Das sind Schlagzeilen, die in der modernen Medienwelt geliebt werden, garantiert doch die alarmierend daherkommende, Bedrohungsgefühle und Ängste auslösende semantische Zuspitzung – immerhin vom Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vorgetragen – auf dem den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgenden Markt der öffentlichen Wahrnehmung sichere Klicks in der flüchtigen Welt des Nachrichtenstroms: Lauterbach sieht „explosionsartigen“ Anstieg bei Pflegebedürftigen. Diese und andere Artikel verweisen auf ein Interview des Ministers mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Dort wird er mit den Worten zitiert: »In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflegebedürftigen geradezu explosionsartig gestiegen. Demografisch bedingt wäre 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über 360.000. Eine so starke Zunahme in so kurzer Zeit muss uns zu denken geben. Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau.«
Das liest sich doppelt alarmierend: Statt 50.000 über 360.000 neue Pflegefälle? Und dann versteht man da oben nicht genau, warum es so einen starken Anstieg gegeben haben soll? Alles sehr beunruhigend, wenn es denn so wäre. Der krasse Unterschied zwischen dem, was angeblich zu erwarten war und was dann tatsächlich gekommen ist, die ist durch die Berichterstattung bei vielen hängengeblieben. Aber schauen wir uns mal die Zahlen genauer an:
Betrachtet man die Vorjahre, dann wird auf den ersten Blick erkennbar, dass es im Vergleich nun keineswegs einen „explosionsartigen“ Anstieg der Zahl der neuen Pflegefälle (in der Abgrenzung des SGB XI) gegeben hat.
Wenn man genauer hinschaut, wird dann auch deutlich erkennbar, dass man wie immer Vorsicht walten lassen sollte bei der Verwendung und Bewertung von Statistiken:
Zum einen werden oftmals in Zeitreihen Äpfel mit Birnen verglichen, vor allem dann, wenn sich die Grundgesamtheit ändert. Man kann diesen Aspekt erkennen an dem wahrhaft „explosionsartigen“ Anstieg der Zahl der neuen Pflegefälle, den wir gehabt haben – im Jahr 2017. Was war da los? Eine dramatische Zunahme der Pflegebedürftigkeit unter den in Deutschland lebenden Menschen? Nein, es gab damals eine weitreichende Veränderung der sozialrechtlichen, also über die Kriterien des SGB XI laufenden Abgrenzung von Pflegebedürftigkeit im Sinne der betroffenen Menschen, die dazu geführt hat, dass deutlich mehr Menschen Zugang bekommen haben zu Leistungsansprüchen gegenüber der Pflegeversicherung als vorher. 2017 wurde ein neuer, erweiterter Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt. Aus den bis dahin geltenden 3 Pflegestufen wurden 5 Pflegegrade und es wurden unter anderem erstmals kognitive Einschränkungen, also auch demenzielle Erkrankungen, als Grund für den Bezug von Leistungen der Pflegeversicherung eingeführt.
➔ Dazu erläutert der Spitzenverband der GKV, der auch für die Pflegekassen zuständig ist: »Seit Einführung der Pflegeversicherung wurde immer wieder der geltende verrichtungsbezogene Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI (§ 14) kritisiert. Nach Ansicht der Kritiker waren Defizite bei der Versorgung pflegebedürftiger Menschen vielfach auf den zu engen Begriff der Pflegebedürftigkeit zurückzuführen, da dieser somatisch ausgerichtet war. Dadurch würden wesentliche Aspekte (Kommunikation, soziale Teilhabe) ausgeblendet und der Bedarf an allgemeiner Betreuung, Beaufsichtigung und Anleitung, insbesondere bei Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, zu wenig berücksichtigt. Seit 1. Januar 2017 wird nun ein umfassenderer Pflegebedürftigkeitsbegriff angewendet (Pflegestärkungsgesetz II) … Der Pflegebedürftigkeitsbegriff sieht eine weitere Ausdifferenzierung der bis Ende 2016 geltenden drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade vor. Mit diesem umfassenden Pflegebedürftigkeitsbegriff ist ein umfassendes Begutachtungsinstrument zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit verbunden. Mit dem neuen Begutachtungsassessment (NBA) wird gemessen, was der Pflegebedürftige noch kann. Erfasst wird der Grad der Selbstständigkeit einer Person bei Aktivitäten in insgesamt sechs pflegerelevanten Bereichen wie z. B. kognitive und kommunikative Fähigkeiten oder der Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen. Das Instrument berücksichtigt damit auch den besonderen Hilfe- und Betreuungsbedarf von Menschen mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen. Aus den Ergebnissen der Prüfung ergibt sich die Einordnung in einen der fünf Pflegegrade.«
Zum anderen sollte man aufpassen, wenn im Vergleich mit Durchschnittswerten gearbeitet wird, denn deren Aussagehalt ist abhängig von der Streuung der Werte, die hier zusammengefasst werden. Bezogen auf die aktuelle Diskussion über den Anstieg der Zahl der neuen Pflegefälle: Bereits im April 2024 hatte der für die Pflegekassen zuständige Spitzenverband der GKV diese Pressemitteilung veröffentlicht: Sprunghafter Anstieg bei den Pflegefällen (14.04.2024). »Wir sehen einen sprunghaften Anstieg bei den Pflegefällen. Wuchs die Zahl der Pflegebedürftigen in früheren Jahren etwa um 326.000 Fälle pro Jahr, gab es 2023 auf einmal ein Plus von 361.000 Fällen, stellt Gernot Kiefer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes, … fest.«
Folgt man diesen Zahlen, dann hätten wir also nicht wie der Minister behauptet einen Anstieg von +310.000 Pflegefällen (ein Zuwachs von 722 Prozent!), sondern „nur“ von +35.000 (ein Anstieg von „nur“ 10,7 Prozent). Aber man muss sich klar machen, dass auch der GKV-Spitzenverband bei den durchschnittlich 326.000 Fällen den einmaligen besonders großen Anstieg der Zahl der neuen Pflegefälle im Jahr 2017 als Folge des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs von damals fast 590.000 mit eingerechnet hat. Wenn man sich die Abbildung anschaut, dann könnte man auf der einen Seite dafür argumentieren, bei einer Durchschnittsbildung das Ausnahmejahr 2017 herauszunehmen und die Jahre ab 2018 heranzuziehen, auf der anderen Seite – man erkennt ja die „Delle“ in den Jahren 2020 und 2021 – könnte man dem entgegenhalten, dass wir mit den beiden Corona-Pandemie-Jahren 2020 und 2021 eine Ausnahmesituation hatten, die die Zahlen „verzerrt“.
Auf der Suche nach Erklärungen für die Zahl der neuen Pflegefälle
Da wären wir schon bei einem Antwortversuch angesichts der nun ausgebrochenen Suche nach Erklärungen für die große Zahl an neuen Pflegefällen: Ein Teil der neuen Pflegefälle könnte möglicherweise eine Art „Nachholeffekt“ sein, gleichsam in der Pandemiezeit aus welchen Gründen auch immer unterlassene Einstufungen der Pflegebedürftigkeit, die ja Voraussetzung ist für einen Leistungsanspruch in der Pflegeversicherung, nachholend. Dazu der Bundesgesundheitsminister: Das sei „eine Hypothese, die wir nun prüfen“. Um dann theologisch fortzufahren: »Ich glaube aber nicht, dass der Nachholeffekt einen Aufwuchs in dieser Größenordnung erklärt.«
Ein weiterer „Corona-Effekt“ könnte auch die erleichterte Begutachtung für die Einstufung in einen der Pflegegrade (oder deren Ablehnung) sein, die wir mit der nun möglichen Begutachtung per Telefon oder Videotelefonie bekommen haben. Damit hat man den Zugang zu diesem Verfahren niedrigschwelliger ausgestaltet, was möglicherweise einen Teil der höheren Zahlen erklären kann.
Was bietet der Minister für Erklärungsversuche an? Jetzt wird es nur auf den ersten Blick lecker – er spricht von einem „Sandwicheffekt“: »Ich gehe vielmehr davon aus, dass wir einen Sandwicheffekt erleben: Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden. Es gibt also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und deren Eltern.«
Das nun ist eine auf den ersten Blick wirklich „steile These“. Zur Einordnung: Wer sind denn diese „Babyboomer“? Es handelt sich um Menschen, die zwischen Anfang der 1950er bis Ende der 1960er Jahre geboren wurden. Jeder diese Jahrgänge war mit mehr als einer Million Geburten besetzt gewesen, an der Spitze steht der Jahrgang 1964 mit mehr als 1,3 Millionen Geburten. Das bedeutet, dass die allermeisten dieser Generation derzeit (noch) nicht in einer Altersgruppe sind, wo wir es mit einem bedeutsamen Anteil an Pflegebedürftigen zu tun haben. Die ältesten Exemplare der Boomer sind derzeit Anfang bis maximal Mitte 70, die meisten Boomer stehen (noch) im Erwerbsleben und/oder sind deutlich jünger als 70. Einen starken Anstieg der Pflegequoten sehen wir bislang ab 75, vor allem nach Überschreiten der 80 Lebensjahre. Das kann also derzeit nicht wirklich ein Massenphänomen sein. Die stark besetzten Boomer-Jahrgänge werden aber in der Zukunft zu daraus resultierenden Anstiegen der Zahl der Pflegebedürftigen führen.
Und wo kommen die nur 50.000 neuen Pflegefälle des Herrn Ministers her?
Die sofort von allen verbreitete Gegenüberstellung der mehr als 360.000 neuen Pflegefällen zu den aus „demografischen Gründen“ eigentlich nur zu erwartenden 50.000, mit denen der Minister die Dramatik der Situation illustrieren wollte, hat auch Experten irritiert. Wie kommt der Bundesgesundheitsminister zu so einer sehr niedrigen Zahl?
Er hat sich die zumindest nicht einfach ausgedacht in einer hektischen Vorbereitungsrunde, sondern – mit dem Ziel, eine möglichst dramatisierende Differenz zu produzieren – er hat die unterste Variante einer mit zahlreichen Annahmen gespickten Modellrechnung genommen, die vom Statistischen Bundesamt in der sogenannten Pflegevorausberechnung präsentiert wird. Vgl. dazu Pflegevorausberechnung: 1,8 Millionen mehr Pflegebedürftige bis zum Jahr 2055 zu erwarten vom 30. März 2024.
➔ Dazu schreibt das Statistische Bundesamt: »In der Pflegevorausberechnung 2023 werden Annahmen über die zukünftige Bevölkerungsentwicklung und Annahmen zur Pflegequote der nächsten Jahrzehnte kombiniert. Dazu werden Ergebnisse der 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung mit Daten der Pflegestatistik 2017-2021 zusammengespielt. Langfristige Bevölkerungsvorausberechnungen sind keine Prognosen. Sie liefern „Wenn-Dann-Aussagen“ und zeigen, wie sich die Bevölkerung und deren Struktur unter bestimmten Annahmen verändern würden … Darüber hinaus gibt es zwei Varianten zur zukünftigen Entwicklung der Pflegequoten: Die Status quo-Variante geht davon aus, dass die aktuell beobachtete Situation und Bedingungen in der Pflege in den zukünftigen Jahren gleichbleiben. So wird angenommen, dass die Pflegequoten nach Altersgruppen und Geschlecht des Jahres 2021 auch in den Jahren bis 2070 ein konstantes Niveau beibehalten … Dieses Modell zeigt letztendlich den Einfluss der Alterung der Bevölkerung auf das Pflegesystem … Seit 2017 ist im Zuge der Einführung des weiter gefassten Pflegebedürftigkeitsbegriffs ein deutlicher Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen zu beobachten. Er liegt über der demografischen Erwartung. Deshalb wird ein weiteres Modell angewendet, das befristet steigende Pflegequoten annimmt. Diese Trends werden als Einführungseffekte der Pflegereform verstanden (Modell „weitere Einführungseffekte des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“). Die Effekte laufen bis 2027 allmählich aus. Ab 2027 werden die Pflegequoten dann ebenfalls als stabil angenommen bis 2070.«
Und genau dort findet man dann als ein Ergebnis auch die jetzt vielzitierten 50.000 neuen Pflegefälle (in der Abgrenzung des SGB XI) – wenn man mit konstanten Pflegequoten aus der Vergangenheit rechnet und gleichzeitig die Bevölkerungsvorausberechnung der Statistiker stimmen sollten. Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass die bisherigen Bevölkerungsvorausberechnungen in der Regel von der tatsächlichen Entwicklung teilweise sehr stark abgewichen sind, vgl. dazu beispielsweise die Darstellung bei IAQ (2023): Die Vorausberechnungen im Vergleich – deutlich höhere Bevölkerungszahlen als noch vor 10 Jahren angenommen. Unabhängig von diesem Grundsatzproblem rechnen die Bundesstatistiker aber auch noch mit einer zweiten Variante. Bei der werden noch bis 2027 „weitere Einführungseffekte des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ unterstellt. Mit ganz erheblichen Folgen, wenn man die Rechenergebnisse gegenüberstellt:
Wenn man mit konstanten Pflegequoten rechnet und die Annahmen der Bevölkerungsvorausberechnungen eintreffen sollten, dann ergeben sich die vom Minister genannten 50.000 neuen Pflegefälle pro Jahr, also unter mindestens zweifacher „Wenn-Bedingung“. Wenn man aber – und das macht das Statistische Bundesamt mit einer zweiten Variante – auch Effekte des veränderten Pflegebedürftigkeitsbegriffs im SGB XI berücksichtigt, dann sind die Zahlen erheblich höher. Hier zur Veranschaulichung, wie groß die Differenz der aus den beiden Varianten abgeleiteten Zahl an Pflegebedürftigen (nach SGB XI) ist – und dass die 50.000 pro Jahr lediglich eine modelltheoretische „unterste Untergrenze“ darstellt, die mit der Realität nicht wirklich viel zu tun haben kann:
Warum macht der Minister das? Und was ist die eigentliche Dramatik hinter den gar nicht so dramatischen Zahlen?
Man muss zu der vorläufigen Einschätzung kommen, dass es bei diesem Versuch einer Dramatisierung der Zugangszahlen in die Leistungswelt der Pflegeversicherung vor allem darum geht, eine Drohkulisse aufzubauen gegenüber denjenigen, die schlichtweg nicht mehr Geld (sei es aus Beitrags- oder Steuermitteln) für die Versorgung der Pflegebedürftigen zur Verfügung stellen wollen. Und die Zahl der Pflegebedürftigen – das ist doch unbestreitbar – wird in den kommenden Jahren weiter ansteigen aufgrund der demografischen Entwicklung. Derzeit wird innerhalb der Ampel-Regierung über eine eigentlich angekündigte Reform der Teil-Finanzierung der Pflege vor allem über die Pflegeversicherung verhandelt und – davon muss man wohl ausgehen – eine solche aufgrund der schwer bis gar nicht überbrückbaren Gegensätze, die sich auch hier wieder einmal zwischen den Akteuren der Regierung auftun, blockiert. In den Worten des Ministers:
»Klar ist, dass wir mittel- und längerfristig eine solidere Form der Finanzierung der Pflege benötigen. Mit dem jetzigen Beitragssystem allein werden wir das Leistungsniveau der Pflege nicht erhalten können … Leistungen (müssen) dynamisiert, also regelmäßig erhöht werden.« Was natürlich Mehrausgaben bedeutet, die über die Ausgabensteigerung für den normalen Anstieg der Fallzahlen hinausgehen. Aber der Minister kennt natürlich die systemischen Blockaden, die sich auch in der interministeriellen Arbeitsgruppe, die bis Ende Mai ein Ergebnis vorlegen soll. Dazu Lauterbach: »Es wird wohl kaum zu einer einheitlichen Empfehlung aller Beteiligten kommen. Dafür sind die Ansichten der verschiedenen Ministerien beziehungsweise der Koalitionspartner zu unterschiedlich. Aber es gab eine sehr gute gemeinsame Problemanalyse. Wir werden die unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten neutral und fair nebeneinanderstellen.«
Die eigentliche Dramatik kann man der folgenden Ausführung des Ministers entnehmen:
»Eine umfassende Finanzreform in der Pflege wird in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht mehr zu leisten sein. Dafür liegen die Ansichten zu weit auseinander. Im Übrigen würde dafür auch die verbleibende Zeit nicht reichen. Die Arbeit der Arbeitsgruppe ist aber eine gute Grundlage für eine große Pflegereform in der nächsten Wahlperiode. Dann muss sie aber auch kommen.«
➔ Der Bundesgesundheitsminister macht durchaus eigene Vorschläge, die aber zugleich offensichtlich noch nicht einmal innerhalb der eigenen Koalition durchsetzbar sind: »Es ist nicht zu rechtfertigen, dass sich Gutverdiener und Beamte nicht an der solidarischen Finanzierung der Pflege beteiligen, weil sie sich privat absichern können. Dabei sind die Leistungen in beiden Pflegeversicherungen komplett identisch. Wir brauchen die Pflege-Bürgerversicherung, in die alle einzahlen … Wir kommen in eine Phase, in der die Kosten durch die Demografie so stark steigen werden wie nie zuvor. Erstmals stellt sich die Frage, wie lange die Pflegeversicherung überhaupt noch bezahlbar bleibt. Neben der Pflege-Bürgerversicherung brauchen wir zweitens einen höheren Steuerzuschuss, etwa für die Rentenbeiträge von pflegenden Angehörigen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und drittens schlage ich vor, die Sozialhilfe für Pflegebedürftige zu reformieren. Wenn heute Menschen ihre Pflege nicht mehr selbst bezahlen können, steht ihnen als Sozialleistung die Hilfe zur Pflege zu, die die Kommunen aus Steuergeldern bezahlen. Viele Betroffene empfinden es als entwürdigend, am Ende ihres Lebens, in dem sie hart gearbeitet haben, auf das Sozialamt angewiesen zu sein. Deshalb brauchen wir eine Entstigmatisierung dieser Unterstützung. Um den Betroffenen den Gang zum Sozialamt zu ersparen, könnten künftig die Pflegekassen die Hilfe zur Pflege auszahlen. Um das zu finanzieren, müssen natürlich die bei den Kommunen eingesparten Steuergelder an die Pflegeversicherung fließen.«
Und wieder werden wir wertvolle und wichtige Zeit verloren haben, was uns noch bitter auf die Füße fallen wird. Denn es geht doch nicht nur um die derzeit offensichtlich nicht lösbare Frage nach mehr Geld im bestehenden System, was dazu führen wird, dass man natürlich die Beitragssätze in der bestehenden Pflegeversicherung anheben muss, um die Deckungslücke zu schließen – ohne dass man irgendeine qualitative oder systemische Verbesserung bekommt. Eigentlich müsste es um die schon seit langem geforderte und dringliche Neuaufstellung des Systems der Sorge-Arbeit im Bereich der Langzeitpflege gehen (wie eine konsequente Kommunalisierung, die Pflege und Hege der pflegenden Angehörigen, von denen viele auf dem Zahnfleisch gehen sowie der Aufbau alternativer Wohn- und Betreuungsformen, um nur einige Aspekte zu nennen), was aber nicht per Knopfdruck realisierbar ist, sondern das muss man über viele Jahre vorbereiten und aufbauen und einführen.
Alles in allem: Ein politisches Armutszeugnis.