Das Thema Pflegenotstand bewegt verständlicherweise viele Menschen und seit geraumer Zeit auch (wieder einmal) die Medien. Zahlreiche Berichte legen den Finger auf die offensichtliche Wunde – es fehlt vorne und hinten an Personal. Nachdem das Problem (das übrigens nun wirklich nicht wie ein Komet urplötzlich und damit völlig überraschend auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland eingeschlagen ist, denn die Hinweise und Mahnungen hinsichtlich des nun „lediglich“ immer schlimmer werdenden Personalmangels in der Pflege gab es schon seit vielen Jahren) im Bundestagswahlkampf des vergangenen Jahres einen gehörigen Schub bekommen hat in der Berichterstattung, fand das auch im Koalitionsvertrag der neuen Großen Koalition aus Union und SPD seinen Niederschlag.
Dort hat man beispielsweise fixiert, dass über ein Sofortprogramm den Pflegeheimen 8.000 zusätzliche Stellen für die medizinische Behandlungspflege zur Verfügung gestellt werden sollen (die dann aufgrund der Zweckbestimmung von Dritten, in diesem Fall den Krankenkassen, finanziert werden müssen). Die Reaktionen sind bekannt: Die einen mokieren sich über die Zahl an sich, denn die 8.000 Stellen muss man allein schon vor dem Hintergrund sehen, dass es mehr als 13.000 Pflegeheime in Deutschland gibt. Die anderen weisen darauf hin, dass der Personalbedarf nicht nur heute schon eklatant ist (gemessen an den vorhandenen offenen, aber nicht besetzten bzw. nicht gesetzbaren Stellen), sondern das eigentlich Pflegekräfte in weitaus größerer Zahl fehlen und angesichts der demografischen Entwicklung von einem beständigen Anstieg des Personalbedarfs auszugehen ist.
Und wie regiert die Politik? Man geht in die „Offensive“ und erhöht mal eben die Zahl der neuen, zusätzlichen Stellen von den ursprünglich geplanten 8.000 auf – nicht zufälligerweise – 13.000, was der Zahl der Pflegeheime insgesamt ganz nahe kommt (vgl. dazu das am 23. Mai 2018 vorgestellte Sofortprogramm Kranken- und Altenpflege des neuen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn sowie Bundesministerium für Gesundheit (2018): Eckpunktepapier Sofortprogramm Kranken- und Altenpflege). Das kommt tatkräftig daher und vermittelt den Eindruck, dass man offensichtlich da oben verstanden hat, dass das Problem weitaus gravierender ist.
Und der Dank? Solche Schlagzeilen: Spahns schlechter Witz: »Gesundheitsminister legt „Sofortprogramm“ gegen Pflegenotstand vor. Kritiker bemängeln „Stückwerk“ und fordern mehr Geld.«
»Der Aktionsplan sei »leider ein Witz«, beklagte … der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie. »Mit diesen 13.000 Symbolstellen gewinnen wir nichts in diesem Land«, sagte er … Das Vorhaben werde die Bedingungen in der Pflege »nicht maßgeblich verbessern«, monierte Verena Bentele, Chefin des Sozialverbands VdK Deutschland. Der Paritätische Wohlfahrtsverband mahnte »weitere verbindliche Schritte« an. Andernfalls wären die Maßnahmen nicht mehr als ein »Trostpflaster«.«
Zu der – offensichtlich weiter als zu niedrig dimensioniert kritisierten – Aufstockung der Zahl der neuen zusätzlichen Stellen auf 13.000 kann man dem Eckpunktepapier des Bundesgesundheitsministeriums entnehmen:
»Jede vollstationäre Altenpflegeeinrichtung in Deutschland soll im Rahmen des Sofortprogramms profitieren. Einrichtungen bis zu 40 Bewohnern erhalten eine halbe Pflegestelle, Einrichtungen mit 41 bis 80 Bewohnern eine Pflegestelle, Einrichtungen mit 81 bis 120 Bewohnern eineinhalb und Einrichtungen mit mehr als 120 Bewohnern zwei Pflegestellen zusätzlich. Ziel ist es, insbe- sondere den Aufwand im Zusammenhang mit der medizinischen Behandlungspflege in der statio- nären Altenpflege pauschal teilweise abzudecken. Die Pflegeeinrichtungen haben die Möglichkeit, auf Antrag schnell und unbürokratisch diese zusätzlichen Stellen durch einen Zuschlag finanziert zu bekommen.
Zur Finanzierung zahlt die GKV jährlich pauschal einen Betrag an den Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung. Hierzu erhebt der GKV-SV bei den Krankenkassen eine Umlage pro Versicherten. Die private Pflegeversicherung beteiligt sich anteilig entsprechend der Zahl der Pflegebedürftigen an der Finanzierung. Auf diesem Wege werden die Pflegebedürftigen zur Finanzierung dieser rund 13.000 Stellen nicht belastet.«
Es muss an dieser Stelle natürlich darauf hingewiesen werden, dass hier die ganze Zeit von Stellen gesprochen wird – aber bekanntlich sind Stellen nicht gleich lebende Menschen. War da nicht was? Offene Stellen, die bereits heute schon nicht besetzt werden können?
Natürlich liegen die Kritiker richtig, wenn sie auch die Stellen-Aufstockung als zu wenig beklagen angesichts des bereits heute vorhandenen und absehbar weiteren Anstiegs des Personalbedarfs. Und man müsste ergänzen, erneut bricht sich auch in der aktuellen Diskussion über Sofort- und sonstige Programme der beklagenswerte Tatbestand Bahn, dass auf Pflege immer sehr versäult geschaut wird. Dass das Eckpunktepapier der Bundesregierung zwischen Kranken- und Altenpflege trennt, ist ja angesichts der völlig unterschiedlichen systematischen Zuordnung noch nachvollziehbar, aber die Vorschläge die Altenpflege betreffend fokussieren auf den Bereich, der auch die mediale Berichterstattung dominiert, also die vollstationäre Altenpflege. Aber was ist mit den ambulanten Pflegediensten? Vor allem angesichts der Tatsache, dass dort der Personalmangel ebenfalls immer offensichtlicher wird, auch weil die Leistungsausweitungen der Pflegeversicherung in der vergangenen Legislaturperiode vor allem den ambulanten Bereich gefördert haben und dort zahlreiche neue Leistungsberechtigte dazu gekommen sind, die nun alle entsprechende Dienste suchen.
Dazu als ein Beispiel von vielen dieser Bericht des NDR über die Lage in Niedersachsen: Situation in der ambulanten Pflege spitzt sich zu: In Niedersachsen »nehmen viele ambulante Pflegedienste derzeit keine neuen Patienten mehr an und kündigen sogar bestehende Versorgungsverträge. Grund ist der gravierende Fachkräftemangel in der Pflege. Aktuellen Umfragen der Pflegebranche unter den ambulanten Pflegediensten in Niedersachsen zufolge, ist die Situation so dramatisch wie nie zuvor … Die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, in der große Pflegeanbieter wie Diakonie, Caritas und der Paritätische zusammengeschlossen sind, hat ihre 400 ambulanten Dienste zu einer Rückmeldung über die Monate Februar, März und April aufgefordert. Rückmeldungen bekam sie von rund einem Viertel der Dienste. Das Ergebnis: In rund 1.700 Fällen wurden Anfragen von Pflegebedürftigen abgelehnt. In diesen Fällen konnten die Pflegedienste den Wunsch nach einer ambulanten Pflege nicht erfüllen. In 63 Fällen mussten sogar bestehende Pflegeverträge gekündigt werden.«
Und der Anstieg der Inanspruchnahme ambulanter Pflegedienste ist ja einerseits ein positiver Ausdruck für die offensichtlichen Präferenzen der Menschen, so lange wie es nur geht zu Hause zu bleiben und dort versorgt zu werden. Das ist mehr als verständlich und die Leistungsverbesserungen in der Pflegeversicherung in der vergangenen Legislaturperiode haben diesen Trend im Sinne der Betroffenen sicher unterstützt. Aber nichts ist umsonst und natürlich hat diese Entwicklung auch Folgen für die Heime. Die Auswirkungen auf die stationäre Altenpflegerin eines der Themen, die im gerade veröffentlichten „Pflege-Thermometer 2018“ behandelt werden. Dabei handelt es sich um eine Befragung vorwiegend von Leitungskräften aus der stationären Pflege. Fast alle Heime wurden angeschrieben. Zurückgesendet wurden von 13.223 insgesamt 1.067 Fragebögen. Die Rücklaufquote betrug, ausgehend von der Anzahl der versendeten Fragebögen, 8 Prozent. In der Ergebnisdarstellung werden die Befunde aus der Stichprobe auf alle Heime hochgerechnet:
➔ Michael Isfort et al. (2018): Pflege-Thermometer 2018. Eine bundesweite Befragung von Leitungskräften zur Situation der Pflege und Patientenversorgung in der stationären Langzeitpflege in Deutschland, Köln: Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung, 2018
Um bei den Auswirkungen des Hinausschiebens eines Heimeintritts zu bleiben: »In der stationären Altenpflege sind die zu versorgenden Personen den Angaben zufolge immer stärker von Pflegebedürftigkeit und begleitenden komplexen medizinischen Problemlagen betroffen.« Der Großteil der Leitungen meldet zurück, dass in der Zeit von 2015 bis 2017 die Anzahl der Bewohner mit komplexen medizinischen Problemlagen zunimmt (81 %), dass das durchschnittliche Einzugsalter der Bewohner höher wird (62 %) und die Bewohner immer kürzer im Pflegeheim wohnen (56 %). Dazu auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags.
Eine solche Entwicklung hat ihrerseits Folgen oder sollte diese haben – und das geht in der aktuellen Debatte oftmals völlig unter, wo es nur noch über Quantitäten geht (mehr Stellen, mehr Personal), viel zu selten oder gar nicht aber über die qualitative Seite. Also was für Pflegekräfte braucht man eigentlich, welche Qualifikationen sollten die haben.
»In der Gesamtschau dieser Ausgangslage und der beschriebenen Zunahme an komplexen medizinischen Problemen, einem höheren Einzugsalter und einer kürzeren Wohndauer muss darauf verwiesen werden, dass sich die stationären Einrichtungen zunehmend zu Zentren entwickeln, in denen eine gerontopsychiatrische und palliativ ausgerichtete Versorgung vorherrscht. Dies stellt in hohem Maße Anforderungen an das Personal (sowohl numerisch als auch qualifikatorisch).«
Auch vor diesem Hintergrund wird die Absurdität der – aus der völlig reduzierten Perspektive einer Irgendwie-Personaldeckung durchaus „konsequente“ – Forderung nach einer Absenkung der heute bestehenden Fachkraftquote von 50 Prozent offensichtlich (vgl. dazu bereits die kritischen Anmerkungen in dem Beitrag Wenn private Pflegeheimbetreiber eine „ideologiefreie Diskussion“ vorschlagen … Die Altenpflege, ihre Personalmisere und die das Geschäft störende Fachkraftquote vom 22. August 2017). Für die Pflegeheime hat gerade die Nicht-(mehr)-Erfüllung der Fachkraftquote eine überaus negative Folge, über die sich im „Pflege-Thermometer 2018“ berichtet wird: »In 22 % der Einrichtungen wurde aufgrund des Personalmangels (und der zu erfüllenden Fachkraftquote) in den drei Monaten vor dem Erhebungszeitpunkt ein selbst verordneter temporärer Belegungsstopp verhängt. In fast 4 % der Fälle geschah dies durch die Aufsichtsbehörden.« (S. 67)
Nicht nur der bereits bestehende Mangel an Personal, sondern auch die angesprochenen Veränderungen innerhalb der Pflegeheime bleiben nicht ohne Folgen für die Arbeitsbelastung der Pflegekräfte. Dieser Zusammenhang wird immer noch viel zu selten gesehen und in der derzeitigen Debatte über „den“ Personalbedarf berücksichtigt. Dazu aus dem Pflege-Thermometer 2018:
»Die arbeitsplatzbezogenen Anforderungen und Belastungen steigen den Einschätzungen der Leistungskräfte zufolge für das Pflegepersonal in den Jahren 2016 auf 2017 deutlich an … Als zunehmend werden durch mindestens jede zweite Person die herausfordernden Verhaltensweisen bei Bewohner*innen, die Anforderungen bei den grund- und behandlungspflegerischen Aufgaben und der Aufwand bei der Angehörigenarbeit bzw. die Konflikte mit Angehörigen beschrieben. Eine Zusicherung von freien geplanten Zeiten stellt ein deutliches Problem dar. In gut 2 von 5 Rückmeldungen nimmt das „Einspringen“ an frei geplanten Zeiten zu und in fast jeder dritten Einrichtung steigt die die Anzahl an Sterbefällen … Diese veränderten Anforderungen schlagen sich von 2016 auf 2017 in vermehrten gesundheitsbezogen Belastungen des Pflegepersonals nieder … So geben 43 % an, dass die Krankheitsdauer gestiegen sei, nur 7 % beobachten hier eine Abnahme. Auch die Anzahl der Krankheitstage insgesamt bezeichnen 41 % als steigend … 31 % der Leitungen beobachten eine zunehmende Erkrankungsschwere bei den Mitarbeitenden« (S. 67/68)
Selbst das Eckpunktepapier Sofortprogramm Kranken- und Altenpflege des Bundesgesundheitsministeriums beginnt mit einer Feststellung, zu was das alles führt: »In den letzten Jahren ist es zu einer enormen Arbeitsverdichtung und damit -belastung für hunderttausende Beschäftigte in der Alten- und Krankenpflege gekommen. In einer gefährlichen Spirale aus zunehmender Belastung, in der Folge davon nicht selten einem Ausstieg von Pflegekräften aus dem Beruf, damit weiter steigenden Belastungen für die verbliebenen Kräfte, hat sich die Situation immer weiter zugespitzt. Im ganzen Berufsstand ist eine tiefe Vertrauenskrise zu spüren.«
Auch das „Pflege-Thermometer 2018“ macht Aussagen zum Thema Personalbedarf in der Altenpflege – und solche Zahlen werden dann gerne von den Medien aufgegriffen.
»Der zusätzliche Bedarf an Pflegefachkräften in der stationären Altenhilfe wird in der vorliegenden Studie deutlich. Insgesamt waren im Mittel in den erfassten Einrichtungen mit einer Rückmeldung zum 30. Oktober 2017 für die Pflegearbeit 1,6 Stellen pro Einrichtung nicht besetzt – der größte Anteil an offenen Stellen findet sich mit einer Vollzeitstelle bei den Altenpflegefachkräften. Fehlendes Personal wird dabei auch durch Leasingfirmen ersetzt. In 21,2 % der Einrichtungen arbeiteten zum Zeitpunkt der Befragung Beschäftigte von externen Dienstleistern.« (S. 64)
Hier wird u.a. über eine für den einen der anderen irritierenden Entwicklung berichtet – die Zunahme der Leiharbeit in der Altenpflege. Dazu auch Thomas Öchsner, der seinen Artikel sogar unter diese Überschrift gestellt hat: Pflegekräfte fliehen in die Leiharbeit.
Das Deutsche Institut für Pflegeforschung resümiert auf der Basis der Befragungsergebnisse: Aktuell sind rund 17.000 Stellen im Pflegebereich in den Einrichtungen nicht besetzt. Zur Deckung würden rund 25.000 zusätzliche Personen benötigt, da vielfach in Teilzeit gearbeitet wird. Die Zahl von 17.000 offenen Stellen wurde sogleich dankbar von vielen Medien aufgegriffen und verbreitet, denn (nicht nur) deren Vertreter wollen immer gerne möglichst eine Zahl, mit der man ein Thema oder Problem illustrieren kann. Aber zuweilen verdeckt die eine griffige Zahl mehr als das sie uns wirklich hilft. Das kann man auch an dieser Schätzung verdeutlichen:
➔ Zum einen ist doch allen klar, dass die Schätzgröße für die derzeit bereits offenen, aus welchen Gründen auch immer nur schwer oder vielleicht gar nicht zu besetzenden Stellen nur eine Untergrenze des Erforderlichen darstellen kann. Selbst jemand wie Erwin Rüddel (CDU), der neue und gerade in Pflegekreisen mehr als umstrittene Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages wird dann in einem anderen Zusammenhang (vgl. Experten für mehr Ärzte und Pflegekräfte) mit solchen Zahlen in Verbindung gebracht: »Rüddel sagte, bundesweit müsse man noch mindestens 70.000 Stellen für Pflegekräfte neu besetzen.« Man achte auch hier auf die Formulierung: mindestens.
➔ Ein weiteres und viel zu selten bis nie thematisiertes Problem einer Gesamtzahl: Was bringt es uns, wenn man weiß, wie viele Pflegekräfte bundesweit fehlen? Man kann damit vielleicht das Ausmaß des Problems in groben Umrissen anleuchten, man sollte aber berücksichtigen, dass es keinen nationalen Arbeitsmarkt für Pflegeberufe gibt und geben wird. Gerade viele Altenpflegekräfte sind regional oder gar lokal extrem gebunden und sie werden nicht wegen einer unter den heutigen Bedingungen vergüteten und ausgestalteten Arbeit nach München oder Frankfurt ziehen. Relevant sind also die jeweiligen Angebots-Nachfrage-Verhältnisse auf den regionalen Teilarbeitsmärkten. Das bedeutet aber eben auch, dass es keine bundesweite Lösung geben kann, so sehr man sich das auch wünschen möchte. Das erhöht natürlich die nicht gerade optimistischen Blicke auf mögliche Lösungsansätze.
Fazit: Gerade auch das „Pflege-Thermometer 2018“ belegt wieder einmal neben vielen anderen Studien und Berichten, dass das Altenpflege-System immer stärker ins Rutschen geraten ist und das es uns mittlerweile unterm Hintern wegzubrechen droht. Die notwendigen großen Schneisen, die geschlagen werden müssten, lassen bei allem Sofortprogramm-Verlautbarungen weiter auf sich warten. Damit verlieren wir aber auch viel wertvolle Zeit. Das wird sich rächen, so wie wir ja auch jetzt schon die vergifteten Früchte jahreslanger Ignoranz und Vogel-Strauß-Politik im Pflegebereich serviert bekommen.