Wenn das aus der Systemlogik definierte Unterste am Ende zum Obersten wird, sollte man sich nicht wundern. Zur Ambivalenz der geplanten Personaluntergrenzen in der Krankenhauspflege

Immer diese Pflege und der Pflegenotstand. Schauen wir diesmal auf die Krankenhauspflege. Auch dort klemmt es vorne und hinten. Und immer wieder wird über eklatanten Pflegepersonalmangel in den Kliniken berichtet. Aus der Politik kommt an dieser Stelle regelmäßig der Hinweis, dass demnächst alles besser wird, weil man Pflegepersonaluntergrenzen definieren und verbindlich machen will. Es besteht also Hoffnung.

Und dann so eine Meldung: Streit um Pflegepersonal: „Keine spürbare Verbesserung“, so hat Tamara Anthony ihren Bericht überschrieben. »Gerade erst haben sich Krankenhausbetreiber und Krankenkassen auf Personaluntergrenzen geeinigt, um Patienten besser betreuen zu können. Doch Verbände warnen: Die Unterbesetzung werde so zementiert.« Nico Popp hat das Thema in diesem Artikel aufgegriffen: Anpassung nach unten: »Personaluntergrenzen in den Krankenhäusern drohen zum Desaster zu werden.« Offensichtlich werden wir schon wieder mit einem  Beispiel aus der Sendereihe „Gut gemeint, aber ganz woanders gelandet“ konfrontiert, das so typisch ist für das deutsche Pflegesystem.

Ein  breites Bündnis aus Patientenvertretungen, Gewerkschaften und Pflegeorganisationen schlägt Alarm mit einer gemeinsamen Erklärung: »Der Beschluss führe zu keinen spürbaren Verbesserungen der Personalausstattungen in den Krankenhäusern, kritisiert das Bündnis, darunter der Deutsche Pflegerat, die Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft, ver.di, das Aktionsbündnis Patientensicherheit, der Sozialverband Deutschland und sechs weitere Organisationen … Im Gegenteil, die Verbände befürchten, dass die Einigung sogar zu Verschlechterungen in den Krankenhäusern führt, denn sie sieht nur eine Mindest-Personalausstattung vor. Krankenhäuser, die darüber liegen, könnten sich eingeladen fühlen, auf dieses Niveau abzusenken. Zudem sollen die Mindest-Grenzen sich nicht am Bedarf der Patienten orientieren. Sie sind eine rein statistische Größe: lediglich die 10 bis 25 Prozent der derzeit am schlechtesten ausgestatteten Krankenhausabteilungen sollen mehr Personal vorhalten.«

Schauen wir uns die angesprochene Erklärung der Organisationen zu den Auswirkungen der Festlegung von Pflegepersonaluntergrenzen einmal genauer an.

Vorab aber nur einige wenige Hinweise auf die Genese dessen, was zu den Personaluntergrenzen geführt hat: Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hatte am 1.10.2015 in Berlin die Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ einberufen. Am 7. März 2017 wurde dann seitens des Ministeriums darüber informiert: Stärkung der Pflege im Krankenhaus. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, Koalitionsfraktionen und Länder verständigen sich auf die Einführung von Personaluntergrenzen: »In Krankenhausbereichen, in denen dies aus Gründen der Patientensicherheit besonders notwendig ist, sollen künftig Pflegepersonaluntergrenzen festgelegt werden, die nicht unterschritten werden dürfen« – wie beispielsweise auf Intensivstationen oder im Nachtdienst.

Die Vorschläge der Expertenkommission (vgl. dazu im Original: Schlussfolgerungen
aus den Beratungen der Expertinnen- und Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ vom 7. März 2017) wurden im April 2017 von der Bundesregierung in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) unter Beteiligung der Privaten Krankenversicherung (PKV) wurden damit beauftragt, Personaluntergrenzen in sogenannten pflegesensitiven Bereichen verbindlich festzulegen. Hierbei werden Intensivstationen sowie die Besetzung des Nachtdienstes mit einbezogen. Die konkreten Regelungen, die auf Empfehlungen einer Expertenkommission zurückgehen, sollen bis zum 30. Juni 2018 vereinbart und zum 1. Januar 2019 umgesetzt werden.

Man muss sich das unauflösbare Dilemma an dieser Stelle verdeutlichen: Der Gesetzgeber beauftragt ausschließlich die Kostenträger (= Krankenversicherungen) sowie die Leistungserbringer (= Krankenhäuser) mit der Ausarbeitung von Personaluntergrenzen in der Pflege. Man muss keine längeren Überlegungen anstellen, dass es hier eine Menge Interessenkonflikte geben muss, denn die Kostenträger haben vor Augen, dass sie eventuelle Mehrkosten finanzieren müssen und die Krankenhausträger stehen vor dem Problem, dass solche Untergrenzen bei Nicht-Einhaltung dazu führen können bzw. werden, dass sie beispielsweise mit Belegungs- und Aufnahmestopps und den damit verbundenen Einnahmeverlusten konfrontiert sein könnten. Wer von den beiden soll ein Interesse daran haben, kosten- bzw. erlösrelevante Verbesserungen bei der Personalausstattung auf die Gleise zu setzen?

Die kritische Erklärung der Organisationen beginnt mit dem Hinweis auf die (mittlerweile allerdings schon auf der Ebene der Absichtserklärung überholte) gesetzliche Ausgangslage:

»Gemäß § 137i SGB V sind die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) aufgefordert, Pflegepersonaluntergrenzen für „pflegesensitive Bereiche“ im Krankenhaus festzulegen.«

Überholt deshalb, weil die neue alte Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hat:

»Den Auftrag an Kassen und Krankenhäuser, Personaluntergrenzen für pflegeintensive Bereiche festzulegen, werden wir dergestalt erweitern, dass in Krankenhäusern derartige Untergrenzen nicht nur für pflegeintensive Bereiche, sondern für alle bettenführenden Abteilungen eingeführt werden.«

Aber in der Erklärung geht es um das bislang gefundene Verfahren für die Bemessung der Pflegepersonaluntergrenzen:

»Hierbei haben sich die Verhandlungspartner darauf verständigt, nach dem sogenannten Perzentilansatz vorzugehen. Das bedeutet, dass nur die am schlechtesten ausgestatteten Fachabteilungen auf das Niveau des unteren Dezils (10 Prozent) oder maximal des Quartils (25 Prozent) anzuheben wären. Eine genaue Höhe des Prozentsatzes wurde noch nicht festgelegt.«

Es wird als wahrscheinlich angesehen, dass mit der Vereinbarung sogar weitere Verschlechterungen auftreten, kann man der Erklärung entnehmen. Wie das? Die Verfasser der gemeinsamen Erklärung weisen auf die folgenden drei bedenkenswerte Punkte hin:

1.) Zu niedriges Niveau der Untergrenzen und fehlende Evidenz: Es liegt keinerlei Evidenz zu der Frage vor, welche Personalausstattung notwendig ist, um die Sicherheit der Patienten zu gewährleisten. Bekannt ist aber, dass z.B. mit jedem Patienten, den eine Pflegekraft pro Schicht mehr versorgen muss, die Mortalität um 7 Prozent zunimmt (hier bezieht man sich auf Befunde aus der RN4CAST-Studie). Angesichts der Personalausstattung mit vergleichbaren Industriestaaten, die allesamt belegen, dass Deutschland weit unter dem Niveau in anderen Ländern liegt, muss davon ausgegangen werden, dass selbst Einrichtungen, die in Deutschland einen mittleren oder oberen Platz einnehmen, über zu wenig Personal für die Gewährleistung von Patientensicherheit verfügen. Dauerhaft nur die schlechtesten 25 oder gar 10 Prozent anzuheben, zementiert die derzeitige Unterbesetzung.

2.) Sogwirkung der Pflegepersonaluntergrenzen: Bei einer Festlegung der Pflegepersonaluntergrenzen nach dem Perzentilansatz wird einem hohen Anteil von 75 bis zu 90 Prozent der Krankenhäuser bescheinigt, dass sie mehr Personal beschäftigen als unbedingt erforderlich. Unter den bestehenden ökonomischen Rahmenbedingungen, die zum aktuellen Pflegenotstand geführt haben, ist zu befürchten, dass diese Krankenhäuser ihre Personalausstattung als Reaktion auf die Festlegung weiter reduzieren.

3.) Mangelhafte Durchsetzung der Untergrenzen und Kontrolle von Verlagerungseffekten: Pflegepersonaluntergrenzen sollen entlang von nur sechs Fachgebieten wie z.B. der Geriatrie festgelegt werden, obwohl der Koalitionsvertrag bereits Regelungen für alle bettenführenden Abteilungen vorsieht. Die relevante Planungsgröße innerhalb der Krankenhäuser sind aber die Stationen, die immer öfter interdisziplinär gestaltet sind oder gar Normalbetten und Intensivbetten integrieren. In derartigen Strukturen greifen die vorgesehenen Untergrenzen nicht. Auch sind Verlegungen von Patienten, Umbenennungen von Stationen oder die Verlagerung von Aufgaben zwischen verschiedenen Personalgruppen nicht kontrollierbar und bieten somit umfangreiche Umgehungsmöglichkeiten.

Es sind also vor allem zwei Dimensionen, die hier ins Feld geführt werden:

Zum einen der grundsätzliche Charakter von Personaluntergrenzen, das hier eben nur das Mindeste normiert werden soll, gleichsam die Vermeidung einer Patientengefährdung, nicht aber eine bedarfsgerechte Versorgung. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hat dementsprechend darauf hingewiesen, es bestehe nur eine gesetzlichen Vorgabe zur Einführung von Personaluntergrenzen zur Vermeidung von Gefährdungssituationen, nicht aber zur Abbildung einer bedarfsgerechten Pflege. Damit verbunden wird das leider nicht unrealistische Szenario, dass die Untergrenze in der Praxis des Krankenhausalltags aufgrund der generellen Personalkostenproblematik ob bewusst oder schleichend aufgrund der Konkurrenzsituation zu einer Art Referenzgrenze mutiert, man sich also von oben planerisch an der damit verbundenen Mindest- als Normalausstattung orientiert. Dazu gibt es durchaus Analogien aus anderen Bereichen, man denke hier nur an einen vergleichbaren Effekt in manchen Branchen nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns als Lohnuntergrenze, die dort mittlerweile als Bezugspunkt für die Vergütung genommen wird

Zum anderen wird auf die betriebswirtschaftliche Dimension der Operationalisierung der Grenze abgestellt – konkret: Abteilungen oder Stationen (oder was eigentlich logisch wäre, aber derzeit offensichtlich gar nicht vorgesehen ist: einzelne Patienten mit ihrer Fallschwere). Und die Erklärung problematisiert auch etwas, das wir aus den Erfahrungen mit dem gesetzlichen Mindestlohn zur Genüge kennen: Umgehungsstrategien im betrieblichen Alltag.

Die letztgenannte und im politischen Geschäft regelmäßig vernachlässigte Dimension der betriebswirtschaftlichen Umsetzung solcher Vorgaben war auch hinsichtlich weiterer angeblicher Regelungsinhalte im Vorfeld der gemeinsamen Erklärung Auslöser heftiger Kritik. So berichtete Anno Fricke am 10. Mai 2018 in seinem Artikel Pflegerat und Verdi laufen Sturm:

»Demnach sehen die Selbstverwaltungspartner vor, über Monatsdurchschnittswerte Personaluntergrenzen zu definieren … Demnach soll aus den Personalbesetzungen der als pflegesensitiv identifizierten Stationen, also zum Beispiel geriatrischen Abteilungen und Intensivstationen, ein 30-Tage-Durchschnitt gebildet werden. Tage, an denen diese Untergrenzen nicht erreicht wurden, sollen monatlich erfasst werden.«

Und selbst das hört sich unproblematischer an als es ist. Was meint der Bezugspunkt Tage? Kann dann eine erhebliche Personalunterdeckung beispielsweise in einer Schicht durch eine etwas besserer Besetzung in den restlichen Stunden des Tages kompensiert werden?

Und selbst wenn man eine halbwegs adäquate zeitliche Bezugsgröße hätte – wie sieht es aus mit der Kontrolle und den möglichen Sanktionen, wenn die Untergrenzen nicht eingehalten werden? Auch dazu hat man beispielsweise aus dem Lager der Krankenhausträger interessante Hinweise zur Kenntnis nehmen müssen. So wurde in dem Artikel Weiter Streit um Personaluntergrenzen im Krankenhaus Georg Baum zitiert, der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG):Zu der Forderung nach einer adäquaten und verlässlichen Kontrolle der Personal­vorgaben sagte er: „Eine schicht- und tagesgenaue Erfassung des eingesetzten Personals und des Pflegebedarfs der Patienten für Sanktionierungen, die auf Tagesabweichung abstellen, wären ein bürokratischer Gau und hätten das Potenzial, die Krankenhausversorgung in Deutschland lahmzulegen“.

Man kann an den genannten Punkten erkennen, dass es sich bei den Personaluntergrenzen um eine nett formuliert ambivalente, skeptisch gesehen um eine höchst gefährliche Angelegenheit handelt.

Abschließend nochmals der Blick in die Erklärung der Organisationen zu den Auswirkungen der Festlegung von Pflegepersonaluntergrenzen vor dem Hintergrund der Frage, ob dort auch alternative Vorschläge gemacht werden. Am Ende des Textes finden wir diesen Hinweis:

»Der Personaleinsatz muss sich am Bedarf der Patientinnen und Patienten orientieren, um sichere Pflege zu gewährleisten. Dazu sind Lösungsansätze erforderlich, die dies von Beginn an gewährleisten. Ein Instrument, wie es vor Jahren mit der Pflegepersonal-Regelung (PPR) bereits eingesetzt wurde, könnte weiterentwickelt und -verfolgt werden.«

Da taucht sie wieder auf, die Pflegepersonal-Regelung (PPR), die korrekte Bezeichnung lautet: „Regelung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf in der stationären Krankenpflege (Pflege-Personalregelung)“, die immer wieder von den alten Hasen zitiert wird, die sich noch daran erinnern können. Man muss tatsächlich das Rad der Personalbemessung nicht neu erfinden. Aber auch hier sollte man immer daran denken, was damit verbunden wäre, wenn man den tatsächlichen Pflegeaufwand abzubilden versucht (und nicht nur mehr oder weniger seriös kalkulierte Grenzen des Untersten). Dazu aus meinem Beitrag Pflegenotstand – und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal vom 8. September 2014 (!):

»Die Pflege-Personalregelung wurde 1993 eingeführt, um die Leistungen der Pflege transparenter zu machen und eine Berechnungsgrundlage für den Personalbedarf zu haben. Experten gingen damals davon aus, dass sich durch konsequente Anwendung der PPR bundesweit ein Personalmehrbedarf im fünfstelligen Bereich ergeben würde. Als sich abzeichnete, dass die daraus resultierenden Mehrkosten nicht zu tragen sind, wurde die Pflege-Personalregelung flugs ausgesetzt.«