Umrisse einer GroKo neu. Teil 3: Gesundheitspolitik und Pflege

»Sie sind überall, sie werden gezogen, gesetzt und überschritten: die roten Linien. Angemahnt mal vom Beamtenbund, mal vom FDP-Politiker und Jamaika-Aus-Schöpfer Christian Lindner«, so Johann Schloemann, der sich auf die Suche nach der Herkunft dieser Floskel gemacht hat. »Im „Red Line Agreement“ von 1928 vereinbarten die großen Ölfirmen in der Turkish Petroleum Company ein Kartell: In den Grenzen des untergegangenen Osmanischen Reiches dürfe keine der Ölgesellschaften auf eigene Faust agieren. Nicht ganz klar waren ihnen die Grenzen, bis sie, so wird erzählt, mit einem roten Buntstift auf der Karte eingezeichnet wurden. Von dort wanderte der Begriff in die amerikanische Diplomatiesprache und wurde inflationär.« Und dann das: »Die rote Linie für rote Linien ist die Nichtdurchsetzbarkeit: als Barack Obama seine leeren Drohungen gegenüber Syrien aussprach, vermutete der republikanische Senator John McCain, die rote Linie sei „offenbar mit Zaubertinte geschrieben“.« Das leitet hervorragend über zum dritten Themenfeld der Serie „Umrisse einer GroKo neu“: Gesundheitspolitik und Pflege.

Hier gab es sogar dunkelrote Linien – vor der Sondierung: Noch Ende November 2017 musste man diese knallharte Ansage zur Kenntnis nehmen: »SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach nannte die Bürgerversicherung ein „zentrales Anliegen“ seiner Partei. Die SPD wolle eine „Bürgerversicherung mit einem gemeinsamen Versicherungsmarkt ohne Zwei-Klassen-Medizin“, sagte der Gesundheitsexperte … Wenn die Union der SPD nicht entgegen komme, werde es Neuwahlen geben.« Nun wird es möglicherweise – wer weiß das schon in diesen Tagen – Neuwahlen geben, aber nicht, weil die SPD in den Sondierungsgesprächen auf der „Bürgerversicherung“ bestanden hat, ganz und gar nicht. 

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Zwischen Verschiebebahnhof und einer der GKV fremden gruppenbezogenen Risikoäquivalenz: „Teure“ Hartz IV-Bezieher in der Krankenversicherung mit einer großen „Deckungslücke“

Wie so oft in der sozial- und hier besonders der gesundheitspolitischen Diskussion reden wir über Geld, über richtig viel Geld. Es geht um Milliarden, die man hat oder eben nicht. Und wenn man die nicht hat, vor allem dann nicht, wenn sie einem vorenthalten werden, gibt es große Anreize, diesen Tatbestand öffentlich zu machen, am besten nach dem etablierten Muster „Eine Studie hat ergeben …“, so dass man daraus und der sich anschließenden Berichterstattung Druck aufbauen kann, politische Weichenstellungen zu korrigieren. Diese Vorbemerkungen müssen sein, wenn man solche Schlagzeilen zur Kenntnis nehmen muss, deren Impulsgeber in dieser Meldung zu finden ist: Bund erstattet Krankenkassen Milliarden zu wenig, so die FAZ:

»Ein neues Gutachten zeigt, dass die Bundesregierung den Krankenkassen jedes Jahr fast zehn Milliarden Euro weniger zahlt, als diese für Hartz-IV-Bezieher ausgeben … Demnach decken die Überweisungen des Staates an die Kassen nur 38 Prozent der dort anfallenden Ausgaben für ALG-II-Bezieher, Aufstocker und Arbeitslose. Die Unterdeckung belaufe sich auf 9,6 Milliarden Euro im Jahr. Statt der bezahlten knapp 100 Euro sei eigentlich ein Betrag von bis zu 290 Euro je Hilfebezieher und Monat nötig, um deren Kosten auszugleichen.«

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Und vor jeder neuen Legislaturperiode grüßt die „Bürgerversicherung“. Über ein fundamentales Umbauanliegen und das Schattenboxen vor dem Haifischbecken

Die Cineasten unter den Lesern werden den Klassiker „Und täglich grüßt das Murmeltier“ aus dem Jahr 1993 kennen. Bill Murray spielt darin einen arroganten, egozentrischen und zynischen Wetteransager, der in einer Zeitschleife festsitzt und ein und denselben Tag immer wieder erlebt, bis er als geläuterter Mann sein Leben fortsetzen kann. In so einer Zeitschleife scheint ganz offensichtlich auch die Forderung nach einer „Bürgerversicherung“ festzustecken – wobei die Läuterung, die zur Auflösung der andauernden Wiederholung der Forderung und dann deren Nicht-Einlösung derzeit noch auf sich warten lässt.

Wenn man schon einige Jahre unterwegs ist in der Sozialpolitik, dann kennt man das Prozedere. Nehmen wir als Beispiel die erste Große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD, die 2005 nach der Abwahl der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder gebildet werden musste. CDU/CSU und SPD waren mit grundsätzlich verschiedenen Konzepten für einen Systemwechsel, zumindest hinsichtlich der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, in den Wahlkampf 2005 gezogen („Bürgerversicherung“ versus „Gesundheitsprämie“). Diese beiden Konzepte waren derart unterschiedlich, dass sie für die Jahre 2005 bis 2009 stillgelegt werden mussten (vgl. zur Bilanz der damaligen GroKo, in deren Mittelpunkt der Gesundheitsfonds stand, diesen Beitrag: Stefan Sell: Die Suche nach der Goldformel. Bürgerversicherung oder Kopfpauschale – trotz großer Gegensätze haben Union und SPD die Gesundheitspolitik vier Jahre lang gemeinsam gelenkt. Das Zauberwort für die schwarz-rote Reform heißt Gesundheitsfonds, in: Gesundheit und Gesellschaft, Heft 7-8/2009, S. 35-41).

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Wie lange noch warten? Überforderte Solo-Selbständige und die Diskussion über eine Absenkung des Mindestbeitrags an die Krankenkassen

Immer wieder wird man konfrontiert mit der Problematik, dass viele Solo-Selbständige mit enormen Krankenkassen-Beiträgen in Relation zu dem, was sie verdienen, belastet sind. Teilweise frisst das sie Hälfte des Einkommens auf. Mit Folgen: Teilweise sind die Betroffenen ohne Versicherungsschutz (vgl. Eigentlich darf es die doch gar nicht mehr geben. Menschen ohne Krankenversicherungsschutz vom 18. Januar 2017) und auf die Notversorgung angewiesen. Und die Beitragsschulden bei den Krankenkassen steigen kontinuierlich an. »Weil man früher davon ausgegangen ist, dass Selbstständige in der Regel gut verdienende Unternehmer mit Angestellten sind, wurde ein Mindestbeitrag festgelegt. Er soll verhindern, dass sich der Selbstständige arm rechnet. Derzeit wird bei der Beitragsberechnung so getan, als verdiene der Betroffene brutto mindestens 2231 Euro. Da die Selbstständigen auch den Arbeitgeberanteil selbst zahlen müssen, sind für den Versicherungsschutz (inklusive Krankengeldanspruch und Pflegeversicherung) im Schnitt mindestens knapp über 400 Euro im Monat fällig. Nur in besonderen Härtefallen lässt sich der Beitrag auf rund 270 Euro drücken … Inzwischen sind etwa 71 Prozent der in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Selbstständigen sogenannte Solo-Selbstständige; sie haben also keine Angestellten … Das Jahresdurchschnittseinkommen dieser Personengruppe liegt bei brutto 9444 Euro, also lediglich 787 Euro im Monat. Daran gemessen ist ihr Beitragsanteil für die Krankenversicherung deutlich zu hoch. Er kann fast 50 Prozent betragen, während Arbeitnehmer derzeit im Schnitt 8,4 Prozent zahlen«, so beispielsweise Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel Warum die Schulden der gesetzlichen Krankenversicherung explodieren.

Über die ganze Problematik und die kontrovers diskutierten Lösungsansätze wurde in diesem Blog bereits ausführlich berichtet. Vgl. dazu den Beitrag Explodierende Beitragsschulden in der Krankenversicherung, Solo-Selbständige, die unterhalb des Mindesteinkommens jonglieren und warum Bismarck wirklich tot ist vom 11. Februar 2017.

Der Reformbedarf an dieser Stelle wird – eigentlich – von so gut wie allen Beteiligten eingeräumt (außer von den bislang politisch Verantwortlichen, die hier den toten Mann gespielt haben bzw. noch spielen und die offensichtlich hoffen, dass der Kelch irgendwie an ihnen vorbei geht, dabe immer die angeblichen finanziellen Auswirkungen im Blick: Eine Absenkung der Mindestbeitragsgrenze hätte „erhebliche Mindereinnahmen“ in der GKV zur Folge, ihre Abschaffung stünde „im Widerspruch zum Solidarprinzip der GKV“, erklärte die Regierung im September 2016 auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag).

Selbst aus dem Krankenkassenlager kommt der Hinweis auf den dringenden Handlungsbedarf, aber auch die Anmerkung, dass wir es hier mit einem nur kompromisslerisch zu lösenden Problem zu tun haben:

»… auch in der GKV werden die weithin auf Typisierungen basierenden Beitragsregelungen der konkreten Situation vieler Selbstständiger nicht mehr gerecht, wie nicht zuletzt die hohe Zahl von Nichtzahlern unterstreicht. Allerdings prallen hier zwei Schutzinteressen aufeinander: einerseits die Schutzbedürftigkeit kleiner Selbstständiger in prekären Einkommenslagen, aber andererseits auch die Notwendigkeit, die Solidargemeinschaft der GKV vor Überforderung zu schützen. An der solidarischen Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes müssen sich deshalb alle Bürger beteiligen, nicht zuletzt auch die nach wie vor vielen Selbstständigen mit hohen und sehr hohen Einkommen.« So Dietmar Haun und Klaus Jacobs in ihrer 2016 veröffentlichten Studie Die Krankenversicherung von Selbstständigen: Reformbedarf unübersehbar.

Wir haben es hier mit einer höchst ambivalenten Gemengelage zu tun. Man kann an dieser Stelle natürlich die grundsätzliche Frage aufrufen – bis wohin runter soll es denn gehen? Und ist es Aufgabe der Solidargemeinschaft, auch Geschäftsmodelle von Selbständigen zu subventionieren, bei denen die weniger als 900 Euro im Monat verdienen? Eine Frage, daran sei hier nur erinnert, die sich auch im Bereich der Grundsicherung nach SGB II stellt, bei den selbständigen Aufstockern im Hartz IV-System also. Leistet man, anders gefragt, nicht einen Beitrag zur Stabilisierung von Kümmerexistenzen, wenn man denen die Absicherung auch noch erleichtert?

Auf der anderen Seite kann man argumentieren: Wenn sich die Leute selbständig engagieren, wenn sie versuchen, über die Runden zu kommen mit ihrer eigenen Arbeit, auch wenn die nicht viel einbringt – ist das nicht allemal besser, als wenn sie vollständig von Leistungen der Grundsicherung abhängig sind? Muss man dann nicht auch Beitragsgerechtigkeit im Sinne der offensichtlich schutzbedürftigen Personen herstellen? Wenn die Menschen vollständig arbeitslos wären, dann zahlt das Jobcenter einen Beitrag an die Gesetzliche Krankenversicherung. Wenn die Leute nur einem 450 Euro-Job nachgehen, können sie weiterhin beitragsfrei familienmitversichert sein. Warum soll man den Selbständigen mit sehr kleinen Einkommen davon ausschließen?

Die aufgeworfenen Fragen sollen und können hier nicht abschließend beantwortet werden, sie zeigen aber das Spannungsfeld auf, in dem wir uns hier bewegen.

Was gibt es nun an konkreten Vorschlägen, die bestehende Situation zugunsten der betroffenen Selbständigen zu verändern? Die sind in der Abbildung am Anfang des Beitrags aufgeführt.

Ausgangspunkt ist die derzeitige Regelung, dass ein Mindesteinkommen in Höhe von derzeit 2.231,25 Euro unterstellt wird, aus dem ein vom Selbständigen vollständig zu tragender Beitrag von mehr als 412 Euro resultiert. Im bestehenden Recht gibt es noch für Ausnahmefälle eine sogenannte „Härtefallregelung“. Darüber kann man die Bemessungsgrenze bis auf die Hälfte der monatlichen Bezugsgröße (1.487,50 Euro) senken – aber nur unter bestimmten restriktiven Voraussetzungen. Die Härtefallregelung ist nach Informationen des GKV-Spitzenverbandes im Erhebungszeitraum Juni 2016 bei rd. 204.000 Personen zum Tragen gekommen (vgl. dazu Bundestags-Drucksache 18/10762 vom 22.12.2016).

In der aktuellen Debatte über eine Reform der Beitragsbemessung beziehen sich beispielsweise der GKV-Spitzenverband, der IKK-Verband sowie im Sinne einer Mindestforderung der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) auf diese Mindestbeitragsrenze, die man öffnen müsste .
Der Bundesverband der AOK, die Ersatzkassen (vdek) sowie die Grünen fordern eine Absenkung der Mindestbeitragsbemessungsgrenze auf 991 Euro im Monat. Das haben die sich nicht ausgedacht, sondern diese Grenze haben wir heute schon bei den „Sonstigen Personen ohne Einkommen“ (z.B. pflegende Angehörige oder nebenberuflich Selbständige).

Und dann gibt es noch den Verband der Gründer und Selbständigen (VGSD) – und der hat sich sogar mit einer eigenen Studie präpariert, in der die unterschiedlichen Vorschläge für eine Absenkung der Mindestbeitragsbemessungsgrenze untersucht werden:

Günter Neubauer et al. (2017): Wege zur Überwindung von Einstiegshürden für Teilzeit-Selbständige und Gründer: Belastungen durch Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, München 2017

Ver VGSD verweist auf die niedrigste Variante: Von SPD, FDP und Linken, aber auch dem DGB, von Verbraucher- und Sozialverbänden und vom VGSD und deren Partnerverbänden wird eine Absenkung der Mindestbemessung auf 450 Euro und damit eine Angleichung an die für Angestellte geltende Regelung gefordert. Das entspricht einem Mindestbeitrag von 83,25 Euro und wäre eine Absenkung um 80 Prozent. Eine Absenkung auf 650 Euro als potenzielle Kompromisslösung wäre mit Mindestbeiträgen von 120,25 Euro verbunden, das wäre eine Absenkung um 70 Prozent.

Mit Bezug auf die Neubauer-Studie argumentiert der VGSD: Natürlich wären die Beitragsmindereinnahmen im Fall einer Absenkung der Mindestbemessungsgrundlage auf 450 Euro am höchsten. Die Folge wären jährliche Mindereinnahmen von 737 Millionen Euro. Bei Kompromisslösungen – etwa der Absenkung auf 991,66 oder 1.487,50 Euro – fallen die Beitragsmindereinnahmen niedriger aus: Sie würden laut der Studie 534 bzw. 376 Millionen Euro betragen.

Bei einer Gesamtbetrachtung sind jedoch auch die Beitragsmehreinnahmen zu berücksichtigen, die durch Mehrarbeit der Selbstständigen entstehen. Diese fallen bei einer vollständigen Angleichung der Mindestbeiträge mit 820 Millionen Euro mit Abstand am höchsten aus.

Der Grund dafür: Viele bisher Familienversicherte erhalten durch eine abgesenkte Beitragsberechnung einen Anreiz, mehr zu arbeiten und zu verdienen. Auf das höhere Einkommen zahlen sie dann erstmals Beiträge, während sie bisher kostenlos versichert sind.

Unter dem Strich ergibt sich bei der vollständigen Angleichung deshalb ein positiver Nettoeffekt für die Kranken- und Pflegeversicherungen in Höhe von 83 Millionen Euro. Auch bei einer Absenkung auf 650 Euro wäre der Nettoeffekt noch positiv.

Der Vorschlag mit der Mindestbeitragsbemessung von 450 Euro hatte es zwischenzeitlich auch in den Bundestag geschafft: Anträge zu Kranken­kassenbeiträgen freiwillig Versicherter abgelehnt: Der Bundestag »hat am Donnerstag, 30. März 2017, gegen zwei Anträge (18/9711, 18/9712) der Fraktion Die Linke votiert, die „gerechte“ Versicherungsbeiträge von freiwillig Versicherten und freiwillig versicherten Selbständigen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) fordern.«

Man kann es in diesem Kontext auch so sehen wie Andreas Müller, der auf change.org diese Petition gestartet hat: Gerechte Krankenkassenbeiträge für geringverdienende Selbständige. Der 48-Järige beschreibt seine eigene Situation so:

»Aufgrund von Arbeitslosigkeit hatte ich vor ca. acht Jahren den Schritt in die Selbständigkeit gewagt … Als Händler mit Pflanzen und Schnittblumen hatte ich mich auf dem Wochenmarkt nach einiger Zeit etabliert und mir einen Kundenstamm aufgebaut. Allerdings ist die Gewinnspanne bei einem solchen Produkt nicht sehr hoch und somit das monatliche Einkommen entsprechend gering.

Trotz meines niedrigen monatlichen Einkommens von nur 1200,–€ brutto (im Jahr 2015), zahle ich jeden Monat einen Beitrag von  410,– € an die Krankenkasse für die Kranken- und Pflegeversicherung (34% meines Einkommens). Dieser Mindestbeitrag für freiwillig gesetzlich Versicherte wird von einem fiktiven Einkommen, der Mindestbeitragsbemessungsgrenze von zurzeit 2231,25 € berechnet … Bei einem Antrag auf eine Beitragsermäßigung bei der Krankenkasse, besteht eine Auskunftspflicht in Bezug auf das Vermögen (dazu zählen Auto, Schmuck, Sparvermögen usw.) sowie auf das Gesamteinkommen der Bedarfs- bzw. der Lebensgemeinschaft, in der ein(e) Selbständige(r) lebt  – hier besteht eine Analogie zur Antragstellung bei Hartz IV.«

Und was genau will er mit seiner Petition erreichen?

»Daher fordere ich, dass der Krankenkassenbeitrag an die gesetzlichen Krankenkassen für Selbstständige unter Wegfall der Mindestbeitragsbemessungsgrenze nach dem tatsächlichen Gewinn ermittelt wird, wobei zukünftig die Frage nach der Bedarfsgemeinschaft und dem Vermögen entfällt. Nur wenn das tatsächliche Einkommen zugrunde gelegt wird, gibt es gerechte Beiträge.«

Auch wenn in der Forderung offensichtlich nicht genau differenziert wird zwischen „Gewinn“ und „tatsächlichen Einkommen“ – es bleibt auch hier zum einen der kritische Einwand, was die Gestaltungsmöglichkeiten bei der Höhe dieser Posten angeht, die Selbständige mehr oder weniger haben und auch die ganz praktische Frage, wie man mit Fällen umgeht, bei denen die Einnahmen von Monat zu Monat eine große Varianz aufweisen, muss beantwortet werden.

Was bleibt am Ende? Zum einen besteht wirklich Handlungsbedarf bei den Selbständigen, die so wenig verdienen, dass sie ihre Beiträge schlichtweg nicht oder nur eingeschränkt zahlen können. Wenn man vom Prinzip der sozialen Schutzbedürftkeit ausgeht, dann spricht alles für eine deutliche Absenkung der Mindestbeitragsgrenze. Die Gesetzliche Krankenversicherung würde dann die ihr innewohnende Umverteilungsfunktionalität zugunsten von Menschen mit niedrigen Einkommen erfüllen, was den Kernbereich einer Sozialversicherung berührt.

Allerdings könnte man diesen Tatbestand weitaus entspannter und offensiver vertreten, wenn gleichzeitig die „guten“ Risiken, also die Selbständigen mit ordentlichen und sehr guten Einkommen, ebenfalls in die Sozialversicherung integriert wären, denn Umverteilung innerhalb einer Solidargemeinschaft setzt eben neben denen, wo eine offensichtliche Schutzbedürftigkeit festgestellt wird, auch diejenigen voraus, die ihrerseits zur Umverteilung beitragen, in dem sie ihre finanzielle Leistungsfähigkeit zur Verfügung stellen. So bleibt der schale Beigeschmack, dass die Selbständigen, die einer solidarischen Absicherung bedürfen, von der ansonsten oftmals geschmähten Sozialversicherung aufgefangen und unterstützt werden sollen, während sich die anderen, die es auch gibt, aus der Solidargemeinschaft verabschieden können und in die private Krankenversicherung gehen bzw. dort verbleiben.

Nachtrag: Am 25.10.2017 berichtet die Online-Ausgabe des Handelsblatts unter der Überschrift: Zahl der Solo-Selbstständigen auf 2,31 Millionen gestiegen: »Die Zahl der Solo-Selbstständigen ist seit dem Jahr 2000 deutlich auf 2,31 Millionen im vergangenen Jahr gestiegen. Damals gab es noch 1,84 Millionen Selbstständige ohne eigene Beschäftigte … Solo-Selbstständige haben dabei ein vergleichsweise niedriges Einkommen. Im vergangenen Jahr lag ihr monatliches Nettoeinkommen im Schnitt bei 1.567 Euro … Bis 2012 war die Zahl der Solo-Selbstständigen fast kontinuierlich bis auf 2,46 Millionen in die Höhe gegangen. Dann sank sie wieder auf 2,30 Millionen im Jahr 2015, um nun wieder leicht anzusteigen … 2016 bezogen etwas mehr als 105 000 Selbstständige ergänzende Hartz-IV-Leistungen.«

Wenn Wissenschaftler im Haifischbecken kreisen. Vorschläge zur Reform der Geldverteilmaschine Risikostrukturausgleich

»Der Finanzausgleich zwischen den Kassen ist eine hochpolitische Angelegenheit, es geht um die Verteilung von rund 200 Milliarden Euro im Jahr. Dass diese Geldverteilmaschine seit ihrem Start 2009 erst zum zweiten Mal wissenschaftlich untersucht wurde, ist ein Unding«, schreibt Florian Staeck in seinem Kommentar, den er mit Das 200 Milliarden-Monster überschrieben hat. Es geht – verknüpft mit dem Gesundheitsfonds – um den „Morbi-RSA“, also um den „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich“. Dieser wurde – ursprünglich als Weiterentwicklung des alten, seit 1995 geltenden Ausgleichssystems seit 2001 für 2007 geplant – im Jahr 2009 mit dem Gesundheitsfonds dann tatsächlich auch eingeführt. Das Grundanliegen kommt sympathisch rüber: »Die Mittel des Gesundheitsfonds sollen so an die Krankenkassen verteilt werden, dass sie da ankommen, wo sie zur Versorgung der Versicherten am dringendsten benötigt werden. Zunächst erhält jede Krankenkasse für jeden Versicherten eine Grundpauschale in Höhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben in der GKV. Für eine Krankenkasse mit vielen alten und kranken Versicherten reicht dieser Betrag naturgemäß nicht aus, während eine Krankenkasse mit vielen jungen und gesunden Versicherten zuviel Geld erhielte. Daher wird diese Grundpauschale durch ein System von Zu- und Abschlägen angepasst. Neben den bisherigen Merkmalen des Risikostrukturausgleichs – Alter, Geschlecht und Bezug einer Erwerbsminderungsrente – soll dabei auch die anhand von 80 ausgewählten Krankheiten gemessene Krankheitslast der Krankenkassen berücksichtigt werden«, so das Bundesversicherungsamt in einer Darstellung des Risikostrukturausgleichs. Nun hört sich das mit dem Ausgleich der besonders hohen Ausgaben, die mit bestimmten Krankheiten verbunden sind, einfacher an als es dann in der Praxis ist.

Man ahnt schon, wo das methodische Grundproblem liegt: Wenn man (lediglich) klar abgrenzbare Hochkosten-Fälle berücksichtigt, ist das nachvollziehbar und auch kaum manipulationsanfällig – denn eine relativ seltene, aber extrem kostenintensive Autoimmunerkrankung lässt sich gut abgrenzen.

Problematisch wird es dann, wenn man das Spektrum der berücksichtigungsfähigen Krankheiten seht weit aufmacht und die Frage der (Nicht-)Diagnose einem gewissen „Gestaltungsspielraum“ unterliegt. Dann werden Anreize in die Welt gesetzt, die man nutzen kann. Was offensichtlich, so die Kritiker, auch passiert (ist).

Und gerade an dieser Stelle hat es in der Vergangenheit mächtig geknallt zwischen den verschiedenen Kassen(arten). Im vergangenen Jahr gab es eine intensive Debatte über konkrete Manipulationsvorwürfe (vgl. hierzu den Beitrag Wenn der „mordbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“ Anreize setzt, Patienten morbider zu machen als sie sind und denen das dann schmerzhaft auf die Füße fallen kann vom 7. November 2016).

Auch aus der Forschung wurden statistische Hinweise auf „Gestaltungsaktivitäten“ geliefert, vgl. hierzu die Studie Sebastian Bauhoff, Lisa Fischer, Dirk Göpffarth and Amelie C. Wuppermann (2017): Plan Responses to Diagnosis-Based Payment: Evidence from Germany’s Morbidity-Based Risk Adjustment. CESifo Working Papers 65017, Munich, May 2017.

Reformen an dem komplexen Verteilungsalgorithmus des Morbi-RSA werden insbesondere von Ersatz, Betriebs- und Innungskassen gefordert, und zwar so rasch wie möglich. Die AOKen profitieren hingegen derzeit von dem Mechanismus und haben andere Interessen. Bundesgesundheitsminister Hermann Größe (CDU) hat Ende 2016 reagiert – und ein Gutachten in Auftrag gegeben. Unter anderem soll auch evaluiert werden, wie eine Manipulationsanfälligkeit des Finanzausgleichs in Zukunft verhindert werden kann. So ein Gutachten unter Haifischbecken-Bedingungen kann natürlich nicht in einem aseptischen Raum der Wissenschaft erarbeitet werden, dafür geht s hier offensichtlich um zu viel Geld. Außerdem sind die Wissenschaftler, die mit dem Gutachten beauftragt wurden (konkret handelt es sich um einen Anfang 2017 extra einberufenen Wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs), gerade nicht dem Elfenbeinturm verhaftet, sondern selbst teilweise Multi-Akteure innerhalb des Systems, was man beispielsweise an der Person des Vorsitzenden, Prof. Dr. Jürgen Wasem, studieren kann. Man schaue sich nur die beeindruckende Liste an Mitgliedschaften in Kommissionen und Institutionen an. Auf der einen Seite ist das verständlich, dass man mit so einer Aufgabe nur Leute beauftragen kann, die sich in dem hyperkomplexen System des Gesundheitswesens auch auskennen, auf der anderen Seite ist dann natürlich auch die Gefahr einer institutionengetriebenen „hidden agenda“ nicht unplausibel.  Darüber wurde bereits in diesem Beitrag vom 11. September 2017 berichtet: Die Krankenkassen auf dem wahren Schlachtfeld. Wo es um das ganz große Geld geht. Der „Morbi-RSA“ als höchst umstrittene Verteilungsformel im Gesundheitswesen.

Rechtzeitig zum Start der Koalitionssondierungen sollten die Wissenschaftler ihr Gutachten vorlegen. Nun liegen die ersten Ergebnisse der Arbeit des Beirats vor, dieser Auftrag wurde also mit einer Punktlandung erfüllt.

Am Tag, als der Beirat das Gutachten vorgestellt hat, erschien in der „Ärzte Zeitung“ dieser Artikel: Morbi-RSA – Streit um Geld und Diagnosen. Dort wurde darauf hingewiesen, dass insbesondere zwei miteinander verwobene Problemkreise die Reform des Morbi-RSA komplex und konfliktträchtig machen: Zum einen massive finanzielle Folgen für die Kassen durch bereits kleine Veränderungen am Algorithmus sowie die Frage der Manipulationsresistenz des Morbi-RSA.

Nach der Präsentation des neuen Gutachtens konnte man dann in der „Ärzte Zeitung“ diesen Artikel lesen: Neue Regeln für Morbi-RSA: „Mehr Geld für Kranke, weniger für Gesunde“. Das hört sich für den außenstehenden Zuschauer doch recht vernünftig an.
Der Vorsitzende des Beirats, Jürgen Wasem, wird mit diesen Worten zitiert: „Das ist ein guter Tag für Kranke.“ Den historisch Bewanderten erinnert das sehr an den ersten Satz von Peter Hartz, als er 2002 die Empfehlungen der „Hartz-Kommission“ zusammen mit dem damaligen Bundeskanzler Schröder der Öffentlichkeit vorgestellt hat, auch da war von einem „guten Tag“, in dem Fall für die Arbeitslosen in Deutschland die Rede.

Was nun hat die Kommission vorgeschlagen? Das „Sondergutachten zu den Wirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs“ kann man noch nicht im Original auf der Beiratsseite finden, aber immerhin eine Zusammenfassung, der man die Grundlinien der Argumentation des Gutachtens entnehmen kann.

Zu den wichtigsten Vorschlägen in dem Gutachten gehören sicher diese drei Punkte:

  • Bisher werden nur 80 ausgewählte Krankheiten im Finanzausgleich besonders berücksichtigt. Die Experten empfehlen ein Vollmodell, das also alle Krankheiten berücksichtigt. Man will also die Zielgenauigkeit der Zuweisungen über den RSA dadurch erhöhen, dass man alle Kosten berücksichtigt.
  • Und anders als auch von manchen Kassen gefordert, empfehlen die Experten nicht, im RSA auf Diagnosen, die in der ambulanten Versorgung erhoben werden, zu verzichten. An denen bzw. deren Qualität hatten sich die Manipulationsvorwürfe festgemacht.
  • Einen Risikopool, durch den die Kosten besonders „teurer“ Versicherter abgedeckt werden könnten, empfehlen die Experten nicht vorbehaltlos. Man habe keine systematische Benachteiligung von Kassen beobachten können, die einen besonders hohen Anteil von Hochkostenfällen versichern, sagte Wasem. Bis Ende 2008 hat es im RSA einen solchen Risikopool gegeben, er war dann mit dem Start des Morbi-RSA entfallen.

Vor allem das Vollmodell, das im Gutachten vorgeschlagen wird, würde sicher nicht die Komplexität des Systems verringern. Komplexitätssteigernde Effekte sind auch durch einen noch ausstehenden Folgeauftrag an das Gremium zu erwarten: Ende April 2018 wird der Wissenschaftliche Beirat erneut ein Gutachten vorlegen, das vom Bundesgesundheitsministerium angefordert wurde. Dieses wird sich damit beschäftigen, ob eine regionale Versorgungskomponente in den RSA eingefügt werden soll. Hintergrund ist, dass die Versorgung in Ballungsregionen oft höhere Kosten verursacht als in ländlichen Regionen. Ein weiterer Hintergrund ist das Drängen reicher Bundesländer wie Bayern, die Umverteilungskomponente zu ihren Gunsten zu reduzieren.

Natürlich wird jetzt intensiv gestritten über die Vorschläge – und ein konsensuales Ergebnis ist naturgemäß nicht zu erwarten. Die ersten Reaktionen der einzelnen Kassenarten verdeutlichen das:

»Der Ersatzkassenverband vdek kritisierte, dass das Sondergutachten des Wissenschaftlichen Beirats keine Lösungen enthalte, wie die finanzielle Benachteiligung der Ersatzkassen und ihrer Versicherten im Morbi-RSA kurzfristig beseitigt werden könnte. Stattdessen werde ein Krankheitsvollmodell vorgeschlagen, das bereits überdeckte Kassen und Kassenarten weiter bevorteile.

Auch die BKK zeigte sich enttäuscht über das Gutachten. Das Bündel der vorgelegten Empfehlungen gehe an den tatsächlichen Wettbewerbsverzerrungen zwischen Kassen und Kassenarten vorbei, so Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbands in einer Pressemitteilung. Denn die Vorschläge bewegten sich allesamt im technokratischen Umfeld des gegenwärtigen RSA, der diese Probleme erst geschaffen habe. Als „befremdlich und praxisfern“ bezeichnete er zudem die Nichtberücksichtigung der Unterschiede bei den Zusatzbeitragssätzen.

Als gute Basis für die Weiterentwicklung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) bezeichnet hingegen der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, das Sondergutachten zum Morbi-RSA.«

Es ist mehr als schwierig, sich in diesem interessenverminten Gelände zu bewegen. Vielleicht hilft eine grundsätzliche Rückbesinnung: Der Beirat, der nach 2001 für die Ausarbeitung eines neuen RSA zuständig war, hatte dafür plädiert, vor allem besonders teure Krankheiten auszugleichen. Der entsprechende Gesetzentwurf sah vor, dass diese Krankheiten „eng abgrenzbar, schwerwiegend und chronisch“ sein und eine „besonders Bedeutung für das Versorgungsgeschehen“ haben müssten. Vor allem aber sollten die durchschnittlichen Behandlungskosten je Patient die durchschnittlichen Leistungsausgaben für alle Versicherten um mindestens 50 Prozent übersteigen. Der Beirat hatte bewusst Erkrankungen wie Rheuma, einfache Diabetes, Asthma oder Depressionen ohne schweres Krankheitsbild nicht in die Liste aufgenommen, weil sie zwar häufig vorkommen, aber keine hohen Behandlungskosten auslösen und oft auch schwer abgrenzbar und zu diagnostizieren sind.

Diesem Votum war man schlussendlich nicht gefolgt, sondern hatte mit den 80 finanziell besonders „wertvollen“ Erkrankungen dann eine weite Abgrenzung gewählt, die nun noch einmal geweitet werden soll, wenn man dem neuen Gutachten folgen würde. Bereits bei der veränderten Beschlussfassung den bestehenden Morbi-RSA betreffend wurde aus den Reihen des alten Beirats, der damals geschlossen zurückgetreten ist, vor der Manipulationsanfälligkeit einer zu weiten Berücksichtigung gewarnt und der damalige Vorsitzende, der Bremer Gesundheitsökonom Gerd Glaeske, sah sogar die Gefahr einer Morbidisierung der Gesellschaft am Horizont.

Man könnte abschließend – und an die Abbildung am Anfang des Beitrags anknüpfend, in der man den massiven Konzentrationsprozess in der Krankenkassenlandschaft erkennt – die Frage stellen, was eigentlich gegen einen sehr eng gestrickten Morbi-RSA spricht? Vielleicht die Tatsache, dass dann der Konzentrationsprozess der Kassen weiter vorangetrieben wird – die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hatte mal um die 50 Krankenkassen als ausreichend bezeichnet, aber man könnte durchaus noch weiter runter gehen. Denn die Krankenkassen im GKV-System unterliegen dem Kontrahierungszwang und die Versicherten haben die Möglichkeit, die Kasse zu wechseln. Ist es wirklich so, dass in einem GKV-System 50 oder 100 Kassen und der (angebliche) Wettbewerb zwischen ihnen besser ist als zwei, drei oder fünf Kassen – oder gar die gerne als Schreckensgespenst an die Wand gemalte Einheitskasse (für den GKV-Bereich, ergänzt um eine darüber liegende Schicht an Versicherungen für Zusatzleistungen)? Das sind die eigentlichen Fragen, die man aufrufen müsste.

Quelle der Abbildung: GKV-Spitzenverband, Entwicklung der Krankenkassenanzahl seit 1970