkeit.«

Pflegegrad 1: Kann das weg oder sollte das bleiben?

Mit Blick auf eine mögliche Infragestellung des offensichtlich mit einer besonderen Inanspruchdynamik versehenen Pflegegrades 1 sind es also eigentlich zwei mögliche Behauptungen, die man ableiten kann:

➔ Zum einen, dass Leistungen des Pflegegrades 1 von Menschen in Anspruch genommen werden, die eigentlich auch ohne Pflegeleistungen auskommen würden, man also letztendlich Geld „verschwendet“.

Dem entgegen steht die Zielsetzung dieses 2017 eingeführten besonders begrenzten Leistungsangebots: Es sollte ja gerade dazu beitragen, dass eine schwerwiegendere Pflegebedürftigkeit, die dann zu einer Einstufung in die Pflegegrade 2 bis 5 mit einem ausgeweiteten Leistungsanspruch führt, vermieden bzw. für einen bestimmten Zeitraum verzögert wird.

Vor diesem Hintergrund bleibt dann die zweite Behauptung bzw. Vorwurf:

➔ Das tatsächliche Inanspruchnahmeverhalten bei Pflegegrad 1 führt nicht zu einer signifikant stärkeren Inanspruchnahme von Präventivangeboten und von Leistungen zur Vermeidung schwererer Pflegebedürftigkeit, sondern die Betroffenen nehmen die reduzierte Geldleistung mit (die sie eigentlich nicht brauchen).

Wer was wirklich „braucht“ ist eine weitaus komplexere Frage, als es von denjenigen gedacht oder vorgestellt wird, die meistens materiell gut gepampert durchs Leben streifen können – und soll hier nicht weiter verfolgt werden.

Es bleibt die durchaus berechtigte Fragestellung, ob die Erfahrungen, die wir bislang mit der Inanspruchnahme von Leistungen im Pflegegrad 1 gemacht haben, mit der ursprünglichen Zielsetzung, die man mit der Einführung 2017 verbunden hat, konform gehen oder eben nicht. Es sei hier darauf hingewiesen, dass die doppelte Zielsetzung (zum einen die Menschen dabei zu unterstützen, so lange wie möglich in der eigenen Häuslichkeit zu verbleiben und gleichzeitig durch das Angebot von präventiv ausgerichteten Maßnahmen den Prozess der Intensivierung der Pflegebedürftigkeit abzubremsen und etwas Zeit zu gewinnen, bevor die Menschen in eine dann wesentlich teurere Pflegebedürftigkeit abrutschen) sozialpolitisch (und aus der individuellen Sicht der Betroffenen) gut begründete Ziele sind und man deren Erreichung nicht ohne guten Grund über Bord werfen sollte.

Insofern muss man genauer hinschauen, ob möglicherweise das tatsächliche Inanspruchnahmeverhalten nicht kontraproduktiv sein könnte, vor allem hinsichtlich des Vermeidungs- bzw. Verzögerungsziels. Da stehen durchaus große Fragezeichen im Raum. Deren Diskussion könnten dann durchaus zu dem Punkt führen, dass man die Ausgestaltung der Leistungen im Pflegegrad 1 zur Disposition stellt und dergestalt umbaut, dass mehr und bessere Anreize gesetzt werden, die ursprünglich und auch heute noch gegebenen Ziele auch zu erreichen.

Wenn die Diskussion über den Pflegegrad 1 aber letztendlich nur deshalb aufgerufen wird, weil man unter dem Segel „Die Leute nehmen die Leistungen mit, obwohl sie die gar nicht brauchen“ hin zu einer Abschaffung des Pflegegrades 1 kommen will, um die Ausgabenseite zu entlasten, dann sollte man lieber noch einmal nachdenken.