Finanzprobleme der Pflegeversicherung: Arbeitsverweigerung (ohne Sanktion)? Das Schulterzucken einer sich selbst blockierenden Regierung. Am Ende bleibt der Ausbau der Beitragssatztreppe. Nach oben

Der Bundesgesundheitsminister wurde befragt und gab Auskunft: »Klar ist, dass wir mittel- und längerfristig eine solidere Form der Finanzierung der Pflege benötigen. Mit dem jetzigen Beitrags­system allein werden wir das Leistungs­niveau der Pflege nicht erhalten können. Es gilt zu verhindern, dass die Pflege durch Preis­steigerungen und höhere Löhne für die Pflegekräfte entwertet wird. Deshalb müssen die Leistungen dynamisiert, also regelmäßig erhöht werden.« Und er weist darauf hin, dass Deutschland im internationalen Vergleich nicht übermäßig viel für die Pflege ausgibt. »Hier ist vieles schon jetzt auf Kante genäht. So darf es nicht bleiben.« Da werden viele grundsätzliche zustimmen und natürlich sogleich die Frage aufwerfen, woher und damit von wem denn die offensichtlich erforderlichen Ausgaben geschultert werden sollen/müssen. Genau darüber hat sich über Monate eine interministerielle Arbeitsgruppe (beteiligt sind das Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Familienministerium) Gedanken gemacht. Hintergrund: Im Pflegeunterstützungs- und entlastungsgesetz (Pueg) von 2023 war das Bundesgesundheitsministerium angehalten worden, bis 31. Mai 2024 Vorschläge für eine nachhaltige Pflegereform vorzulegen. Kommt da (noch) was?

»Wir sind im Zeitplan und werden auf Arbeitsebene bis Ende Mai fertig«, so der Minister im Interview. Dann aber kommt die Kapitulationserklärung gleich hinterher:

»Es wird wohl kaum zu einer einheitlichen Empfehlung aller Beteiligten kommen. Dafür sind die Ansichten der verschiedenen Ministerien beziehungsweise der Koalitions­partner zu unterschiedlich. Aber es gab eine sehr gute gemeinsame Problem­analyse. Wir werden die unterschiedlichen Lösungs­möglichkeiten neutral und fair nebeneinander­stellen.«

Damit allen klar ist, dass da nichts mehr passieren wird bis zur nächsten Bundestagswahl, die im Herbst 2025 stattfinden wird, wenn denn die Koalitionsparteien so lange durchhalten, lässt sich der Bundesgesundheitsminister so zitieren:

»Eine umfassende Finanzreform in der Pflege wird in dieser Legislatur­periode wahrscheinlich nicht mehr zu leisten sein. Dafür liegen die Ansichten zu weit auseinander. Im Übrigen würde dafür auch die verbleibende Zeit nicht reichen. Die Arbeit der Arbeits­gruppe ist aber eine gute Grundlage für eine große Pflegereform in der nächsten Wahlperiode. Dann muss sie aber auch kommen.«

Man könnte das auch schlichtweg als Arbeitsverweigerung bei vollem Bewusstsein bezeichnen, die im Bürgergeld-System eine Sanktionierung im Sinne eines Entzugs der Leistungen zur Folge hätte oder haben könnte. Zwar sind Lauterbach und Co. nicht im Bezug von Grundsicherungsleistungen, aber aus Steuergeldern werden sich doch auch finanziert.

Dieses Schulterzucken vor den offensichtlich nicht mehr auflösbaren inneren Blockaden der Ampel-Koalition muss aus mehreren Gründen empören.

Zum einen sind die grundlegenden Probleme der bestehenden sozialen Pflegeversicherung (die rund neun Millionen privat Krankenversicherten gilt die verpflichtende private Pflegeversicherung) auf der Finanzierungsseite seit langem bekannt und seit Jahren wird jenseits der in immer kürzeren Abständen notwendigen Feuerwehreinsätze an der Beitragsfront eine systematische Reform der Finanzierung dieses Teils der Finanzierung der Pflegekosten angemahnt (damit soll hier bewusst unterstrichen werden, dass die Leistungen der Pflegeversicherung eben nur einen Teil der Pflegekosten abdecken, da weitere gewichtige Finanzierungsquellen eine Rolle spielen, so die Finanzierung über die Pflegebedürftigen selbst sowie die Kostenübernahmen im Rahmen der Sozialhilfeleistung „Hilfe zur Pflege“ nach dem SGB XII – und vor allem und kaum in monetären Werten auszudrücken durch die pflegenden Angehörigen, die viel Zeit, Geld und oft auch die eigene Gesundheit vernutzen müssen).

Ein Blick auf die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung ist mehr als aufschlussreich:

Bereits im Jahr 2022 hat die soziale Pflegeversicherung Ausgaben von mehr als 60 Milliarden Euro getätigt. Und wenn man genau hinschaut, dann erkennt man, dass es in den zurückliegenden Jahren immer wieder Jahre gegeben hat, in dem die Einnahmen, die sich im wesentlichen aus Beitragseinnahmen speisen, über den Ausgaben lagen, so dass es möglich war, gewisse Reserven aufzubauen. Das konnte nur dadurch gelingen, dass man an der Beitragsschraube gedreht hat, um die Einnahmen nicht nur parallel zur Ausgabenentwicklung auszugestalten, sondern man hat im Vorgriff auf Ausgabensteigerungen, die durch gesetzgeberische Maßnahmen sicher zu erwarten waren, mehrere Monate im Vorlauf die Einnahmenseite durch Beitragssatzanhebungen gestärkt, allerdings zugleich um den Preis, dass diese Interventionen in die Saldenmechanik der umlagefinanzierten Pflegeversicherung immer öfter und damit in immer kürzeren Abständen vorgenommen werden müssen.

Die Beitragssatztreppe in der Pflegeversicherung

Allen halbwegs Sachkundigen ist schon seit langem klar, dass angesichts der beobachtbaren und der sicher zu erwartenden Ausgabendynamik eine weitere Beitragssatzanhebung unumgänglich sein wird, es sei denn, man sucht und findet ergänzende Finanzierungsquellen.

Aus der Vielzahl der mahnenden und warnenden Stimmen: »Die Betriebskrankenkassen in Deutschland fordern eine grundlegende Neuausrichtung der Pflege. Denn: Die Pflegekasse steuere in diesem Jahr auf ein Defizit von gut einer Milliarde Euro zu, warnen die Kassen. Und das Defizit werde wegen des demografischen Wandels in den kommenden Jahren noch deutlich ansteigen. Es brauche einen grundlegenden Umbau der Pflegeversorgung.« Für 2025 werde sogar ein Minus von 4,4 Milliarden Euro prognostiziert, so dieser Artikel: Der Pflegeversicherung droht die Pleite. Anne-Kathrin Klemm vom BKK-Dachverband wird mit diesen Worten zitiert: »Die Pflegebeiträge steigen ungebremst, ebenso die Eigenanteile Pflegebedürftiger in den Heimen. Die Pflegeversicherung muss dringend völlig neu ausgerichtet werden.« Die Flickschusterei der vergangenen Jahre müsse beendet werden. Und sie schiebt hinterher: »Nichtstun würde uns alle finanziell, aber auch mit Blick auf die Versorgung, teuer zu stehen kommen.«

Schützenhilfe bekommt der Dachverband der Betriebskrankenkassen vom GKV-Spitzenverband. Der hat diese Botschaften in der WirtschaftsWoche platziert:

»Vertreter der Pflegekassen sagen für 2025 deutlich steigende Beiträge voraus und werfen dem Bundesgesundheitsminister Untätigkeit in der Pflege vor. Bereits in diesem Jahr sei ein Minus von 1,4 Milliarden Euro in der sozialen Pflegeversicherung zu erwarten, zeigen Prognosen des BKK-Dachverbandes. 2025 seien es sogar drei Milliarden Euro Minus, die sich 2026 ohne Umsteuern dann auf mehr als sechs Milliarden Euro verdoppeln dürften.«

»Spätestens 2025 wird der allgemeine Beitragssatz um 0,63 Prozentpunkte auf 4,03 Prozent steigen, für Kinderlose sogar auf 4,63 Prozent«, so wird auch in dem Artikel Pflegebeitrag könnte 2025 noch stärker steigen als bisher prognostiziert Anne-Kathrin Klemm vom Bkk-Dachverband zitiert. Das wäre ein deutlicher Sprung: Bisher waren Schätzungen von einer geringeren Beitragssatz-Steigerung im Bereich von 0,2 Prozentpunkten ausgegangen.

Gernot Kiefer nennt es „mehr als irritierend“, dass Lauterbach über ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl die Finanzierung der Pflege nicht mehr angehen wolle. „Angesichts der steigenden Zahlen an Pflegebedürftigen muss eine Finanzreform der Pflegeversicherung ganz oben auf der Tagesordnung stehen“, so der Vorstand des GKV-Spitzenverbandes.

Was könnte man denn machen, wenn man was machen wollte?

Der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang wird beispielsweise mit diesen Vorschlägen in dem Beitrag »Das ist eine Bankrotterklärung. So kann man als Minister nicht agieren« zitiert: Die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen wie etwa Rentenbeiträge für pflegende Angehörige aus Steuermitteln, die Finanzierung pandemiebedingter Zusatzkosten oder die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze, wodurch nur wohlhabendere Beitragszahler belastet werden würden.

Wie wäre es, wenn man einfach einen Blick werfen würde in den eigenen Koalitionsvertrag?

Schaut man in den Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP, dann findet man dort diese Darstellung von dem, was man in der laufenden Legislaturperiode an Verbesserungen und Leistungsverbesserungen umsetzen will:

»Wir ergänzen das Sozialgesetzbuch XI (SGB XI) um innovative quartiernahe Wohnformen und ermöglichen deren Förderung gemeinsam mit Bund, Ländern und Kommunen … Wir unterstützen den bedarfsgerechten Ausbau der Tages- und Nachtpflege sowie insbesondere der solitären Kurzzeitpflege. Leistungen wie die Kurzzeit- und Verhinderungspflege fassen wir in einem unbürokratischen, transparenten und flexiblen Entlastungsbudget mit Nachweispflicht zusammen, um die häusliche Pflege zu stärken und auch Familien von Kindern mit Behinderung einzubeziehen. Wir dynamisieren das Pflegegeld ab 2022 regelhaft. Wir entwickeln die Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetze weiter und ermöglichen pflegenden Angehörigen und Nahestehenden mehr Zeitsouveränität, auch durch eine Lohnersatzleistung im Falle pflegebedingter Auszeiten.« (S. 63)

Neben den sowieso schon steigenden Ausgabenbedarfen aufgrund der zunehmenden Zahl an Pflegebedürftigen und eine immer noch wachsenden Inanspruchnahme als Folge des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs aus dem Jahr 2017 müsste doch jedem klar (gewesen) sein, dass man das nur mit mehr Geld zu dem, was bislang veranschlagt wurde, auch finanzieren kann.

Das geht aber im bestehenden System nur durch eine Anhebung der Beitragssätze zur Pflegeversicherung – es sei denn, man findet andere Finanzierungsquellen wie einen eigenständigen Bundeszuschuss aus Steuermitteln beispielsweise.

➔ Apropos Bundeszuschuss aus Steuermitteln an die Pflegeversicherung: Genau so einer wurde eingeführt – und im Zuge der Haushaltsaufstellung für 2024, die unter den Erschütterungen aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse und den dadurch ausgelösten Sparzwängen stand, wieder abgeschafft: Bislang hatte der Bund eine Milliarde Euro pro Jahr überwiesen. Aber mit dem Bundeshaushalt für 2024 wurde das beseitigt. Für die Jahre 2024 bis 2027 soll es keinen Zuschuss mehr zur gesetzlichen Pflegeversicherung geben. Der Bundeszuschuss zur pauschalen Beteiligung an den Aufwendungen der sozialen Pflegeversicherung soll dann erst ab 2028 wieder fließen. Einer dieser klassischen Verschiebebahnhöfe, dessen Charakter man auch daran erkennen kann: Zur Gegenfinanzierung wird die Zuführung an den Pflegevorsorgefonds für die Jahre 2024 bis 2027 auf 700 Millionen Euro reduziert. Den Pflegevorsorgefonds hatte der Bund vor acht Jahren bei der Bundesbank angelegt, um die finanziellen Belastungen durch die demografische Entwicklung abzufedern. 0,1 Prozentpunkte der Pflegeversicherungsbeiträge pro Jahr sollten dafür bei der Bundesbank angelegt werden. In den nächsten Jahren fällt diese Vorsorge deutlich kleiner aus.

Da man zugleich aber auch verhindern wollte, dass die soziale Pflegeversicherung (SPV) gezwungen ist, die Beiträge stark anzuheben (und das dann auch noch im Wahljahr 2025), hat man sich im Koalitionsvertrag auf diese Absichten die Finanzierung betreffend verständigt

»Die Ausbildungskostenumlage werden wir aus den Eigenanteilen herausnehmen und versicherungsfremde Leistungen wie die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige und die
pandemiebedingten Zusatzkosten aus Steuermitteln finanzieren, sowie die Behandlungspflege in der stationären Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherung übertragen und pauschal ausgleichen. Den Beitrag zur Sozialen Pflegeversicherung (SPV) heben wir moderat an.« (S. 63).

Damit an dieser Stelle mal die Größenordnungen deutlich werden, die sich hinter diesen Komponenten verstecken:

»Allein die Finanzierung der Rentenbeiträge von pflegenden Angehörigen über Bundesmittel würde die Pflegeversicherung um rund vier Milliarden Euro entlasten. Zudem wären auskömmliche Pauschalen für Bürgergeld-Beziehende auch für die Soziale Pflegeversicherung erforderlich. Und schließlich sind auch noch rund 4,5 Milliarden Euro offen, mit denen die SPV in der Corona-Krise in Vorleistung gegangen ist.«
(Quelle: Vorschläge zur Pflegefinanzierung warten seit drei Jahren in der Schublade auf Umsetzung, 31.05.2024)

Da käme schon einiges zusammen, um den ansonsten entsprechend fälligen Betrag aus der Beitragskasse der Pflegekassen wenigstens partiell deutlich zu verkleinern.

Aber offensichtlich gibt es derzeit in der Ampelkoalition nicht (mehr?) die Kraft und den Willen, wenigstens die Punkte umzusetzen, die man im gemeinsamen Koalitionsvertrag niedergeschrieben hat.

Unter Berücksichtigung der Gemengelage, in der die unterschiedlichen Akteuere der Ampel-Koalition verstrickt sind, erscheint es mehr als realistisch, dass man hier offensichtlich auf Gott zu vertrauen gedenkt und dann die Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung am Jahresanfang 2025 „leider“ kräftig(er) anheben müsse als das nur „moderat“ geplant in Aussicht gestellt hat.

Die Beitragssatztreppe in der Pflegeversicherung wird weiter ausgebaut nach oben. Davon muss man zum jetzigen Zeitpunkt ausgehen.