Altenpflege: 8.000 Stellen mehr! Zu wenig! Wie wäre es mit 13.000? Von Symbolstellen, einem nicht überraschenden Mangel an Menschen und Erkenntnissen aus dem Pflege-Thermometer 2018

Das Thema Pflegenotstand bewegt verständlicherweise viele Menschen und seit geraumer Zeit auch (wieder einmal) die Medien. Zahlreiche Berichte legen den Finger auf die offensichtliche Wunde – es fehlt vorne und hinten an Personal. Nachdem das Problem (das übrigens nun wirklich nicht wie ein Komet urplötzlich und damit völlig überraschend auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland eingeschlagen ist, denn die Hinweise und Mahnungen hinsichtlich des nun „lediglich“ immer schlimmer werdenden Personalmangels in der Pflege gab es schon seit vielen Jahren) im Bundestagswahlkampf des vergangenen Jahres einen gehörigen Schub bekommen hat in der Berichterstattung, fand das auch im Koalitionsvertrag der neuen Großen Koalition aus Union und SPD seinen Niederschlag.

Dort hat man beispielsweise fixiert, dass über ein Sofortprogramm den Pflegeheimen 8.000 zusätzliche Stellen für die medizinische Behandlungspflege zur Verfügung gestellt werden sollen (die dann aufgrund der Zweckbestimmung von Dritten, in diesem Fall den Krankenkassen, finanziert werden müssen). Die Reaktionen sind bekannt: Die einen mokieren sich über die Zahl an sich, denn die 8.000 Stellen muss man allein schon vor dem Hintergrund sehen, dass es mehr als 13.000 Pflegeheime in Deutschland gibt. Die anderen weisen darauf hin, dass der Personalbedarf nicht nur heute schon eklatant ist (gemessen an den vorhandenen offenen, aber nicht besetzten bzw. nicht gesetzbaren Stellen), sondern das eigentlich Pflegekräfte in weitaus größerer Zahl fehlen und angesichts der demografischen Entwicklung von einem beständigen Anstieg des Personalbedarfs auszugehen ist.

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Nur nicht zu früh freuen: Wenn die nächste Instanz ein wegweisendes Urteil zu Mitbestimmungsrechten bei der Mindestpersonalbesetzung in der Pflege wieder einkassiert

Man kennt das – es gibt Hoffnung und dann wird die wieder zunichte gemacht in der nächsten Runde. So ist das oft in der Sozialpolitik. Sei es, dass man mit einer guten Absicht gestartet ist, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern und am Ende dann ganz woanders landet. Oder in der Rechtsprechung – ein Urteil, oftmals überraschend, lässt hoffen – und dann wird es in der nächsten Instanz wieder kassiert. Davon muss hier berichtet werden in einem Themenfeld, das seit einiger Zeit im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte steht: dem Pflegenotstand in den Pflegeheimen und in den Krankenhäusern.

Dabei geht es gar nicht um die optimale Ausstattung der Pflegeeinrichtungen mit Personal, sondern man beschränkt sich schon ob bewusst oder unbewusst angesichts des eklatanten Personalmangels auf die Frage, ob es Mindestpersonalvorgaben geben soll (und darf) und wenn, wie man diese Untergrenzen realisieren könnte. Eine an sich schon amputierte Debatte, die zudem – analog zum gesetzlichen Mindestlohn – immer die Gefahr in sich trägt, dass eine unterste Grenze auf einmal zu einer Referenz für die „normale“ Ausstattung wird. 

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Pflegenotstand: (Wieder mal) Ausländer rein! Also in die Pflege. Die verzweifelte Hoffnung stirbt offensichtlich zuletzt

Im Jahr 1963 wurde ein Chefarzt im SPIEGEL mit diesen Worten zitiert: „Das Krankenhaus ist zu einem Taubenschlag geworden.“ Und in dem Artikel Der weiße Alptraum, veröffentlicht im SPIEGEL Heft 29/1963, wird daran anknüpfend berichtet: »Der Mangel an weißen Hauben-Tauben ist einer der gewichtigsten Gründe für die Misere vieler deutscher Krankenhäuser: Wegen Schwesternmangels mußten in letzter Zeit zahlreiche Stationen und Abteilungen geschlossen, konnte manche neue Klinik gar nicht eröffnet werden.« Damals wurde von 94.352 Krankenschwestern berichtet, die laut Statistik berufstätig waren – und zugleich von 40.000 fehlenden Pflegekräften in den Kliniken.

Wahrhaft putzige Zahlen, wenn man an die heutigen Größenordnungen denkt und die man in der aktuellen Diskussion über einen Pflegenotstand parat haben sollte: Nur bezogen auf die Krankenhäuser wird für 2016 von 325.100 Pflegefachkräften (in Vollzeit) berichtet ( übrigens 1.000 weniger als im Jahr 1991). Aber die Welt der Pflege ist noch weitaus größer: Allein in der stationären und ambulanten Altenpflege sind 1,1 Mio. Beschäftigte tätig und wenn man eine Hierarchie der Dringlichkeit des Pflegenotstands aufstellen müsste, dann steht die Altenpflege ganz oben auf der Liste.

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Mal keine Obergrenzen – oder doch? Die Ambivalenz der Diskussion über Personaluntergrenzen für die Pflegekräfte in Krankenhäusern

Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hatte am 1.10.2015 in Berlin die Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ einberufen. Die Experten aus den Koalitionsfraktionen und den Bundesländern sollten sich mit der Frage einer sachgerechten Berücksichtigung des Pflegebedarfs im Vergütungssystem der Krankenhäuser befassen, so die Ankündigung des Ministeriums im Jahr 2015.

Die Kommission sollte »prüfen, ob im DRG-System oder über ausdifferenzierte Zusatzentgelte ein erhöhter Pflegebedarf von demenzerkrankten, pflegebedürftigen oder behinderten Patientinnen und Patienten und der allgemeine Pflegebedarf in Krankenhäusern sachgerecht abgebildet werden. Abhängig vom Prüfergebnis sollen Vorschläge unterbreitet werden, wie die sachgerechte Abbildung von Pflegebedarf im DRG-System oder über ausdifferenzierte Zusatzentgelte erfolgen kann. Zudem wird sich die Kommission der Frage widmen, auf welche Weise die tatsächliche Verwendung der nach Ablauf des Pflegestellen-Förderprogramms zur Verfügung gestellten Finanzmittel für die Finanzierung von Pflegepersonal sichergestellt werden kann.« So die Mitteilung Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ des Bundesgesundheitsministeriums vom 1. Oktober 2015.
Und am 7. März 2017 wurde dann seitens des Ministeriums darüber informiert: Stärkung der Pflege im Krankenhaus. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, Koalitionsfraktionen und Länder verständigen sich auf die Einführung von Personaluntergrenzen: »In Krankenhausbereichen, in denen dies aus Gründen der Patientensicherheit besonders notwendig ist, sollen künftig Pflegepersonaluntergrenzen festgelegt werden, die nicht unterschritten werden dürfen« – wie beispielsweise auf Intensivstationen oder im Nachtdienst.
Der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle vielleicht etwas irritiert zur Kenntnis nehmen müssen, dass eine Expertenkommission eingesetzt wurde, die sich mit der Finanzierung der Pflege innerhalb des bestehenden Vergütungssystems für die Krankenhäuser auseinandersetzen sollte – und herausgekommen ist u.a. die Forderung nach Pflegepersonaluntergrenzen. Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Die Kommission hat argumentiert, Pflegepersonaluntergrenzen seien notwendig, um den allgemeinen Pflegebedarf überhaupt abbilden zu können.

Die Vorschläge der Expertenkommission (vgl. dazu im Original: Schlussfolgerungen
aus den Beratungen der Expertinnen- und Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ vom 7. März 2017) wurden im April 2017 von der Bundesregierung in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) unter Beteiligung der Privaten Krankenversicherung (PKV) wurden damit beauftragt, Personaluntergrenzen in sogenannten pflegesensitiven Bereichen verbindlich festzulegen. Hierbei werden Intensivstationen sowie die Besetzung des Nachtdienstes mit einbezogen. Die konkreten Regelungen, die auf Empfehlungen einer Expertenkommission zurückgehen, sollen bis zum 30. Juni 2018 vereinbart und zum 1. Januar 2019 umgesetzt werden.

Das war schon auf den Weg gebracht – und dann kam die Bundestagswahl 2017 und der sich hinziehende Findungsprozess der neuen (alten) Koalition. Und im Koalitionsvertrag 2018 zwischen CDU/CSU und SPD tauchen dann hinsichtlich der hier interessierenden Thematik interessante Erweiterungen dessen, was schon im vergangenen Jahren auf den Weg gebracht wurde, auf. Die beiden zentralen Absichtserklärungen lauten:

»Den Auftrag an Kassen und Krankenhäuser, Personaluntergrenzen für pflegeintensive Bereiche festzulegen, werden wir dergestalt erweitern, dass in Krankenhäusern derartige Untergrenzen nicht nur für pflegeintensive Bereiche, sondern für alle bettenführenden Abteilungen eingeführt werden.«

»Künftig sollen Pflegepersonalkosten besser und unabhängig von Fallpauschalen vergütet werden. Die Krankenhausvergütung wird auf eine Kombination von Fallpauschalen und einer Pflegepersonalkostenvergütung umgestellt. Die Pflegepersonalkostenvergütung berücksichtigt die Aufwendungen für den krankenhausindividuellen Pflegepersonalbedarf. Die DRG-Berechnungen werden um die Pflegepersonalkosten bereinigt.«

 Hinsichtlich der ursprünglichen Festlegung auf die Aushandlung von Pflegepersonaluntergrenzen für „pflegesensitive“ Bereiche (und das übrigens hier nur als pikante Fußnote: ausschließlich von den Kostenträgern, also den Krankenversicherungen, gemeinsam mit den Krankenhäusern) ist nun also eine Generalisierung des Ansatzes auf alle „bettanführenden“ Abteilungen vorgesehen.
Das ist eine nur konsequente Erweiterung des ursprünglichen Ansatzes, denn die Kommission hatte ja damit argumentiert, man brauche solche Personaluntergrenzen, um den „allgemeinen Pflegebedarf“ abbilden zu können – nur dann hätte man die Fragwürdigkeit der dann vorgenommenen Begrenzung auf „pflegesensitive“ Bereiche in den Krankenhäusern erkennen und gleich so vorgehen müssen, denn auch die anderen Bereiche sind pflegesensitiv und unabhängig davon hat selbst die Kommission gesehen, auf welches dünnes Eis sie sich begibt, wenn sie verbindliche Personaluntergrenzen nur für einige ausgewählte Bereiche fordert.

Denn in den Schlussfolgerungen der Kommission vom 7. März 2017 findet man diesen Passus:

»Bei der Vereinbarung der Personaluntergrenzen ist dafür Sorge zu tragen, dass Substitutionseffekte vermieden werden; Übergangsvorschriften sowie etwaige zwingend gebotene Ausnahmevorschriften können berücksichtigt werden. Die Krankenhäuser weisen ihre Pflegepersonalausstattung durch Bestätigung eines Wirtschaftsprüfers nach. Die Personaluntergrenzen sind mit angemessenen Sanktionen für den Fall zu verbinden, dass ein Krankenhaus die vorgegebenen Personaluntergrenzen nicht einhält. Dazu gehören hausbezogene finanzielle Abschläge … .«

Was hier mit „Substitutionseffekten“ umschrieben wird, meint nichts anderes, als dass die Kliniken hingehen, und die Einhaltung der Untergrenzen in den „pflegeintensiven“ Bereichen durch eine Reduzierung bei den anderen, nicht entsprechend regulierten Bereichen zu kompensieren versuchen. Eine mehr als naheliegende Managementstrategie.

Vor diesem Hintergrund und unabhängig von anderen durchaus wichtigen Kritikpunkten an dem ganzen Ansatz ist also die Formulierung im Koalitionsvertrag nur folgerichtig.

Und vor diesem Hintergrund muss man dann so eine alarmistische Meldung zur Kenntnis nehmen: Empörung über Scheinlösung. ver.di kritisiert unzureichende Lösung bei Pflegeuntergrenzen. In diesem Artikel wird über eine öffentliche Anhörung der Gewerkschaft berichtet:
»Seit Monaten verhandeln die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) im Auftrag der Bundesregierung über Untergrenzen für sogenannte pflegesensitive Bereiche der Krankenhäuser. »Aber was genau verhandeln DKG und GKV eigentlich? Das wissen nur sehr wenige Menschen«, so die Leiterin des ver.di-Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen«, Sylvia Bühler.

Die in der Überschrift des Artikels erwähnte Empörung wird verständlicher, wenn man sich die Ausführungen von Georg Baum, seines Zeichens Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) anschaut:

»Laut Baum sollen für lediglich sechs Bereiche Personaluntergrenzen festgelegt werden. DKG und GKV seien darin übereingekommen, dass ein Drittel der Mindestbesetzung aus Hilfskräften statt aus examinierten Pflegekräften bestehen könne. Die Krankenhausträger wollen zudem, dass die Mindestbesetzung nicht in jeder Schicht, sondern nur im Durchschnitt eines Quartals eingehalten werden müssen und Kliniken erst dann Sanktionen zu befürchten haben, wenn die Vorgaben drei Jahre in Folge nicht eingehalten werden.«

Das wäre aus Sicht der Arbeitgeber (und der Kostenträger) sicher verständlich – aus fachlicher Sicht hingegen ein übler Witz. Der Präsident der rheinland-pfälzischen Landespflegekammer, Markus Mai, bezeichnete die Ankündigungen zutreffend als „groben Unfug“ und „Bankrotterklärung“.

Und man sollte diese Darstellung der Verständigung zwischen Kostenträgern und Arbeitgebern auch mitnehmen in das neue koalitionsvertragsbedingte Setting einer Ausweitung des Auftrags, Pflegepersonaluntergrenzen für alle bettanführenden Abteilungen zu definieren. Denn diese Zielvorstellung würde sich sicher nicht verändern.

Auch Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerats (DPR), äußerte sich „irritiert“ über die Ausführungen der Krankenhausseite, wies aber mit Blick auf den Koalitionsvertrag darauf hin, dass die Diskussion im Grunde bereits von der Politik überholt worden ist. Zwischenzeitlich hat der Spitzenverband der GKV mit Nachruck zurückgewiesen, dass es eine Einigung mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft geben würde, kann man diesem Artikel entnehmen: Personaluntergrenzen in der Pflege: Viel Aufregung um unabgestimmtes Konzept. Aber offensichtlich zeichnet sich etwas ab, was Kritiker schon vorhergesagt haben. Experten für mehr Pflegepersonal, so ist eine Meldung des Parlaments über eine Anhörung im Gesundheitsausschuss am 17.05.2017 überschrieben. Und dort findet man diesen Hinweis: »Der Einzelsachverständige Michael Simon von der Hochschule in Hannover monierte in seiner schriftlichen Stellungnahme, einige Vorschriften seien ungenau formuliert, was zu Fehlsteuerungen führen könnte. So müsse der Begriff Pflegepersonaluntergrenzen eindeutiger definiert werden. Es sei zudem wichtig, die Personalvorgaben pro Schicht zu benennen. Ferner müsse verhindert werden, dass in hohem Maß oder sogar überwiegend Pflegehilfskräfte herangezogen werden, also solche mit niedrigerer Qualifikation.«

Man wird also weiter abwarten müssen, was der Gang der Dinge bringen wird. Unabhängig von der Folgerichtigkeit, den Auftrag der Festlegung von Personaluntergrenzen auf alle Pflegebereiche auszuweiten, bleibt ein „schlechtes Gefühl“, ein „schaler Beigeschmack“ bei dem an sich und auf den ersten Blick vernünftig daherkommenden Anliegen, eine Untergrenze für Pflegepersonal festzuzurren. Denn das kann einer diese gut gemeinten Schüsse sein, die nach hinten losgehen. Gleichsam eine Art „friendly fire“, unter dass die Pflege gesetzt wird. Dazu bereits mein Beitrag vom 18. Mai 2017: Pflegekräfte ziemlich allein gelassen. In der Krankenhaus-Realität und im internationalen Vergleich:

»Um bei allen Argumenten für Personaluntergrenzen gleich Wasser in den Wein zu gießen:  Es besteht die Gefahr, dass viele Krankenhäuser die Kennzahlen nicht als Unter-, sondern als Obergrenze verstehen.«

Man denke hier nur an die empirisch beobachtbaren Effekte einer Orientierung auf die Untergrenze beim Thema gesetzlicher Mindestlohn.

Wenn, dann bräuchte man nicht Mindestpersonalschlüssel, sondern Personalschlüssel einer guten pflegerischen Praxis und die müssten ermöglicht werden.

Und abschließend der Schwenk zu der zweiten Komponente im Koalitionsvertrag, die bei Krankenhausmanagern noch mehr Unruhe ausgelöst hat als die Ausweitung der Personaluntergrenzen für die Pflege – die Infragestellung des gesamten bisherigen Vergütungssystems in der Krankenhauslandschaft auf der Basis von Fallpauschalen, die auf Diagnosen und Prozeduren basieren, nicht aber auf der Frage, mit welchem Personal und vor allem in welchem Mischungsverhältnis man die Arbeit erledigt: Pflegepersonalkosten sollen besser und unabhängig von Fallpauschalen vergütet werden. Die Krankenhausvergütung wird auf eine Kombination von Fallpauschalen und einer Pflegepersonalkostenvergütung umgestellt. Das ist bzw. wäre ein echter Hammer. Denn es würde das Geschäft einer durchökonomisierten Krankenhauslandschaft erheblich erschweren.

Um das nachzuvollziehen, sei an dieser Stelle nur auf zwei Beispiele aus dem heutigen Alltag in einem fallpauschalierenden System hingeweisen.

In dem bereits zitierten Artikel über die öffentliche Anhörung der Gewerkschaft ver.di zu den geplanten Personaluntergrenzen findet man diesen Passus:

Selbst jetzt in der Grippezeit, wenn etliche Kolleg/innen krankheitsbedingt ausfallen, würden planbare Operationen nicht verschoben, berichtete Christine Lachner vom Urban-Krankenhaus in Berlin. »Denn im System der Fallpauschalen müssen die Kliniken Geld verdienen und das heißt: möglichst viele OPs.« Das könnten nur verbindliche, schichtbezogene Vorgaben verhindern, ist die Krankenpflegerin überzeugt. Sie verwies darauf, dass nicht nur in der Pflege Personal fehlt. »Früher hatten wir auf der Intensivstation zwei Reinigungskräfte im Frühdienst und eine im Spätdienst – heute kommt eine für sechs Stunden. Wir hatten auch mal einen Physiotherapeuten. Jetzt ist mal einer für zwei Stunden da, wenn man Glück hat.«

Was man in diesem Zitat erkennen kann neben der Anklage die Arbeitsbedingungen betreffend ist der Kern der betriebswirtschaftlichen Zwangsläufigkeit in einem Krankenhaus unter den Bedingungen der Fallpauschalierung: Man muss sich fokussieren auf die Erlösquellen – und das sind beispielsweise Operationen, die eine Menge Geld bringen können, wenn man sie effizient abwickeln kann. Und wenn man bei bestimmten Leistungen in die Menge gehen kann, weil deren Deckungsbeiträge um ein Vielfaches größer sind als bei seltenen oder nur sporadisch auftauchenden Maßnahmen.

Man kann die hier angedeutet Ökonomisierungseffekte eines Vergütungssystems auch wesentlich konkreter illustrieren – vgl. dazu als ein Beispiel von vielen den Beitrag Herzkatheter: Gier am Aortenbogen: »Um ein neues Herzkatheter-Labor rechtfertigen zu können, sollte der Herzkathetertisch möglichst oft belegt sein. In einer Klinik in NRW gefährden Ärzte deshalb Patienten mit kardiologischen Untersuchungen weit abseits der Leitlinien.« Der Artikel basiert auf den Aussagen eines Arztes aus der hier beispielhaft examinierten Klinik in Nordrhein-Westfalen:

„Fielen Schlagwörter wie Thoraxschmerzen oder Angina pectoris, hat es keine 24 Stunden gedauert, bis ein Patient für mich ohne Indikation auf dem Herzkathetertisch lag“ … Linksherzkatheter-Untersuchungen seien auf der Tagesordnung gewesen, selbst bei Patienten zwischen Ende 80 und Anfang 90 mit augenscheinlich leichten Beschwerden …  „Bislang gab es im Haus zwei Herzkatheter-Labore. Das große Ziel vom Chef war ein drittes Labor.“ Ohne entsprechende Zahlen spiele die Verwaltung nicht mit. „Um Quoten zu erfüllen, wurden Indikationen deshalb sehr großzügig gestellt.“ … „Ich habe öfter erlebt, dass Patienten im hohen Alter katheterisiert wurden, sich ein bypasspflichtiger Befund ergab und sie dann zur OP geschickt wurden“, berichtet der Arzt. „Bei Freunden oder Bekannten hätten wir das nie zugelassen.“ Fendt weiter: „Wir haben erfahren, dass es Verträge oder zumindest Absprachen zwischen Kliniken gibt, dass pro Quartal eine gewisse Zahl an Patienten zur Bypass-OP vorbeigeschickt wurden.“ Denn sein Haus habe keine eigene Herzchirurgie.«

Und der Arzt, der hier die Journalisten mit Infos versorgt hat, geht auch explizit auf die innere Logik der Fallpauschalen ein:

„Viele Krankenhäuser haben heute Programme mit einem symbolhaften Ampelsystem.“ Liegt der Patient zu kurz, warnt eine rote Farbe vor frühzeitigen Entlassungen. Möchte er aber noch eine Nacht bleiben, weil seine Angehörigen ihn vielleicht erst nach dem Wochenende abholen, warnt das System ebenfalls, dass die Klinik so ein Minus macht. „In der Kardiologie hat unser Chefarzt jeden Morgen alle Daten durchgeklickt und teilweise Patienten hinausgeworfen. Sie kamen dann nach ein paar Tagen wieder, weil sie alleine nicht zurechtgekommen sind.“

Nun kann man das als eine Einzelmeinung und damit übertrieben und nicht relevant abtun, einer dieser bedauerlichen Einzelfälle eben. Dann sei auf diesen Beitrag verwiesen, der das Gegenteil beweist oder plausibel macht: Öko­nomi­sierung patientenbezogener Entscheidungen im Krankenhaus. Eine qualitative Studie zu den Wahrnehmungen von Ärzten und Geschäftsführern, so ist der Artikel von Karl-Heinz Wehkamp und Heinz Naegler:

»Krankenhäuser müssen zur Sicherung ihrer Existenz Gewinne erwirtschaften. Der Anstieg der Fallzahlen und des Case-Mix-Indexes lassen vermuten, dass Aufnahme, Behandlung und Entlassung von Patienten nicht allein von medizinischen, sondern – um Gewinne erwirtschaften zu können – auch von wirtschaftlichen Gesichtspunkten beeinflusst, das heißt ökonomisiert, werden. Die vorliegende Studie untersucht, ob Ärzte und Geschäftsführer eine solche Entwicklung im beruflichen Alltag auch beobachten.«

Aus den Befunden der Studie kann und muss man mitnehmen: »Geschäftsführer verwiesen auf die erforderliche Gewinnorientierung und betonten, dass sie den gesetzlichen Vorgaben entsprechend keinen direkten Einfluss auf ärztliche Entscheidungen nähmen, jedoch mittelbar das Handeln des Arztes beeinflusst werden könne. Ärzte berichteten von dem wachsenden Druck, betriebswirtschaftliche Interessen bei patientenbezogenen Entscheidungen zu berücksichtigen, was zu Unter-, Über- und Fehlversorgung der Patienten, aber auch zu ethischen Konflikten, Stresssituationen und Frustration führe.«

Wozu das dann wieder vor Ort und im Alltag der Betroffenen führt, kann man beispielsweise diesem, Artikel entnehmen: „Insgesamt ethisch nicht mehr tragbar“: »Ein saarländischer Krankenhaus-Arzt schildert den Alltag auf den Stationen – und klagt über Pflegenotstand und Bürokratie-Wahn.« Daraus dieses Zitat:

Wenn Markus Hardt das deutsche Gesundheitswesen des Jahres 2018 in einem Bild darstellen müsste, dann sähe es so aus: „Am Rand stehen Patienten, Pflegekraft und Arzt, umringt von zahlreichen Kontrolleuren, EDV-Kräften, Codierern, Case-Managern, Qualitätsbeauftragten und so weiter, die alle zunehmend Ansprüche stellen und die Zeit für das Patientenwohl rauben.“

Und das hat seine Ursachen – und die liegen nicht nur, aber eben auch in dem bestehenden Vergütungssystem für die Krankenhäuser:

»Das Gesundheitssystem, so sieht es Hardt, wurde den Gesetzen der freien Wirtschaft unterworfen – mit planwirtschaftlichen Elementen. „Der Patient und seine Krankheiten wurden zur Ware und einem Wirtschaftsfaktor“, so Hardt. „Das Gesundheitssystem sollte aber immer billiger werden, gleiche Leistungen wurden immer geringer bezahlt. Beim Personal, das meist direkt am Menschen arbeitet und bis zu 70 Prozent der Gesamtkosten ausmacht, wurde zuerst gespart. Das war sicher der falsche Weg.“

Ohne dass mehr Personal zur Verfügung stehe, sei ein „zeitraubendes Finanzierungssystem“ samt Kontrollen und Qualitätsdokumentationen aufgebaut worden. Der Mediziner spricht von „teils menschenverachtend wirkenden Anfragen, von sich verselbständigenden Prüfungsroutinen“. Entscheidungen fielen an irgendwelchen Schreibtischen, ohne Rücksicht auf die individuellen Erfordernisse des einzelnen Patienten. „Der Formalismus ist plötzlich entscheidend.“ … Er bekräftigt, dass es einen „Notstand“ in der Pflege gibt. Weil beim System der Fallpauschalen die Schraube jedes Jahr enger gezogen werde, bleibe den Kliniken gar nichts anderes übrig, als immer mehr Patienten zu behandeln. Das sei eine enorme Belastung für das Personal. „Ich habe das gleiche Personal, aber viel höhere Fallzahlen – das kann nicht gutgehen.“«

Aber man sollte sich unvoreingenommen die innere Logik dieses Systems vor Augen führen: Investitionen lohnen sich vor allem in die Bereiche und dann die Personen, in und über die man die besten Erlöse im bestehenden Vergütungssystem realisieren kann. Und dass sind bezogen auf die Personen eben nicht die Pflegekräfte, sondern die Ärzte – deshalb auch die Expansion der Ärztebeschäftigung in den Kliniken, wenn auch das nur ein Grund unter mehreren ist (so spielen beispielsweise auch arbeitszeitgesetzliche Änderungen eine Rolle).

Hier nun sehen wir die unangenehme Ambivalenz des Themas Pflegepersonaluntergrenzen: Auf der einen Seite sind sie notwendig, um die die im System begründete strategische Benachteiligung der Profession Pflege zu verhindern und – im idealen Fall – eine halbwegs erträgliche Mindestbesetzung abzusichern. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass im Alltag dann die Unter- zu Obergrenzen werden und sich die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte dadurch nicht wirklich verbessern lassen.

Unabhängig davon ist die Ankündigung der neuen Großen Koalition, die Pflege aus dem bisherigen Fallpauschalensystem herauszunehmen, von gleichsam revolutionärer Dimension. Und die bereitet vielen Krankenhausmanagern eine Menge Kopfzerbrechen. Aber sie haben durchaus Verbündete. Vor wenigen Tagen fand das 17. Nationale DRG-Forum statt. Dort tauchten auch die beiden wichtigsten CDU-Gesundheitspolitiker auf – der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Erwin Rüddel, der Vorsitzende im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages. Und die brachten den gestressten Managern zumindest ein wenig Hoffnung mit, wie man diesem Artikel entnehmen kann: CDU uneins über Zukunft der Fallpauschalen:

Spahn hatte sich zum System der Fallpauschalen bekannt und gesagt, es sei ein schwieriger „Spagat“, die Pflege gesondert zu finanzieren und zugleich die Krankenhäuser nicht aus ihrer betriebswirtschaftlichen Leistung zu entlassen. Rüddel hatte gesagt: „Das, was im Koalitionsvertrag steht, wird nicht immer eins zu eins umgesetzt.“

Den Hinweis von Rüddel sollte man durchaus als das verstehen, was es ist – eine Beruhigungspille und zugleich die Ankündigung, dass man in dem anstehenden parlamentarischen Prozess eine Menge aufhalten, verzögern und letztendlich auch verändern kann.

Und zum Schluss eine trockene Zahl, die zugleich die Größenordnung verdeutlichen kann, um die es hier geht: Die AOK beziffert die Mittel für die Pflege im DRG-System auf 18 Milliarden Euro. Das nun sind wahrlich keine Peanuts.

Die Schattenarmee des deutschen Pflegesystems und die Forderung, den Kopf aus dem Sand zu ziehen

In den vergangenen Monaten ist mal wieder intensiver über den Pflegenotstand in unserem Land berichtet und diskutiert worden. Dabei ist klar geworden, dass es nicht nur Probleme und Personalmangel in den Pflegeheimen gibt, sondern zunehmend auch bei den ambulanten Pflegediensten, die bislang immer im Windschatten der nicht selten skandalisierenden Berichterstattung über die stationäre Altenpflege gesegelt sind. Und das Thema bewegt so viele Menschen, neben den Pflegebedürftigen natürlich auch die Millionen Angehörige. Und wenn man eines mit Sicherheit behaupten kann, dann das: Würde es nicht die zahlreichen pflegenden Angehörigen in unserem Land geben, die bislang sicherstellen, dass mehr als 70 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden, dann würde das Pflegesystem in Deutschland innerhalb weniger Tage zusammenbrechen.

Und nicht wenige pflegende Angehörige besorgen sich Unterstützung bei Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, weil es zwischen dort und hier ein enormes Wohlstandsgefälle gibt. Die dann eine Zeit lang, oftmals im Wechselmodell, einige Monate hier sind und dann wieder in ihre Heimat zurückkehren und nach einiger Zeit erneut aufbrechen. Jeder weiß, über wen wir hier sprechen. Vor allem Frauen aus osteuropäischen Ländern. Und wir reden hier nicht über ein abseitiges Thema. Wenn man bei Google den Suchbegriff „24-Stunden-Pflege“ eingibt, um nur ein Beispiel zu nennen, dann bekommt man dieses Ergebnis:  575.000 Ergebnisse in 0,48 Sekunden.

Über die vielen überwiegend aus Osteuropa stammenden Menschen, die hier bei uns in den Familien bei den Betroffenen arbeiten und dort leben, wurde in diesem Blog immer wieder berichtet. Beispielsweise in diesem Beitrag vom 5. September 2016: Häusliche Betreuung und Pflege: Eine völlig berechtigte Skandalisierung, wenn hier „Sklavinnen“ unterwegs sind. Aber zugleich die bohrende Frage: Was tun?. Dort findet man dieses Zitat:

»Rund um die Uhr, unterbezahlt und unversichert. „Pflegesklavinnen“ nennen manche diese Menschen, oft aus Osteuropa, die teilweise weniger als 800 Euro im Monat verdienen – für einen Job, für den es eigentlich drei Pflegekräfte bräuchte. Die Frauen, selten Männer, arbeiten als 24-Stunden-Kräfte, auch „Live-Ins“ genannt, in Privathaushalten. Von dort aus versorgen sie Menschen Tag und Nacht, gehen einkaufen, kochen, geben Tabletten und sind Gesprächspartner. Und weil sie keine Rechte haben, werden sie oft mit Füßen getreten.«

Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um eine Schattenwelt, was sich dann auch in den Zahlen niederschlagen muss: Experten schätzen, dass es zwischen 100.000 und 300.000 – ganz überwiegend Frauen – sind, ohne die hier das Pflegesystem kollabieren würde.

Letztlich ist es so gut wie unmöglich, eine osteuropäische 24-Stunden-Pflegerin legal in Deutschland zu beschäftigen, auch wenn immer wieder gerne anderes behauptet wird. Dabei muss man auch die problematische Rolle vieler Vermittlungsagenturen ansprechen, wie das in diesem Zitat deutlich herausgearbeitet wird:

»Die Frauen kommen meist im Wechsel mit einer Kollegin für jeweils drei Monate nach Deutschland. Agenturen bezeichnen die Einsätze als Dienstreisen oder schicken die Frauen von polnischen Unternehmen aus nach Deutschland. Solche Dienstreisen sind jedoch Steuerbetrug im Herkunftsland. Und eine Entsendung würde nur funktionieren, wenn dabei deutsche Arbeitszeitgesetze und deutscher Mindestlohn gezahlt würden. Das geschieht bei der 24-Stunden-Pflege nicht. Sehr beliebt ist deshalb die angebliche Selbstständigkeit solcher Helfer. Das Problem: Wer über Wochen oder Monate in einem Haushalt arbeitet, keine eigenen Arbeitsmittel einsetzt und sich die Arbeitszeit nicht selbst einteilen kann, der ist nicht selbstständig.«

Und dieses Thema wurde nun auch aufgerufen vom EWSA – dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss. Der EWSA hatte bereits im Januar 2016 die Initiativstellungnahme Die Rechte von im Haushalt lebenden Pflegekräften veröffentlicht, die dann auch im September 2016 offiziell verabschiedet worden ist.

Der Ausschuss hat nun einen genaueren Blick auf die Situation in Deutschland in diesem Bereich geworfen und die Befunde unter dieser Überschrift veröffentlicht: Europa braucht eine proaktive Langzeitpflegepolitik. Die dort präsentierte Bestandsaufnahme aber lässt den noch positiv klingenden Titel in den Hintergrund treten. Auf einer Veranstaltung zu diesem Thema wurden „die schlimmen Arbeitsbedingungen der in deutschen Haushalten beschäftigten Pflegekräfte“ offengelegt. Daraus einige wichtige Aspekte:

Die Branche in Deutschland sei hochgradig fragmentiert und unreguliert: »Unterbezahlten Pflegekräften werden grundlegende arbeitsrechtliche und Sozialschutzansprüche verweigert, und die Pflegebedürftigen haben keine Gewähr für die Qualität der Pflege, die sie erhalten.« Auch hier wird eine verheerende Diagnose präsentiert: » (Die) Arbeitsbedingungen in den deutschen Haushalten sind mitunter so schlecht, dass sie an Ausbeutung grenzen und an moderne Sklaverei erinnern.«

„Es ist höchste Zeit, faire Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte aus Osteuropa, die Tag und Nacht die deutschen Familien bei der Pflege unterstützen, zu fordern. Sie sollen für ihre Arbeit gerecht entlohnt werden. Ihre Arbeit muss anerkannt und Arbeitsrechte beachtet werden“, wird Sylwia Timm vom Projekt „Faire Mobilität“ des DGB zitiert. „Die 24-Stunden- Pflege und -Betreuung ist Arbeitsausbeutung“, mahnte sie und wies darauf hin, dass die in diesem Rahmen geleistete Arbeit nicht von der Arbeitszeitrichtlinie und anderen einschlägigen Regelungen gedeckt ist. Oft müssen die Pflegekräfte länger als gesetzlich erlaubt arbeiten, ohne Pausen, Ruhezeiten oder freie Tage. Auch die Entlohnung ist nicht angemessen, und Überstunden oder Bereitschaften werden überhaupt nicht bezahlt. Sozialversicherungsbeiträge werden entweder gar nicht oder nur in der geringstmöglichen Höhe entrichtet. Die Pflegekräfte haben keine Kranken- oder Arbeitslosenversicherung und leben oft unter erbärmlichen Umständen, etwa in ungeheizten Räumen, oder müssen im selben Raum wie die pflegebedürftigen Menschen, um die sie sich kümmern, schlafen.

Untersuchungen haben ergeben, dass in etwa jedem zehnten deutschen Haushalt mit einem Pflegebedürftigen eine Hilfskraft beschäftigt wird, die rund um die Uhr mit in der Wohnung lebt und arbeitet.

„Wichtig ist, dass die im Haushalt von Fachkräften erfolgende Pflege professioneller gestaltet und reguliert wird“, erklärte der Berichterstatter der EWSA-Stellungnahme, Adam Rogalewski. Die Branche sei zudem sehr fragmentiert, und einige Agenturen vermittelten Pflegekräfte zu Bedingungen, die auf Sozialdumping hinausliefen.

Der EWSA, so wird deren Berichterstatter Adam Rogalewski zitiert, schlägt unter anderem vor, im Haushalt lebende Pflegekräfte auf dem EU-Arbeitsmarkt dadurch anzuerkennen, dass eine gemeinsame Definition für diesen Beruf festgelegt wird und diese Pflegekräfte mit allen Rechten, die ihnen aufgrund der einschlägigen arbeitsrechtlichen Vorschriften der EU und der Mitgliedstaaten zustehen.

Aber ist das nicht – eigentlich – schon der Fall?

„Es existieren bereits klare Anforderungen an rechtlich legale Beschäftigungsverhältnisse für die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft (sogenannte 24-Stunden-Betreuung). Woran es jedoch mangelt, ist Rechtssicherheit, und das befeuert nur den Schwarzmarkt, der in unserem Bereich mit 90 % unglaublich groß ist. Teilweise werden unpraktikable Scheinlösungen gefordert, die nicht umsetzbar sind. Das betrifft beispielsweise die Anstellung der Betreuungspersonen durch die Privathaushalte oder eine Ausweitung der stationären Versorgung – diese Lösungen sind für mich nicht realistisch“, sagte Juliane Bohl, von der Hausengel Holding AG, einem Mitglied des Verbandes für häusliche Betreuung und Pflege e.V. (VHBP).

Doch nur wenige Pflegekräfte sind direkt von der Pflegefamilie angestellt, viele werden über Agenturen vermittelt. Den Aussagen der Betroffenen zufolge übernehmen die Agenturen jedoch nur selten Verantwortung für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte und bieten mitunter Scheinverträge an, die den tatsächlichen Verhältnissen in keiner Weise entsprechen.

Barbara Janikowska, eine polnische Pflegerin, die die letzten acht Jahre in deutschen Haushalten tätig war, berichtete auf der Veranstaltung des EWSA, dass ihre Verträge niemals der ursprünglichen Arbeitsbeschreibung der Agentur entsprochen hätten.

Frau Janikowska zufolge diktieren die Agenturen die Bedingungen auf dem Markt für im Haushalt lebende Pflegekräfte. „Die potenziellen Arbeitnehmer sind buchstäblich Kanonenfutter. Sklaven im modernen Europa, die die Kassen der Agenturen füllen und ihre Gewinne steigern sollen. Um jeden Preis!!! Nie werde ich die Stellen vergessen, wo ich von 5 Uhr früh bis 22 Uhr abends arbeiten musste“, so die Pflegerin.

Der EWSA befindet sich nun auf einer Informationsreise durch einzelne EU-Mitgliedsstaaten und die Ergebnisse sollen zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr 2018 in einem entsprechenden Bericht vorgelegt werden.

Allerdings wird nicht nur der eine oder andere an dieser Stelle ratlos zurückbleiben und fragen, wo sind denn nun Lösungs- oder Gestaltungsvorschläge, um die seit langem und auch von vielen anderen immer wieder beklagten Zustände zu verändern? Wenn man denn Kopf aus dem Sand ziehen soll, müsste man ja auch irgendwas erkennen können/wollen.
Und genau hier sind wir an einem Punkt angekommen, der erklärt, warum die Politiker – gar nicht als Vorwurf gemeint – das Thema meiden wie der Teufen das Weihwasser. Wie man die Sache auch dreht und wendet – immer wird man sich die Finger schmutzig machen müssen, weil es innerhalb unseres Systems keine wirklich befriedigende Lösung geben kann, bei der nicht gegen eine der ja durchaus begründeten Regulierungen von Arbeitsverhältnissen und -bedingungen verstoßen wird.

Das Dilemma, in dem man sich hier bewegen muss, habe ich in dem Beitrag Häusliche Betreuung und Pflege: Eine völlig berechtigte Skandalisierung, wenn hier „Sklavinnen“ unterwegs sind. Aber zugleich die bohrende Frage: Was tun? vom 5. September 2016 so skizziert:

  • Eine auf den ersten Blick völlig verständliche, aber zugleich sehr wohlfeile Position wäre es, die Ausbeutung und das krasse Gefälle zu skandalisieren und zu argumentieren, dass es diese Verstöße gegen arbeits- und sozialrechtliche Standards schlichtweg nicht geben darf, man also durch eine deutliche Erhöhung des Verfolgungsdrucks und der Bestrafung illegalen Handelns wieder für Ordnung in diesem wichtigen Bereich sorgen muss. Unabhängig von der Frage, ob man das in diesem Feld überhaupt praktisch umgesetzt bekäme, woran hier erhebliche Zweifel geäußert werden sollen, muss man sich klar machen, dass damit ja nicht der Bedarf und die Nachfrage verschwinden. Wenn man dann in diesem Zusammenhang auf das Vorbild der skandinavischen Staaten verweist, dann muss man auch in Deutschland den notwendigen Schritt gehen und eine massive Ausweitung der Altenpflege vom Personal und damit auch von den dafür notwendigen Finanzmitteln fordern. Nicht umsonst sind die Ausgaben in Skandinavien für die auf der kommunalen Ebene angesiedelte Altenpflege um ein Mehrfaches höher als bei uns. Das muss dann politisch eingefordert und umgesetzt werden – und selbst dann muss es genug Menschen geben, die in diesem Bereich auch arbeiten (wollen/können). Selbst wenn man dieses Szenario präferiert, wofür es aus sozialpolitischen Gründen viele gute Argumente gibt, wird man eine ganz erhebliche Übergangszeit berücksichtigen müssen, vor denen man nicht die Augen verschließen darf.
  • Eine andere Variante wäre, auf die Kräfte des Marktes zu vertrauen und abzuwarten. Denn die Ausbeutungsstrukturen, die sich hier teilweise entwickelt haben, werden abnehmen, wenn sich die Angebots-Nachfrage-Relationen verschieben. Und das ist in ersten Umrissen schon zu beobachten, denn: Osteuropäerinnen werden nicht für alle Zeiten als preiswerte Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Dies allein schon, weil die osteuropäischen Länder nach dem Zusammenbruch des Ostblocks einen dramatischen demografischen Einbruch erlebt haben, mit einer sehr niedrigen Geburtenrate und Länder wie Polen beispielsweise in den vergangenen Jahren ökonomisch durchaus aufgeholt haben, so dass der Druck hin zur Akzeptanz einer Pendelmigration nachgelassen hat. Allerdings ist das kein abrupter Prozess und zugleich wird man sehen, dass dann ein Teil der Agenturen einfach das Rekrutierungsspektrum weiter ostwärts ausweiten wird. Und den betroffenen Betreuungs- und Pflegekräften wird auch nicht geholfen, sie verbleiben weiter in dem Ausbeutung und Missbrauch förderlichen völlig eintransparenten Umfeld der „schwarzen“ Haushalte.

Bleibt die Frage nach einem „Mittelweg“. Und da muss man sich eben auch die Hände schmutzig machen:
Wichtigstes Ziel dabei wäre es, diesen völlig intransparenten Bereich ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, um darüber eine fachliche Begleitung (und damit immer auch Kontrolle) zu ermöglichen. Das würde auch der unterstützten Selbstorganisation der Betreuungs- und Pflegekräfte neue Räume eröffnen. Sie müssen die Möglichkeit bekommen, sich zu organisieren und untereinander auszutauschen, dabei jederzeit – beispielsweise über die Pflegestützpunkte – Beratung und Hilfestellung erhalten zu können. Über einen solchen Weg könnte man praktisch Missbrauch und Ausbeutung wesentlich besser eindämmen als mit allen anderen formal-rechtlich daherkommenden, aber in der Lebenswirklichkeit ins Leere laufenden Instrumenten.

Dann  kann man die mögliche – und vor dem Hintergrund der ansonsten anfallenden Ausgaben an anderer Stelle immer noch überaus lohnenswerte –  finanzielle Förderung und Unterstützung der Betroffenen bzw. ihrer auftraggebenden Haushalte an die Beteiligung an den neuen „legalisierten“ Strukturen einer in Teilbereichen weiterhin hoch problematischen, weil natürlich zumindest hinsichtlich der Arbeitszeiten im nicht wirklich legalen Bereich angesiedelten Form der Sonderbeschäftigung verbindlich binden. Um wenigstens ein Bein in diesen Bereich zu bekommen und den betroffenen Frauen wirksam helfen zu können. Und gleichzeitig würde es die organisierte Erschließung dieses bislang völlig in einer Schattenwelt stattfindenden Beschäftigungsbereichs ermöglichen, rechtzeitig Alternativen anzudenken, zu entwickeln und auszuprobieren, die wir brauchen, um Betreuung und Pflege im häuslichen Umfeld besser, menschenwürdiger zu organisieren.
Man ahnt schon, warum man entweder gerne „nur“ skandalisierend über diesen Bereich diskutiert oder lieber auf Tauchstation geht und nach dem Rollenmodell der drei Affen das Thema durch Nicht-Behandlung wegzuwünschen hofft.