Die „Pflegemafia“ aus dem Osten reloaded: Organisierte Kriminalität, Geschäfte an und mit alten Menschen und die nicht-triviale Frage: Was tun?

Gerade in der Presse sollte man mit Sorgfalt die Worte wägen und benutzen. Dieser Satz gehört nicht dazu: »Rund 230 überwiegend russische Pflegedienste stehen im Verdacht, ein System für Abrechnungsbetrug aufgebaut zu haben.« Da wird sich der eine oder andere fragen – wieso „russische“ Pflegedienste? Was haben die in Deutschland verloren? Und stimmt das überhaupt?
Der Satz stammt aus diesem Artikel von Anette Dowideit: Hunderte Pflegedienste unter Betrugsverdacht. Und darin schreibt sie, dass das mit den „russischen Pflegediensten“ aus dem Abschlussbericht von Sonderermittlern des BKA und LKA aus Nordrhein-Westfalen hervor gehe, der ihr und dem Bayerischen Rundfunk vorliegt. Der BR veröffentlichte zeitgleich unter der Überschrift Sonderermittler vermuten bundesweites Netzwerk. Dort findet man dann diese Typisierung: »Rund 230 russisch-eurasische ambulante Pflegedienste stehen nach Erkenntnissen deutscher Ermittlungsbehörden im Verdacht, ein bundesweites System zum Abrechnungsbetrug aufgebaut zu haben.« „Russisch-eurasische“ Pflegedienste – das wird ja immer bunter. Natürlich kommen da bei nicht wenigen Lesern unangenehme Assoziationen zur „Russenmafia“ auf. Und die Berichterstattung liefert einiges Futter für diese Einordnung: »Bei einigen der 230 Unternehmen, die dem Betrugsnetzwerk angehören sollen, gehen die Ermittler zudem von Verbindungen zur Organisierten Kriminalität aus. So zum Beispiel wegen der Einrichtung von Scheinfirmen im In-und Ausland, wegen des Verdachts der Geldwäsche oder enger Verflechtungen zur Glücksspielbranche. Unter ehemaligen Firmenbetreibern sollen außerdem auch Personen sein, die von den Behörden in anderem Zusammenhang als Auftragsmörder verdächtigt werden.« Geldwäsche bis hin zu Auftragskillern? Und dann die armen Pflegebedürftigen, die von solchen Gestalten ausgenommen werden?

Nun hat sich die Autorin das nicht ausgedacht, sondern sie zitiert in ihrem Artikel aus einem Abschlussbericht „Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen durch russische Pflegedienste“, den das nordrhein-westfälische LKA gemeinsam mit dem BKA und anderen Länderbehörden erstellt hat. Also doch „russische“ Pflegedienste?

In einem weiteren Artikel von Anette Dowideit unter der Überschrift Die Verbindungen der Pflegemafia zu Auftragsmorden, Geldwäsche und Schutzgeldzahlungen findet man dann zum einen nur einen Hinweis aus der Präsentation des LKA NRW bei der Senatsverwaltung in Berlin, dass »offenbar Verbindungen zu Auftragsmord und in einem Fall zur Terrorgruppe „Islamischer Staat“ nachgewiesen« wurden, aber das bleibt dann so im Raum stehen. Zum anderen aber kann man dem Artikel entnehmen: »Die mutmaßlichen Täter kommen vor allem aus der Ukraine.« Eine Folie der LKA-Präsentation ist überschrieben mit: „Auffällig ist die hohe Anzahl von Firmenverantwortlichen mit einem Migrationshintergrund aus der Ukraine (i.d.R. deutsche Staatsangehörige).“

Also was jetzt – Russen oder Ukrainer? Irgendwie Osteuropäer oder Deutsche (oder eben beides)? Und selbst wenn das Netzwerk der Pflegedienste gesteuert wurde von Osteuropäern, um mal einen Kompromiss zu finden, haben die mit ihren Pflegediensten in Deutschland agiert und dabei – das taucht auch in den aktuellen Bereichen immer wieder auf – auf Ärzte und Apotheker zurückgegriffen. »Oft arbeiten dabei ein, zwei korrupte Ärzte mit Pflegedienstleitern und nur angeblich betreuten Senioren zusammen«, so heißt es in diesem Artikel Die „Pflegemafia“ wird zum Politikum von Hannes Heine.

Nun wird sich der eine oder andere treue Leser dieses Blogs daran erinnern – war das nicht alles schon mal Thema? Genau. Vor etwas mehr als einem Jahr, am 18. April 2016, wurde hier dieser Beitrag publiziert: Eine russische Pflegemafia inmitten unseres Landes? Über milliardenschwere Betrugsvorwürfe gegen Pflegedienste und politische Reflexe. Und der Beitrag damals beginnt so: Wenn Artikel so anfangen, dann deutet alles auf einen ganz großen Skandal hin: »Sie kommen meist aus Russland, sie sind professionell – und raffiniert. Über Kirchengemeinden suchen sie Kontakt zu Angehörigen von Pflegebedürftigen – und beginnen ihr düsteres, lukratives Business.« Und wer war Autor des erwähnten Artikels? Genau, Anette Dowideit, damals zusammen mit Dirk Banse.
Die beiden wurden so zitiert: »Ambulante Pflege ist ein lukrativer Markt, auf dem sich viele dubiose Anbieter tummeln. Seit Jahren gibt es Berichte über osteuropäische Firmen, die Kranken- und Pflegekassen abzocken, indem sie Senioren als Pflegefälle ausgeben, die in Wahrheit noch rüstig sind.« Und dann kommen bereits fast alle Fallkonstellationen, die auch jetzt wieder durch die Medienwelt getrieben werden. Heute noch angereichert um die Ermittlungserkenntnis, dass es möglicherweise ein bundesweit agierendes Netzwerk der betrügenden Firmen gibt.

Und bereits im Bundeslagebild Organisierte Kriminalität 2015, das im Oktober 2016 vom Bundeskriminalamt veröffentlicht worden ist, findet man dieses Fallbeispiel zur Organisierten Kriminalität im Wirtschaftsleben:

»In einem OK-Verfahren wegen bandenmäßigen Betrugs standen fünf deutsche Staatsangehörige mit russischem Migrationshintergrund im Fokus der Ermittlungen. Seit dem Jahr 2011 betrieben die Beschuldigten einen ambulanten Pflegedienst, um das deutsche Pflegesystem zur eigenen Gewinnmaximierung auszunutzen. Im Zuge der Ermittlungen und Durchsuchungsmaßnahmen wurden zahlreiche Beweismittel sichergestellt sowie umfangreiche Erkenntnisse zur bundesweiten Vorgehensweise der Täter gewonnen.

Nicht oder nur zum Teil erbrachte Pflegeleistungen wurden bei den Kostenträgern (Kranken- und Pflegekassen, Sozialämter) abgerechnet. Zur Verschleierung der Betrugshandlungen führten die Mitarbeiter des Pflegedienstes die Pflegedokumentation gemäß den Vorgaben der Rahmenverträge nur unzureichend durch oder nutzten zwei unterschiedliche Dienst‐ bzw. Tourenpläne – den ersten für Abrechnungszwecke, den zweiten für tatsächlich durchgeführte Leistungen.

Um die Anforderungen der Rahmenverträge zu erfüllen, machten die Pflegedienst‐Verantwortlichen gegenüber den Kostenträgern zudem falsche Angaben zum tatsächlich eingesetzten Pflegepersonal bzw. zu deren jährlichen Weiterbildungen. In diesem Zusammenhang wurden Zertifikate für einschlägige Aus- und Weiterbildungen gefälscht, so dass Mitarbeiter mit häuslicher Krankenpflege betraut werden konnten, obwohl die entsprechenden Qualifikationen dafür nicht vorlagen. Weiterhin wurden einige Pflegepatienten in die Betrugshandlungen teilweise eingebunden. Einerseits wurde ihnen Bargeld übergeben oder in Vorbereitung auf das Gespräch zur Pflegeeinstufung auf sie eingewirkt, andererseits wurden einige Mitarbeiter bewusst vom Pflegedienst eingestellt, um die Pflege der eigenen Angehörigen zu übernehmen. Schließlich konnte nachgewiesen werden, dass der überwiegende Teil der Gesellschafter des Pflegedienstes geschäftliche Verbindungen zu anderen Pflegediensten unterhielt.

Kurzbewertung:
Das Ermittlungsverfahren hat gezeigt, welch hohes Schadenspotenzial vom Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen ausgeht. Alleine in diesem Ermittlungsverfahren ist den Kranken- und Pflegekassen sowie den Sozialämtern ein Schaden in Höhe von 1,4 Millionen Euro entstanden.«

Im Grunde war das also alles schon bekannt und wir werden jetzt mit ersten Ergebnissen einer seit Jahren laufenden Ermittlungsarbeit konfrontiert, die man als herkulische Aufgabe verstehen muss, denn es gilt ja, die Betrügereien im Detail nachzuweisen. Und das ist oftmals deshalb so schwierig bis unmöglich, weil hier nicht (nur) eine kriminelle Organisation andere schädigt, sondern wir im Regelfall mit einem Netzwerk mehrere unterschiedlicher Beteiligter konfrontiert sind. In nicht unerheblichem Maße funktionieren diese Betrugsmodelle nur dann, wenn auch die Betroffenen mit von der Partie sind, was man durch direkte Rückflüsse an die „Pflegebedürftigen“ oder Beteiligung der Angehörigen an den enormen „Gewinnmitnahmen“ der kriminellen Pflegedienste aus dem bestehenden System erreicht. Aber immer muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Pflegedienste  gemeinsame Sache mit Patienten und mit Ärzten machen und Leistungen abrechnen, die es nicht gab – zum Schaden aller Versicherten.

Und hier kommen wir zu einem Grundsatzproblem: Angesichts der demografisch bedingten Zunahme an pflegebedürftigen Menschen sowie der enormen Geldmittel, die allein aus der Pflegeversicherung (über 29 Mrd. Euro im Jahr 2015, hinzu kommen die privaten Pflegeausgaben sowie die „Hilfe zur Pflege“-Leistungen im Rahmen der Sozialhilfe) fließen, ist klar, dass wir es hier mit einem richtig großen Topf zu tun haben, aus dem sich auch kriminelle Akteure bedienen wollen – vor allem, wenn sie erkennen, dass das System Anreize setzt, den Weg der Falschabrechnung einzuschlagen, denn die Gewinnmaximierungsspielräume sind hier sehr hoch bei gleichzeitig sehr niedrigem Entdeckungsrisiko.

Wir haben es also mit zwei problematischen Dimensionen zu tun:

  • Zum einen gibt es – das legen die aktuellen Ermittlungsergebnisse nahe – einen kleinen, aber hochgradig kriminellen Kern an Pflegediensten (derzeit geht es beispielsweise um 230 von gut 14.000 Pflegediensten, was nicht heißen soll, dass die wirkliche Zahl nicht weitaus höher liegen kann, aber dennoch nur einen kleinen Teil der Dienste insgesamt berührt), die oftmals eingebettet in relativ stark geschlossene Gruppen wie den Zuwanderern aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion agieren und dort komplexe Netzwerke „auf Gegenseitigkeit“ formieren können, die es überaus schwierig machen, konkrete Verfehlungen nachzuweisen.
  • Auf der anderen Seite haben wir es aber auch mit einem veritablen Systemproblem zu tun. Wenn man die Pflege in eine Minutenpflege zerlegt und diese dann zur Grundlage der Abrechnungsfähigkeit macht, dann ist es realitätsfern anzunehmen, dass die damit immer auch einhergehenden „Spielräume“ bei der Dokumentation der (angeblich) erbrachten Leistungen nicht auch mehr oder weniger stark in Anspruch nimmt, so dass wir mit einem Kontinuum fließender Übergänge zwischen partiellen Mitnahmeeffekten bis hin zu einem betrügerische Geschäftsmodell konfrontiert sind.

Bleibt wie so oft die Frage: Was tun? Und wie so oft muss an dieser Stelle voran gestellt werden: Auch wenn man sich eine andere Antwort wünschen würde, es gibt hier keine wirklich befriedigende Auflösung der angesprochenen Probleme.

Natürlich muss der harte Kern der kriminellen Akteure auf dem dafür vorgesehenen Weg der Strafverfolgung und über eine Erhöhung des Kontrolldrucks auf „auffällige“ Pflegedienste bekämpft werden. Das kann gelingen, in dem man – wie jetzt auch wieder gefordert – Schwerpunktstaatsanwaltschaften einrichtet, die in der Lage sind, das „Haifischbecken“ Gesundheit und Pflege zu durchdringen und die über den erforderlichen Spezialisierungsgrad verfügen. Und man muss an dieser Stelle dann schon die Frage aufwerfen, warum es keine genaue Kontrolle bei der Gründung bzw. der Geschäftsaufnahme gibt, die eine genaue Prüfung – und wenn Zweifel vorhanden sind – auch konkrete Inaugenscheinnahme vor Ort mit sich bringt. Eine engmaschige Begleitung könnte hier sicher eine abschreckende Wirkung entfalten.

Weitaus schwieriger wird es, wenn wir uns von den kriminellen Ausformungen im engeren Sinne entfernen und in die Regelsysteme eintauchen. Auch die würden davon betroffen sein, wenn Vorschläge verwirklicht werden, wie man sie in diesem Artikel über Reaktionen auf die jüngsten Veröffentlichungen lesen kann: Elektronische Abrechnung im Kampf gegen Pflegemafia gefordert, so ist ein Artikel von lse Schlingensiepen und Matthias Wallenfels überschrieben.

»Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz Eugen Brysch fordert Konsequenzen aus dem am Dienstag bekannt gewordenen Pflegebetrugsskandal, bei dem mafiöse Strukturen eine zentrale Rolle spielen. „Es wird höchste Zeit, dass die Pflegeleistungen elektronisch abgerechnet werden“, sagt er. Die Zettelwirtschaft aus dem vergangenen Jahrhundert müsse ein Ende haben.

Brysch geht noch einen Schritt weiter: „Ebenso ist eine einheitliche lebenslange Patientennummer notwendig.“ Vergleichbar der Steuernummer sollte sie jeder bei der Geburt erhalten und wird damit eindeutig identifizierbar. Mit der Patientennummer könnten Schummeleien von Pflegediensten, aber auch von Ärzten, Apothekern und Patienten schneller zu Tage treten, so Brysch … Handlungsbedarf erkennt er auch beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). „Wenn Identitäten der Antragsteller nicht überprüft werden, ist es nicht verwunderlich, dass eine Person mehrfach unter wechselnden Namen Pflegeleistungen erhält“, kritisiert er.«

Der Vorsitzende des Pflegerats NRW, Ludger Risse, wird in dem Artikel mit diesen Worten zitiert: »Die MDK-Prüfungen bei ambulanten Pflegediensten sind bereits sehr umfangreich und binden eine Menge Kapazitäten … „Ich wundere mich, dass ein Betrug in solchem Ausmaß überhaupt möglich ist“ …  Seiner Meinung nach müssen die Kontrollen nicht grundsätzlich schärfer werden, sondern gezielter die Lücken im System ins Visier nehmen.«
Gerade weil private Anbieter sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich die Pflege vor allem als Instrument der Gewinnmaximierung sehen, müsse man genau hinschauen.

Aber die Bundesregierung wiegelt ab: »Keinen weiteren Gesetzgebungsbedarf zur Pflegebetrugsprävention sieht der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Karl Josef Laumann (CDU). Er verweist auf die Kontrollbefugnisse des MDK, die mit dem Pflegestärkungsgesetz III ausgeweitet wurden. Bei den Pflegebetrugsfällen, die jetzt ans Licht gekommen sind, handele es sich noch um Altlasten. Alles, was jetzt bekannt werde, sei auch dem geschuldet, dass die Kontrollmöglichkeiten ausgeweitet wurden.«

Die Bundesregierung versucht, den Ball flach zu halten. Unabhängig davon plädiert Philipp Neumann in seinem Artikel Ambulante Pflege nicht unter Generalverdacht stellen: »Dass die Pflege ein attraktives Geschäftsfeld ist und damit auch für Kriminelle interessant, kann nicht überraschen. Der Markt für Gesundheitsleistungen wächst enorm. Wir leben länger und sind länger mobil. Es gibt auf diesem Markt also immer mehr Geld zu verdienen; auch ohne kriminelle Absichten ist das ein Milliardengeschäft.« Aber er weist auch auf ein Dilemma hin:

»Ambulante Pflegedienste lassen sich schwerer kontrollieren als Pflegeheime. Ein Heim ist ein halb öffentlicher Ort, amtliche Prüfungen sind dort eher und öfter möglich als in privaten Wohnungen. Die eigenen vier Wände aber sind unverletzlich. Kontrolleure können nicht unangemeldet vor der Tür stehen und sich Einlass verschaffen. Ambulante Pflege ist deshalb – trotz aller existierender Kontrollen – vor allem Vertrauenssache … Schwierig wird es, wenn alle Beteiligten unter einer Decke stecken. Nur weil im vorliegenden Fall auch wirklich alle mitgemacht haben, konnte der Betrug überhaupt funktionieren … Mehr Ermittler, Schwerpunktstaatsanwaltschaften und überhaupt Stellen, bei denen Betrug gemeldet werden kann, sind sicher hilfreich. Grundsätzlich aber besteht kein Anlass, das System der ambulanten Pflege unter Generalverdacht zu stellen. Ein Restrisiko, dass dabei etwas schiefgeht, müssen wir in Kauf nehmen.«

Das mag für den einen oder anderen resignativ daherkommen, aber eine wirklich eindeutige Alternative ist nicht zu erkennen. Man könnte natürlich an dieser Problematik andockend eine Grundsatzfrage aufwerfen wie die, ob es in der Pflege alter Menschen wirklich sinnvoll ist, gewinnorientierte Unternehmen zuzulassen oder ob gemeinnützige oder kommunale Anbieter möglicherweise besser wären, strukturell gegen die Anreize aus dem System zu wirken. So eine Debatte kann man führen, aber auch hier wird man nicht zu einfachen Antworten kommen können.

Pflegeversicherung: Weiter mit Reparatur- und Erweiterungsarbeiten oder doch der Sprung in eine Pflegevollversicherung?

Wenn es um die Pflegeversicherung geht, dann kann man der noch amtierenden Bundesregierung auf den ersten Blick nun wirklich keine Arbeitsverweigerung unterstellen. Mehrere „Pflegestärkungsgesetze“ (PSG I-III) wurden auf den Weg gebracht (vgl. hierzu Die Pflegestärkungsgesetze – Hintergründe zu den Neuregelungen in der Pflege). Erst zum Jahresanfang 2017 traten weitere Neuregelungen in Kraft mit dem expliziten Ziel einer Verbesserung der Situation für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, vor allem der mit dem 2. Pflegestärkungsgesetz eingeführte neue Pflegebdürfigkeitsbegriff, verbunden mit einem neuen Begutachtungsinstrument, mit dem die bisherigen drei Pflegestufen durch fünf Pflegegrade ersetzt werden. Gerade mit dem PSG II, der weitreichendsten Reform seit Einführung der Pflegeversicherung, sollte die bisherige und seit langem kritisierte Fokussierung der Pflegeversicherung auf somatische Ursachen der Pflegebedürftigkeit aufgebrochen und eine stärkere Berücksichtigung auch von geistiger oder psychischer Pflegebedürftigkeit erreicht sowie eine Umorientierung von einer rein defizitorientierten hin zu einer am Grad der Selbständigkeit ausgerichteten Pflegebedürftigkeitsbeurteilung umgesetzt werden. 

mehr

Wenn die Leistungen einer Teilkaskoversicherung für bestimmte Menschen mit Behinderungen kleingeschreddert werden, obgleich doch alle Menschen gleich sein sollten

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich! (Art. 3, Abs. 1 GG).

Wenn eine Vereinigung von „Kostenträgern“ in unserem – zugegeben höchst komplexen, verschachtelten – Sozialsystem dieses Postulat des Grundgesetzes als Überschrift für die Einladung zu einem parlamentarischen Abend in Berlin wählen, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder will man so allgemein wie nur irgendwie möglich bleiben – oder aber es geht um die Adressierung eines eklatanten Problems und man will darauf hinweisen, dass etwas gegen die (eigentlich) unumstößlichen verfassungsrechtlichen Anforderungen verstößt.

Um die letzte Variante geht es hier. Und um die Bundesarbeitsgemeinschaft überörtlicher Träger der Sozialhilfe (BAGüS). Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss aller 23 überörtlichen Träger der Sozialhilfe in Deutschland. Je nach Landesrecht sind überörtliche Träger der Sozialhilfe entweder die Bundesländer selbst oder höhere Kommunalverbände wie etwa die Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR), der Landeswohlfahrtsverband Hessen oder der Kommunale Sozialverband Sachsen.

Diese Bundesarbeitsgemeinschaft hatte zu ihrem ersten Parlamentarischen Abend in Berlin geladen. Und dabei ein wirklich mehr als heikles Thema aufgerufen: Bekanntlich ist die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung, die eben nicht die gesamten Pflegekosten abdeckt, sondern nur einen Teil davon. Die Höhe der Leistungen ist festgelegt und unterscheidet zum einen nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit, zum anderen nach der Versorgungsform, also stationär oder ambulant. Aber – das wissen viele nicht – gibt es solche und andere stationäre Pflegefälle, jedenfalls unter Berücksichtigung des § 43a SGB XI und die Unterschiede zwischen den Leistungen auf der einen und auf der anderen Seite sind schon mehr als eklatant:

»Die geltende Gesetzesregelung diskriminiert Menschen mit Behinderung, die in stationären Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe leben, indem sie die Zuwendungen pauschal auf 266 Euro pro Monat festschreibt.
Zum Vergleich: Behinderte Menschen mit der Pflegstufe II beziehen, wenn sie nicht in so einer stationären Wohneinrichtung, sondern in einem Pflegeheim leben, Leistungen in Höhe von 1.330 Euro. Das ist das Fünffache des im § 43a SGB XI festgeschriebenen Betrages.«

Das steht nach Auffassung der BAGüS im klaren Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention und verstößt darüber hinaus gegen das Diskriminierungsverbot Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes.

Um diese rechtliche Einordnung auch fundiert belegen zu können, wurde vom Landeswohlfahrtsverband Hessen ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das der Sozialrechtler Felix Welti von der Universität Kassel erstellt und das offensichtlich schon vor einem Jahr abgeschlossen und jetzt im Rahmen des parlamentarischen Abends der Öffentlichkeit vorgestellt wurde:

Felix Welti: Die Sonderregelung der Pflegeversicherung in Wohneinrichtungen für behinderte Menschen nach §§ 36 Abs. 1 Satz 2, 43a Sozialgesetzbuch (SGB) Elftes Buch (XI) – Soziale Pflegeversicherung – und die Einschränkung des Wahlrechts zwischen Behinderteneinrichtungen und Pflegeeinrichtungen nach § 55 Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe. Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz (GG) und der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Gutachten für den Landeswohlfahrtsverband Hessen. September 2015

Der Rechtswissenschaftler kommt zu dem Schluss, dass gleich mehrere Regelungen des SGB XI und XII gegen das grundgesetzlich garantierte Benachteiligungsverbot, den allgemeinen Gleichheitssatz und das Recht auf Freizügigkeit verstoßen. Darüber hinaus sieht er das in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerte Diskriminierungsverbot, das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft und das Recht auf Gesundheit verletzt. All das steht im Widerspruch zu den politischen Absichten, behinderte Menschen so weit wie möglich gleichzustellen.
Eine Zusammenfassung des Gutachtens und die Position der BAGüS und der kommunalen Spitzenverbände findet man in dieser Zusammenstellung der BAGüS.
Um wie viele Menschen geht es hier eigentlich? Dazu die BAGüS in ihrer Pressemitteilung:

»Von deutschlandweit ca. 200.000 Menschen mit Behinderung in stationären Wohneinrichtungen sind derzeit ca. 80.000 auch pflegebedürftig, erhalten aber nur die gedeckelte Leistung der Pflegeversicherung. Ab 01.01.2017 wird diese Zahl durch den neuen Pflegebegriff auf ca. 140.000 steigen.«

Das ist alles schon mehr als fragwürdig. Aber es könnte noch schlimmer kommen – wieder einmal im Rahmen einer Reformgesetzgebung, mit der ja eigentlich die Zustände, folgt man dem alten Verständnis von Reformen, verbessert werden sollen:

»Bundestag und Bundesrat beraten derzeit das Gesetz zur Reform der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung (Bundesteilhabegesetz – BTHG) und das Dritte Pflegestärkungsgesetz (PSG III), mit dem der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff auch in der Sozialhilfe eingeführt werden soll. Vorgesehen ist, dass beide Gesetze bis zum Jahresende 2016 verabschiedet werden.
Die bisher bekannten Gesetzentwürfe sehen aber nicht nur ein Festhalten an der diskriminierenden Regelung des Paragrafen 43a SGB XI vor, schlimmer noch: Es muss eine Ausweitung des Anwendungsbereiches auf ambulante Wohngruppen für Menschen mit Behinderung befürchtet werden.«

Das wäre mehr als eine Verschlimmbesserung der gegenwärtigen Problematik.

Der Gesetzgeber ist aufgerufen, die Bestimmungen so zu ändern, dass auch Menschen mit Behinderung, egal wo sie leben, einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung haben. Der Gesetzgeber sollte die laufenden Gesetzgebungsverfahren nutzen, um die seit Jahrzehnten bestehende Benachteiligung pflegebedürftiger Menschen mit Behinderungen endlich aufzuheben.

Offensichtlich muss man hier Druck machen und es bleibt zu hoffen, dass der folgende Ankündigung auch Taten folgen werden:

»Die rheinland-pfälzische Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler erklärte auf der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) zum Thema „Alle Menschen sind vor dem Recht gleich“, dass sich die Koalitionspartner in Rheinland-Pfalz darauf verständigt haben, zu prüfen, ob § 43a Sozialgesetzbuch (SGB) XI mit seinen korrespondierenden Regelungen im Recht der Pflegeversicherung (SGB XI) und der Eingliederungshilfe (SGB XII) verfassungskonform ist. „Wir werden prüfen, ob diese Regelungen der Verfassung widersprechen und würden dann auch nach Karlsruhe vor das Bundesverfassungsgericht gehen“, betonte die Ministerin.«

Die rheinland-pfälzische Ministerin wird zudem mit diesen Worten zitiert: »Es ist … ärgerlich, dass die Bundesregierung mit dem vorgelegten Gesetzesentwurf versucht, die offenkundig verfassungsrechtlich bedenkliche Regelung auch für Wohngemeinschaften zu erweitern. Diesem sozialpolitischen Roll-Back werden sich die Länder widersetzen“, so Bätzing-Lichtenthäler.«