Krankheit und ihre Kosten. Und wo Gewinner sind, müssen Verlierer sein. Krebspatienten und die PKV als „Lohnnebenkostensenker“

Diagnose: Krebs. Das ist für jeden ein großer Schock. Für die Betroffenen ist es dann wichtig, dass sie sich darauf konzentrieren können, wieder gesund zu werden – wenn sie denn überhaupt eine Chance haben. Die Krankheit hat für viele Patienten aber auch finanziell erhebliche Konsequenzen.
Darüber berichtet dieser Beitrag: Armutsrisiko Krankheit.

Wie schnell man abstürzen kann, vermittelt dieses Beispiel aus dem Beitrag:

»Frühjahr 2015: Ein Mann, Mitte 30, geht nach gesundheitlichen Beschwerden zum Arzt. Er hat drei Kinder und ist zu diesem Zeitpunkt der Hauptverdiener in seiner Familie. Im Monat verdient er etwa 2.600 Euro. Dann erhält er die Diagnose – er hat Krebs. Weil der Vater deshalb länger nicht arbeiten kann, bekommt er zunächst Krankengeld, also etwa zwei Drittel seines Einkommens. Eigentlich kann man dieses Krankengeld bis zu anderthalb Jahre lang bekommen. Aber in der Praxis sieht das anders aus, erklärt der Leiter des Sozialdienstes am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg, Jürgen Walther.
„Theoretisch ja, aber faktisch ist das nicht so. Wenn sich vorher bestätigt, dass die Erwerbsfähigkeit erheblich eingeschränkt ist, dann kann die Krankenkasse dafür sorgen, dass dieser Mensch aus dem Krankengeld in die Erwerbsminderungsrente geht. Und wenn jemand ein normales durchschnittliches Einkommen hatte, dann ist diese Belastung oftmals extrem hoch.“ Auch bei dem mehrfachen Vater meldet sich die Krankenkasse und stellt fest – er soll in Zukunft Erwerbsminderungsrente erhalten. Das bedeutet für ihn etwas mehr als 1.000 Euro im Monat.«

Das ist leider kein Einzelfall: »Im Jahr 2014 sind rund 20.000 Krebskranke in die Erwerbsminderungsrente gerutscht. Die lag dort durchschnittlich unter der Armutsgrenze, also bei weniger als 980 Euro im Monat.«

Das hat Folgen, an die viele Gesunde gar nicht denken: »Diese Belastung kann die Gesundheit der Betroffenen zusätzlich schwächen. Manche finden ihre wirtschaftliche Situation sogar belastender als ihre Krankheit. Sie können ihre Kinder nicht mehr gut versorgen, geben ihre Karriere auf und können es sich nicht mehr leisten, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Manche haben auch Probleme, die Anfahrt zur Therapie alleine zu bezahlen.«

Wie so oft in der sozialpolitischen Praxis wissen wir noch viel zu wenig: »Noch gibt es keine belastbaren Daten darüber, wie hoch das Armutsrisiko von Tumorpatienten allgemein ist. Eine erste Studie mit 65 Krebskranken hat aber gezeigt, dass ein Drittel von ihnen unter finanzieller Not leiden.« Größere Studien sind geplant.

Die Praktiker aus der Sozialberatung haben schon mal zwei konkrete Verbesserungsvorschläge:

1. Auf der einen Seite ein verlässlicher längerer Anspruch auf Krankengeld.
2. Auf der anderen Seite ein Anheben des Erwerbsminderungsrentenniveaus, das ist ein klassisches Armutsrisiko. Denn dieses Niveau ist in den vergangenen Jahren erheblich gesunken.

Im Jahr 2014 bezogen branchenübergreifend in Deutschland ca. 1,7 Mio. Personen eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente. Über 170.000 Arbeitnehmer müssen jedes Jahr aus gesundheitlichen Gründen ihren Job vor Erreichen des Rentenalters aufgeben und sind dann auf die Erwerbsminderungsrente angewiesen. Aber ist bei dieser Leistung mit dem Rentenpaket 2014 der Bundesregierung nicht alles besser geworden? Bei den Erwerbsminderungsrenten (die sich in den vergangenen Jahren besonders schlecht entwickelt haben und ein Ticket in die Altersarmut darstellen, wenn man nicht auf maßgebliche andere Einkommensquellen zurückgreifen kann: vgl. hierzu ausführlicher die Analyse von Johannes Steffen: Erwerbsminderungsrenten im Sinkflug. Ursachen und Handlungsoptionen, Bremen, Mai 2013) hat man an zwei Stellschrauben graduelle Verbesserungen vorgenommen:

1.) Die sogenannte Zurechnungszeit wurde von 60 auf 62 Jahre angehoben. Die Rente wird dann so berechnet, als ob Erwerbsgeminderte bis zum 62. Lebensjahr Beiträge bezahlt hätten (und nicht wie bislang unterstellt bis 60). Das erhöht die Durchschnittsrente um etwa 40 Euro monatlich – laut Rentenversicherung beträgt die durchschnittliche Erwerbsminderungsrente rund 700 Euro.

2.) Für die Höhe der Erwerbsminderungsrente ist auch entscheidend, wie der Verdienst ermittelt wird, der für die Zurechnungszeit fortgeschrieben wird. Bislang wurde die Zurechnungszeit auf Grundlage des Durchschnittsverdiensts während des gesamten Erwerbslebens bis zum Eintritt der Erwerbsminderung bewertet. Das hat man geändert durch die „Günstigerprüfung“: Nun wird geprüft, ob die letzten vier Jahre bis zum Eintritt der Erwerbsminderung gegebenenfalls diese Bewertung negativ beeinflussen, etwa weil in dieser Zeit wegen Einschränkungen bereits Einkommenseinbußen zu verzeichnen waren. Das ist häufig der Fall, etwa weil die Menschen in dieser Zeit schon oft krank waren, oder krankheitsbedingt nicht mehr so viel bzw. gar nicht mehr arbeiten konnten. Mindern die letzten vier Jahre bis zum Eintritt der Erwerbsminderung die Ansprüche, fallen sie künftig aus der Berechnung heraus. Die Abbildung des BMAS verdeutlicht das Zusammenspiel der beiden Änderungen an einem Beispiel.

Aber angesichts der niedrigen (und in den Jahren vor dem Rentenpaket 2014 erheblich gesunkenen) Zahlbeträge bei der Erwerberbsminderungsrente ist das nur ein erster Korrekturschritt, wenn man die Armutsfalle, die für viele mit dem Verweis auf diese Sicherungsleistung verbunden ist, beseitigen möchte. Davon sind wir noch ein ordentliches Stück weit weg.

Man kann also sagen, dass wir auch bei vielen Krebspatienten mit dem Phänomen konfrontiert sind, dass es eine Verlagerung der Kostenträgerschaft – in diesem Fall der Krankheitsfolgekosten – auf die Betroffenen selbst gibt, was natürlich andere „entlastet“ – im Ergebnis aber nichts anders darstellt als eine Verschiebebahnhof zulasten der schwächsten Glieder in der Kette.

Und wenn wir schon beim Verschieben von Kosten sind, dann bietet es sich an, einen Blick zu werfen auf eine neue Studie, die von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) veröffentlicht worden ist:

Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw): Lohnzusatzkosten – die Bedeutung des Wettbewerbs zwischen GKV und PKV, München 2016

Das klingt sehr allgemein gehalten, der Inhalt ist aber überaus handfest und mit konkreten Euro-Beträgen versehen. Andreas Mihm hat zentrale Befunde aus dieser Studie in seinem Artikel Wirtschaft lobt die private Krankenversicherung zusammengefasst: Die Unternehmen sparen jedes Jahr Lohnnebenkosten von gut 1,3 Milliarden Euro durch die private Krankenversicherung. Wie das?

»Der Grund dafür liege in den niedrigeren Beiträgen, die die Arbeitgeber für ihre zwar hochbezahlten, aber privat kranken- und pflegeversicherten Beschäftigten entrichteten. Die Privaten dürfen nur Arbeitnehmer versichern, die mehr als 56.250 Euro im Jahr verdienen.
Die Kosten der Privatversicherung lägen im Schnitt bei 460 Euro im Monat, wovon der Arbeitgeber die Hälfte trage, also 230 Euro, heißt es in der dieser Zeitung vorliegenden Analyse. Dagegen fielen in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung im vorigen Jahr bei Einkommen von 4150 Euro oder mehr im Monat Kosten von 639,38 Euro an, wovon der Arbeitgeber 301,13 Euro übernahm. Auf das Jahr gerechnet sind das für einen privat krankenversicherten Arbeitnehmer 850 Euro weniger Nebenkosten. Da auch die private Pflegeversicherung günstiger sei, kämen weitere 414 Euro Ersparnis hinzu, heißt es in der Untersuchung.
Auf das Jahr gerechnet summiere sich der Sparbetrag damit auf 1267 Euro. Die gegebenenfalls höhere Arbeitgeberleistung für privat mitversicherte Angehörige (bis zur Hälfte des Kassensatzes) sei berücksichtigt. Der Rest ist Multiplikation: Bei 1,26 Millionen privatversicherten Arbeitnehmern ergibt das einen jährlichen Sparbeitrag von 1,33 Milliarden Euro.«

Dieser Vorteil für die Arbeitgeber ergibt sich aus der Dualität der Krankenversicherungen in Deutschland, also dem Nebeneinander von GKV und PKV. Durch die Konstruktionsbedingungen verursacht sind es vor allem die „guten Risiken“, die sich dem Umverteilung- und Solidarsystem der Gesetzlichen Krankenversicherung entziehen und sich in privaten Krankenversicherungen organisieren können.  Ein Sprecher des Spitzenverbandes der GKV wird entsprechend in dem Artikel so zitiert: „Selbst wenn die PKV-Mitgliedschaft eines Mitarbeiters im Einzelfall für ein Unternehmen einen finanziellen Vorteil mit sich bringt, beruht dieser lediglich darauf, dass die private Krankenversicherung sich der gesellschaftlichen Solidarität entzieht und im Windschatten der gesetzlichen Krankenversicherung ihr Geschäft betreibt“.

Aber der Gewinner dieser Kostenumverteilung hat natürlich kein Interesse, daran etwas – und sei es für das Ziel eines übergeordneten Lastenausgleichs – zu verändern. Folgerichtig wird die Studie seitens der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft dazu genutzt, einer Aufhebung der Trennung zwischen GKV und PKV zu widersprechen und dessen Beibehaltung zu fordern: Ohne die private „Rückversicherung“ müssten die Arbeitgeber milliardenhohe Zusatzkosten tragen. Die PKV leiste „einen wichtigen Beitrag, die Kosten im Rahmen zu halten“, wird der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung, Bertram Brossardt, zitiert.

Nun kann man – wenn man denn will oder muss – einige Argumente für die Beibehaltung der getrennten Systeme finden und vortragen, aber das Argument vom „Lohnnebenkostensenker“ PKV kommt schon arg gezwungen und irgendwie auch mehr als kleinkrämerisch daher, wenn man es aus der Perspektive des Gesamtsystems betrachtet, also mit Blick auf das Volumen, über das wir hier sprechen. Dazu und ohne weitere Kommentierung die entsprechende Anmerkung von Andreas Mihm: »Gemessen an den 1,5 Billionen Euro, die die Arbeitgeber 2014 für Löhne, Gehälter und Nebenkosten aufgewandt haben, erscheinen allerdings auch jene 1,3 Milliarden Euro bescheiden. Es ist gerade einmal ein Anteil von einer Promille.«

Abbildung: www.rentenpaket.de, BMAS

Hartz IV: Neue Regeln, zusätzliche Bürokratie. Keine Familienmitversicherung mehr für jugendliche Hartz IV-Empfänger. Eine Neuregelung mit Tücken

Seit Jahresbeginn gelten für Hartz-IV-Bezieher neue Regeln, die zusätzliche Bürokratie bedeuten. Konkret geht es um die Familienmitversicherung in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Man kann es paragrafenlastig so darstellen: »Aufgrund der am 01.01.2016 in Kraft tretenden Teile des „GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsentwicklungsgesetz“ endet die bisherige Familienversicherung für ALG II Bezieher zum 31.12.2015. ALG II Bezieher (ab 15 Jahren; § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II), welche bisher aufgrund § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V i.V. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V beitragsfrei in der gesetzlichen Familienversicherung versichert waren (Ehegatte, Lebenspartner, Kinder und Kindeskinder von Mitgliedern), werden ab 01.01.2016 selbst versicherungspflichtig in der Gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung.« Susan Bonath hat ihren Artikel dazu so überschrieben: Schluss mit Familienversicherung. Krankenkassen: Neues Sonderrecht für jugendliche Hartz-IV-Bezieher. Experten warnen vor Tücken. Besonders betroffen von der Neuregelung »sind Jugendliche ab dem vollendeten 15. Lebensjahr beziehungsweise ihre Eltern. Egal ob die jungen Leute noch zur Schule gehen oder eine Ausbildung machen – sie müssen sich von nun an selbst krankenversichern. Denn der Vorrang der Familienversicherung bei den Krankenkassen gilt für Hartz-IV-Bezieher nicht mehr.«

Angeblich will man durch diese Neuregelung den Prüfaufwand der Jobcenter reduzieren und auch für die nun selbst zu versichernden Personen wird der Mindestbeitrag übernommen. Aber: Das dürfte zum einen weitaus höhere Kosten verursachen als bisher. Und zum anderen birgt die neue Sonderregel für Leistungsbezieher erhebliche Tücken.

Für die Krankenkassen stellt sich die Neuregelung ambivalent dar: Zum einen bekommen sie nun so einige neue Versicherte und damit mehr Einnahmen, auf der anderen Seite wurde gleichzeitig der monatliche Pauschalbeitrag pro Kopf abgesenkt, von »etwa von 120 bis 140 auf unter 100 Euro«, so wird eine Sprecherin des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) in dem Artikel zitiert.

Aber wo liegen denn nun mögliche Tücken, wenn doch – unabhängig von der für die Kassen relevanten Frage einer Kostendeckung durch die konkrete Höhe des Pauschalbetrags – der jugendliche Hartz IV-Empfänger selbst versichert sein muss, der Beitrag aber von den Jobcentern übernommen wird?

»Solange ein Leistungsberechtigter Hartz IV auch bekomme, müsse er sich keine Sorgen machen. Kritisch werde es aber, wenn etwa ein Jugendlicher zu 100 Prozent sanktioniert wird. Das kann unter 25jährige seit 2007 bereits beim zweiten »Fehlverhalten« treffen.«

Und diese Fälle gibt es durchaus (vgl. dazu den Beitrag Durch alle Netze gefallen, vergessen und jetzt ein wenig angeleuchtet: Der Blick auf die „entkoppelten Jugendlichen“ vom 11.06.2015).

Und was dann? Claudia Mehlhorn wird in dem Artikel von Bonath mit diesen Worten zitiert: »Ich kann jedem Betroffenen nur raten, sofort zum Jobcenter zu gehen und mindestens einen Lebensmittelgutschein pro Monat zu beantragen«. Denn nur in diesem Fall setze das Amt die Zahlung der Beiträge wieder in Gang. Werden die Essensmarken nicht beantragt, dann meldet das Amt Betroffene einfach bei der Krankenkasse ab.

Abr es gibt doch die 2013 vom Gesetzgeber eingeführte „obligatorische Anschlussversicherung“, die dann automatisch greift?

Im Prinzip ja, aber:

»Die Kassen schicken Betroffenen nach der Abmeldung einen Einkommensfragebogen, den sie zwingend ausfüllen müssen, auch wenn sie vom Betteln oder Flaschensammeln leben«, erläuterte Mehlhorn. Nur so werde ein Anspruch auf Familienversicherung geprüft. Liegt dieser nicht vor, etwa bei Alleinstehenden oder elternlosen Jugendlichen, müssten die Sanktionierten den Mindestbeitrag für freiwillig Versicherte von rund 165 Euro selbst aufbringen. Noch viel drastischer treffe es jene, die nicht auf das Schreiben mit dem Fragebogen reagieren, sagte die Expertin. »Sie werden mit dem Höchstbeitrag eingestuft, das sind um die 700 Euro.« Sei man erst einmal in ein Mahnverfahren gerutscht, käme man aus der Nummer nicht wieder heraus.«

Und wenn man die Betroffenen schon mal in die Untiefen der Sozialbürokratie schickt, dann „richtig“. Harald Thomé weist auf das (mögliche) Problem steigender Zusatzbeiträge hin. Wenn diese über dem Durchschnittswert – 2015 waren das laut GKV-Spitzenverband 0,83 Prozent – liegen, dann übernimmt das Jobcenter die Mehrkosten nicht. Wenn Betroffene das Geld nicht vom Regelsatz abzweigen wollen/können, müssten sie sich nach einer neuen, günstigeren Krankenkasse umsehen. Das muss man natürlich auch alles wissen und mitbekommen, wann welche Schwellenwerte überschritten werden.

Zyniker werden an dieser Stelle einwerfen: Zeit genug haben die Betroffenen ja.

100 Prozent Sozialabbau oder doch eine innovative Durchbrechung des Entweder-Oder? Zur Debatte über die Vorschläge einer Teil-Krankschreibung

Vor kurzem hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen im Auftrag der Bundesregierung ein Sondergutachten zum Thema Krankengeld vorgelegt und darin revolutionär daherkommende Vorschläge zur Veränderung der bisherigen Praxis der Krankschreibung von Arbeitnehmern, die dem Entweder-Oder-Modell folgt, zur Diskussion gestellt. Vgl. hierzu den Blog-Beitrag Ein Viertel Krankschreibung könnte doch auch mal gehen. Experten haben sich Gedanken über das Krankengeld gemacht vom 07.12.2015. »An erster Stelle der 13 Vorschläge steht die Teilkrankschreibung nach schwedischem Modell. Statt der in Deutschland geltenden „Alles-oder-nichts-Regelung“ könnte ein Arbeitnehmer je nach Schwere der Erkrankung und in Abstimmung mit seinem Arzt zu 100, 75, 50 oder 25 Prozent krankgeschrieben werden«, so Andreas Mihm in seinem Artikel Braucht Deutschland den Teilzeit-Kranken?

Dieser Vorschlag ist vielerorts auf Skepsis und Ablehnung gestoßen. So bilanziert der Beitrag In Zukunft nur noch teil-krank? Abschied von der Arbeitsunfähigkeit im Betriebsrat Blog: »Worin die angepriesene Flexibilität für Arbeitnehmer liegt und welche Vorteile ihnen die Neuregelung bietet, bleibt erstmal unklar. Sehr greifbar sind dagegen bereits jetzt die Nachteile, denn der Druck auf die Beschäftigten wird durch derartige Regelungen unweigerlich zunehmen. Bereits beim Arztbesuch geriete man als Kranker zukünftig in eine Art Verhandlungssituation: 100% oder vielleicht doch nur 75%? Oder sogar nur 50? Wieviel soll’s denn sein? Und anschließend geht es dann mit der Rechtfertigung bei den Kollegen und Vorgesetzten weiter: Denn mit nur 25% teil-krank ist man ja eigentlich gefühlt noch ziemlich gesund und mit 50% irgendwie noch nicht so richtig voll-krank. Wie krank aber ist krank?« Die Schlussfolgerung überrascht dann nicht: »Unterm Strich erweisen sich die Vorschläge jedenfalls als zu 50% unausgegoren, zu 75% praxisfern und darüberhinaus zu vollen 100% als sozialunverträglich. Dennoch: Der Angriff auf die sozialen Systeme und Standards hat schon vor längerer Zeit begonnen. Dies hier dürfte ein Teil davon sein. Da wird noch einiges kommen.«

Und was sagen die Ärzte zu den Vorschlägen des Sachverständigenrats, die das ja mit den Patienten umsetzen müssten? Die Idee haut Ärzte nicht vom Hocker, so haben Anno Fricke und Jana Kötter ihren Beitrag dazu überschrieben. Sie sehen nicht, wie sich die Teil-AU in der Praxis umsetzen lassen könnte. Hier einige Stimmen, die in dem Beitrag zitiert werden:

„Eine an sich vernünftige Idee“, sagte Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands, der „Ärzte Zeitung“. Dann jedoch folgte das große Aber: Die Umsetzung dürfte für Ärzte eine enorme, zusätzliche Last bedeuten, weil Arzt und Patient über den Prozentsatz des Restleistungsvermögens diskutieren müssten, sagte Weigeldt.

„Kein Vorschlag, der bis zum Ende durchdacht ist“, lautete auch die erste Einschätzung von Dr. Wolfgang Wesiack, Präsident des Berufsverbands Deutscher Internisten (BDI). Krankheit habe eine objektive und eine wenig konstante subjektive Komponente. Hier zu objektivieren sei nicht möglich. Die Empfehlung des Sachverständigenrates sei geeignet, Ärzte in ein Verhandlungsgeschäft mit den Patienten zu treiben, für das es keine Kriterien gebe, sagte Wesiack der „Ärzte Zeitung“.

Es bestünden erhebliche Unterschiede zwischen einem Sachbearbeiter, einem Dachdecker und einem Piloten, sagte der stellvertretende Vorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dr. Veit Wambach. Nicht alle Arbeitnehmer könnten gleichermaßen teilgesund geschrieben werden. „Unsere Gesellschaft muss sich fragen, was schwerer wiegt: die ökonomische Leistungsfähigkeit der Arbeitswelt oder Arbeitnehmerschutz und Patientenwohl.“

Immer wieder hervorgehoben werden (mögliche bzw. erwartbare) Probleme in der Rechtssicherheit. Schon heute sei es für einen praktizierenden Arzt „gar nicht möglich, etwa in einem BU/EU-Gutachten rechtssicher genaue prozentuale Abstufungen des verbliebenen Leistungsvermögens vorzunehmen“, wird ein Arzt zitiert.

Vor dem Hintergrund der deutlichen Kritik und Ablehnung ist es natürlich interessant, was die Urheber dieser Diskussion an Argumenten für ihren Vorschlag vortragen. Hierzu hat die Ärzte Zeitung ein Interview mit dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Professor Ferdinand Gerlach, geführt: „Die jetzige Praxis der Krankschreibung ist realitätsfern“, so ist das Gespräch mit ihm überschrieben. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie sich die Teilzeit-Krankschreibung praktisch umsetzen lässt.

Einleitend verweist Gerlach darauf, dass es das Modell einer Teil-AU auch bei uns schon längst geben würde:

»Was wir vorschlagen, gibt es in Deutschland ja schon. Ab der siebten Woche können Krankgeschriebene nach dem Hamburger Modell schrittweise in den Arbeitsprozess zurückkehren. Das wird gerne genutzt und hat sich in Deutschland absolut bewährt. Wir sagen lediglich, dass man diese Möglichkeit zukünftig nicht erst ab der siebten Woche zur Verfügung haben sollte, sondern in Fällen, in denen das passt, auch schon vorher.«

Bei dem von ihm angesprochenen „Hamburger Modell“ geht es um eine stufenweise Wiedereingliederung in das Arbeitsleben: Ziel der stufenweisen Wiedereingliederung ist es, Beschäftigte unter ärztlicher Aufsicht wieder an die volle Arbeitsbelastung zu gewöhnen. Die stufenweise Wiedereingliederung ist eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation. Grundsätzlich haben alle Beschäftigten nach längerer Krankheit Anspruch auf eine stufenweise Wiedereingliederung durch die Kranken- oder Rentenversicherung. Allerdings gibt es Abweichungen zu den Vorschlägen der Sachverständigen, denn die fordern in ihrem Modell einer Teil-AU die Zahlung eines Teil-Krankengeldes. Das ist im Fall der Rehabilitation anders: Beschäftigte beziehen während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld oder Übergangsgeld. Sie gelten auch in dieser Zeit als arbeitsunfähig. Die Gesetzliche Krankenversicherung zahlt während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld in voller Höhe. Es gelten dieselben Voraussetzungen, die auch für Zahlung von Krankengeld für Arbeitsunfähigkeit gelten. Bei der Rentenversicherung wird Übergangsgeld gezahlt.

Aber wieder zurück zur Argumentation von Gerlach für die neuen Vorschläge. Er verweist auf vorliegende internationale Erfahrungen:

»In Schweden wird das seit 25 Jahren genau so praktiziert, wie wir das jetzt auch für Deutschland vorschlagen. Das Modell ist dort ausführlich evaluiert worden. Aufgrund der sehr positiven Erfahrungen haben auch Dänemark, Norwegen und Finnland es übernommen. In Österreich wird aktuell darüber diskutiert, es ebenfalls einzuführen. Das könnte allen zu denken geben, die glauben, dass die Teil-AU eine vollkommen abwegige Idee wäre.«

Er betont die Freiwilligkeit der Teil-AU, denn sie »soll nur dann angewendet werden, wenn Arzt und Patient davon überzeugt sind, dass das im Einzelfall eine sinnvolle Maßnahme ist. Ein Fernfahrer kann nicht teilweise arbeiten, ein Dachdecker muss bei seinen Einsätzen zu 100 Prozent fit sein.«
Und für wen könnte das neue Modell passen?

»Denken wir mal an eine Verkäuferin die schwanger ist und sich geschwächt fühlt. Sie sagt, acht Stunden Stehen halte ich nicht mehr durch. Ich könnte vielleicht einen halben Tag arbeiten. Hier hat der Arzt keine Alternative. Er muss sie komplett krankschreiben.
Ein anderes Beispiel: Sie kommen aus dem Skiurlaub zurück und haben sich den Fuß verstaucht. Es gibt viele Arbeitsplätze, an denen Sie dann trotzdem noch am Schreibtisch sitzen und Ihre E-Mails bearbeiten könnten.«

Angesprochen auf die beiden häufigsten Auslöser von Langzeit-Krankschreibungen, Rückenbeschwerden und psychische Störungen, argumentiert Gerlach so:

»… in beiden Fällen wissen wir, dass es vielfach nicht sinnvoll ist, dass Patienten entweder sechs Wochen lang alleine zuhause sitzen, ohne soziale Kontakte, oder sich sechs Wochen lang ins Bett legen und sich schonen.
Im Gegenteil: Es ist medizinisch sinnvoll, dass sie nicht ganz aussteigen, dass sie weiter unter Leute kommen, dass sie sich bewegen. Für den ein oder anderen Patienten mit Rückenleiden könnte es in den ersten sechs Wochen einer Krankschreibung durchaus sinnvoll sein, dass er vormittags zum Beispiel vier Stunden arbeiten und nachmittags zur Physiotherapie geht. Ich weiß aus meiner eigenen zwanzigjährigen Praxiserfahrung, dass es auch viele Patienten gibt , die von sich aus sagen, sie würden gerne wieder arbeiten gehen, weil ihnen sonst zu Hause die Decke auf den Kopf falle.Sie wissen, dass ihre Kollegen für sie mitarbeiten müssen, aber sie selbst halten, auch angesichts der heutigen Arbeitsverdichtung, noch nicht wieder den vollen Stress aus.«

Aus sozialpolitischer Sicht interessant ist natürlich der Vorwurf, hier gehe es nur darum, auf Kosten der Arbeitnehmer zu sparen, was auch durch den Auftrag an den Sachverständigenrat verstärkt wird, denn die Bundesregierung wollte Vorschläge haben, wie man den starken Anstieg der Krankengeldausgaben der Kassen eindämmen kann. Hier verweist Gerlach darauf, dass das nicht der Fall sei, sondern ganz im Gegenteil sogar eine Verbesserung für den Arbeitnehmer erreicht werden könne:

»In den ersten sechs Wochen bekommt jeder Versicherte eine vollständige Lohnfortzahlung. Ab der siebten Woche kommt das Krankengeld, das 70 Prozent des Bruttolohns ausmacht, maximal 90 Prozent vom Netto.
Wenn Sie jetzt das Hamburger Modell anwenden, so wie es heute ist, und Sie gehen halbtags arbeiten, dann bekommen Sie trotzdem nur das Krankengeld. Sie bekommen auch dann nicht mehr, wenn Sie 75 Prozent arbeiten gehen. Der Arbeitgeber muss ja erst dann wieder einen Cent zahlen, wenn Sie 100 Prozent gesund sind.«

Und das Modell des Sachverständigenrates sieht ja vor, dass Krankengeld nur noch als Teil-Leistung für die Teil-AU geleistet wird, während für die Zeit, wo gearbeitet wird, der Arbeitgeber Zahlen muss. Man muss aber genauer hinschauen: Eine Verbesserung im Vergleich zum heutigen „Hamburger Modell“ kann man schon erkennen, keine Frage. Aber die Vorschläge des Sachverständigenrates mit der Teil AU zielen ja vor allem darauf, von Anfang an mit diesem Instrumentarium einer Teil-Kranzschreibung zu arbeiten, also auch in den ersten sechs Wochen, in denen die betroffenen Arbeitnehmer Anspruch haben auf volle Lohnfortzahlung des Arbeitgebers. Wenn man jetzt von Anfang an zu 50 Prozent krank geschrieben wird, dann bekommt man natürlich auch nur 50 Prozent volle Lohnfortzahlung, aber 50 Prozent reduziertes Krankengeld – und muss zugleich noch 50 Prozent arbeiten, so bereits der Hinweis in meinem ersten Blog-Beitrag zu den Vorschlägen.

Aber auch Gerlach sieht diese Problematik und benennt sie auch – er differenziert die „Gewinner und Verlierer“-Bewertung entlang der Scheidelinie einer AU, die in die ersten sechs Wochen mit Lohnfortzahlungsanspruch fällt und eine AU, die darüber hinaus andauert:

»Wenn unser Vorschlag umgesetzt würde, dann hätten die Betroffenen mehr Geld im Portemonnaie. Würde jemand halbtags arbeiten, hätte er nach unserem Modell für diesen halben Tag den vollen Lohn und für die andere Tageshälfte dann die 70 Prozent Krankengeld. Das könnte sogar ein Anreiz sein für die Versicherten, von der Wiedereinstiegsmöglichkeit Gebrauch zu machen.
Während der ersten sechs Wochen hätte allerdings der Arbeitgeber den Vorteil, weil er im Gegensatz zu heute einen Teil der Arbeitskraft als Gegenleistung für die Lohnfortzahlung bekäme.«

Ein Viertel Krankschreibung könnte doch auch mal gehen. Experten haben sich Gedanken über das Krankengeld gemacht

Entweder-oder. Alles-oder-nichts. 100 Prozent ja oder 100 Prozent nein. Das ist der Algorithmus, wenn es um die Arbeitsunfähigkeit in Deutschland geht. Und damit um ein Thema, das auf der einen Seite höchst elementar für die Arbeitnehmer ist, denn die meisten waren schon mal krank geschrieben – sei es wegen einer Grippe oder wegen komplizierter Erkrankungen. Und dann will man nicht wegen der Erkrankung ins materiell Bodenlose fallen müssen, sondern selbstverständlich braucht man eine Absicherung für das eigene und bei den meisten Arbeitnehmern auch das einzige Vermögen – die Einnahmen aus dem Verkauf der Arbeitskraft. Deshalb hat man in der Vergangenheit, also der Sozialstaat auf- und ausgebaut wurde, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchgesetzt. Der Regelfall heute: 6 Wochen lang muss der Arbeitgeber die Bezüge weiterzahlen. Sollte dann die Arbeitsunfähigkeit weiter anhalten, dann rutschen die Betroffenen in den Krankengeldbezug (70 Prozent des letzten Bruttogehalts und damit schon deutlich weniger als vorher bei der Lohnfortzahlung). Die Krankenkassen wiederum müssen diese Leistung finanzieren aus ihren Beitragseinnahmen. Aber es gibt – das soll hier nicht verschwiegen werden – noch eine andere Dimension der Krankschreiben, die immer mehr oder weniger explizit mitschwingt, zuweilen auch mal die Oberhand zu gewinnen scheint: Gemeint ist der Vorwurf bis hin zur Tatsache, dass es Zeitgenossen gibt, die sich einen „blauen Montag“ machen oder auch zwei. Also Arbeitsunfähigkeit vortäuschen, um nicht arbeiten zu müssen. Sicher und bei weitem nicht die Mehrheit, aber es gibt auch diese Exemplare.

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Die Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung müssen es alleine stemmen. Die Lastenverschiebung in der Sozialversicherung hin zu den Arbeitnehmern bekommt ein Update

In diesen Tagen der Fokussierung auf das Flüchtlingsthema gehen so manche Nachrichten aus der Welt der Sozialpolitik schlichtweg unter. Zugleich wird man an Dinge erinnert, die vor geraumer Zeit in diesem Blog notiert wurden. Fangen wir damit an: Am 14. Juni 2014 wurde dieser Beitrag veröffentlicht: Und durch ist sie … Zum Umbau der Krankenkassenfinanzierung und den damit verbundenen Weichenstellungen. Daraus darf und muss man einiges in Erinnerung rufen: Bis zum Jahr 2008 gab es kassenindividuelle Beitragssätze, teilweise mit einer erheblichen Varianz zwischen den einzelnen Krankenkassen. Dann wurde von der damaligen Großen Koalition das System grundlegend verändert – 2009 wurde der „Gesundheitsfonds“ eingeführt, gewissermaßen der „dritte Weg“ im damaligen Lager-Streit zwischen einer „Bürgerversicherung“ und der „Gesundheitsprämie“. Für alle Versicherten wurde ein bundeseinheitlicher Beitragssatz eingeführt. Die Einnahmen,  die darüber generiert werden, müssen von den Kassen in einem ersten Schritt an den „Gesundheitsfonds“ abgeführt werden. Das Bundesversicherungsamt, dass den Fonds verwaltet, verteilt dann die Einnahmen in Form einer Zuweisung wieder an die einzelnen Kassen auf der Basis eines morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (RSA). Der bundeseinheitlicher Beitragssatz von 15,5 % verteilt sich – anders als in der früheren Welt – nicht mehr paritätisch auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern die Arbeitnehmerseite muss einen höheren Beitragssatz zahlen (8,2 % statt 7,3 % auf der Arbeitgeberseite), da die Versicherten einen besonderen Beitragsanteil in Höhe von 0,9 Prozentpunkten alleine aufzubringen haben. Gesetzliche Krankenkassen, die mit den aus dem Gesundheitsfonds zugeteilten Mitteln ihre Ausgaben nicht refinanzieren können, müssen bislang einen einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag von ihren Versicherten erheben (seit 2011 im Grunde nicht mehr nach oben begrenzt, aber mit einem Sozialausgleich, mit dem verhindert werden soll, dass der Zusatzbeitrag mehr als zwei Prozent des beitragspflichtigen Einkommens in Anspruch nimmt). So war das in der alten Welt, bevor die Große Koalition kam.

Denn die hat das System der Krankenkassenfinanzierung verändert – durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG). Das war eine wichtige Weichenstellung, denn: Der paritätisch finanzierten Beitragssatz wurde auf 14,6% gesenkt, während der Arbeitgeberanteil bei 7,3% eingefroren wurde.

Einkommensunabhängige pauschale Zusatzbeiträge werden abgeschafft, stattdessen wird der Zusatzbeitrag in Zukunft als prozentualer Anteil von den beitragspflichtigen Einnahmen erhoben. Da so der Solidarausgleich bei den Zusatzbeiträgen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung organisiert wird, ist ein steuerfinanzierter Sozialausgleich nicht mehr erforderlich und Mehrbelastungen des Bundes entfallen.

Die heute wieder aufzurufende Schlussfolgerung aus dem damaligen Beitrag lautet:

»Der sozialpolitische entscheidende, hoch problematische Punkt ist die Tatsache, dass der Zusatzbeitrag alleine von den Versicherten aufgebracht werden muss und dass der Arbeitgeber-Anteil von 7,3% auf Dauer eingefroren wird. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass alle zukünftigen Kostenanstiege in der Gesetzlichen Krankenversicherung, wenn diese dann ihren Niederschlag finden in entsprechend steigenden Beitragssätzen zur GKV, ausschließlich von den Versicherten zu tragen sind.«

Genau das können und müssen wir in diesen Tagen beobachten: GKV-Beiträge steigen um 0,2 Prozentpunkte, so eine der vielen Meldungen zum Thema. »Der durchschnittliche Beitrag für die gesetzliche Krankenversicherung steigt im kommenden Jahr voraussichtlich um 0,2 Prozentpunkte auf 15,7 Prozent.«

Und wir reden hier nicht über Peanuts, wenn wir von 0,2 Prozentpunkte Beitragssatzanstieg sprechen, denn daraus resultieren zusätzliche Einnahmen von etwas mehr als zwei Milliarden Euro. Diesen Anstieg müssen Versicherte allein tragen. Die prozentuale Belastung für Arbeitgeber bleibt davon unberührt.

Wobei man an dieser Stelle darauf hinweisen muss, dass das nicht für alle Versicherten bedeuten muss, dass ab dem 1. Januar des kommenden Jahres höhere Beiträge fällig werden, denn das ist eine Entscheidung der einzelnen Krankenkassen, ob sie das weiterreichen an ihre Versicherten und den Zusatzbeitrag anheben – oder den Kostenanstieg auf anderem Wege zu kompensieren versuchen.

Bereits jetzt zahlten Versicherte über zehn Milliarden mehr als Arbeitgeber, im kommenden Jahr steigt die Differenz auf 13 Milliarden Euro.

Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, wenn man konfrontiert wird mit solchen Botschaften: Rufe nach Rückkehr zur Parität werden lauter:

»Unisono forderten die Gesundheitspolitiker wie Hilde Mattheis (SPD), Harald Weinberg (Linke) und Maria Klein-Schmeink (Bündnis 90/Die Grünen), Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichmäßig zu belasten. Dem hat sich der Ersatzkassenverband (vdek) angeschlossen.«

Man kann es auch so ausdrücken: Ruf nach „Halbe-Halbe“ System, ein Beitrag von Peter Mücke , in dem darauf hingewiesen wird, dass die Forderung nach dem alten paritätischen System immer lauter wird. Und in diesem Artikel wird auch der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion zitiert:

„Es ist jetzt die Zeit, in der wir über eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung nachdenken müssen“, sagt etwa SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Er geht davon aus, dass der Zusatzbeitrag im Wahljahr 2017 wegen weiterer Reformen noch stärker steigen wird.

Das nun wieder ist aufschlussreich, wenn man ein Blick wirft in den Blog-Beitrag aus dem Juni 2014. Dort kann man – garniert mit zahlreichen kritischen Hinweisen an die Lauterbach’sche Adresse – lesen:

»SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach lobte das Gesetz, „weil es der endgültige Abschied von kleinen oder großen Kopfpauschalen ist“. Denn bisher können Kassen pauschale Zusatzbeiträge in festen Eurobeträgen nehmen.«

Klasse. Gleichsam ein virtuelles Problem. Denn: Wegen der guten Finanzlage der Kassen wurden gar keine pauschalen Zusatzbeiträge mehr erhoben.

Aber genau diese Konstellation beginnt sich jetzt zu ändern. Und man darf sicher sein: Wenn erst einmal die Büchse der Zusatzbeiträge bei einigen Kassen geöffnet wird, dann wird das gesamte System nachziehen.

Florian Staeck kommentiert: »Die GKV-Mitglieder können sich bei der SPD bedanken. Im Sommer 2014 einigte sich die Koalition auf einen Deal, der so verquer ist wie der Name des Gesetzes: Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungs-Gesetz (FQWG). Darin schwor die Union dem einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag ab. Das wurde von der SPD als finale Beerdigung der Kopfpauschale gefeiert. Der Preis für die SPD: die Aufgabe der Parität zugunsten der Arbeitgeber. Der Aufschlag bei den Zusatzbeiträgen dürfte je nach Kasse stark unterschiedlich ausfallen. Manche Kasse hat den Zusatzbeitrag bislang künstlich niedrig gehalten und Rücklagen aufgezehrt. Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit.«

Und die Krankenkassen stehen unter einem erheblichen Kostendruck: Die Arzneimittelpreise steigen, zusätzliche Ausgaben durch die Krankenhausreform der Bundesregierung werden fällig und im kommenden Jahr kann man durchaus plausibel von weiteren Kostensteigerungen ausgehen auch angesichts der Tatsache, dass 2017 die nächsten Bundestagswahlen anstehen (und angesichts des sich verstärkenden Drucks aus den Krankenhäusern seitens der faktisch oftmals unerträglichen Arbeitsbelastung vor allem im pflegerischen Bereich). Und natürlich darf an dieser Stelle nicht ausgeklammert werden, dass die Ausgaben im Zusammenhang mit der Integration der Flüchtlinge in das Krankenversicherungssystem ebenfalls zusätzliche Ausgaben generieren werden, die aus dem Beitrags- und ggfs. Zusatzbeitragstöpfen gedeckt werden müssen. Hinzu kommt ein weiterer, für die Versicherten unangenehmer Mechanismus: Neben der einseitigen Verlagerung der Kostenanstiege in den Zusatzbeitragsbereich hinein sind die Versicherten immer auch mit einer Politik der Teil-Leistungsverlagerung aus dem Versicherungssystem konfrontiert (man denke hier an die Zuzahlungen), was man natürlich hoch fahren kann. Aug Kosten der Versicherten.

In der gesetzlichen Krankenversicherung sehen wir damit die gleiche Entwicklungsrichtung, wie wir sie seit Anfang des Jahrtausends in der gesetzlichen Rentenversicherung beobachten müssen. Dort wurde mit der so genannten „Riester-Reform“ zum einen das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung abgesenkt, garniert mit dem Versprechen, dass es keinem schlechter gehen werde, da ja als Kompensation die staatlich hoch subventionierte „Riester-Rente“ eingeführt wird, die allerdings – aus der Perspektive des bestehenden Systems – einen „Schönheitsfehler“ aufweist: Die private Altersvorsorge muss ausschließlich von den Versicherten selbst bestritten werden und während die Absenkung des Rentenniveaus verpflichtend für alle konfiguriert wurde, gilt dies nicht für die private Altersvorsorge, die auf einer freiwilligen Basis ausgestaltet wurde, was bekanntlich dazu geführt hat, dass gerade diejenigen, die von der Absenkung des Rentenniveaus besonders hart getroffen werden, weil sie niedrige Einkommen haben, auf eine entsprechende private Zusatzvorsorge verzichten und sich im Ergebnis bei ihnen die Versorgungslücken verdoppeln.

Selbst in der Arbeitslosenversicherung, in der formal die Parität zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber noch gilt, müssen wir letztendlich eine Lastenverschiebung zuungunsten der Versichertenseite feststellen. Ein aktuelles Beispiel dafür wäre die „innovativ“ daherkommende Entscheidung, dass der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit (BA) beschlossen hat, Sprachkurse für Flüchtlinge schnell und flächendeckend anzubieten und diese über Beitragsmittel der Arbeitslosenversicherung zu finanzieren.  Hört sich gut an, aber wieder einmal geht es um Geld: Denn die Mittel dafür stammen aus der Interventionsreserve im Haushalt  der BA, also aus Beitragsgeldern, die man dafür zurückgelegt hat, dass bei einer Verschlechterung der Arbeitsmarktlage Leistungen an Arbeitslose gewährt werden können, ohne sofort ins Defizit zu rutschen. Nun sollen diese Versicherungsmittel für eine Aufgabe verwendet werden, die nun korrekterweise aus Steuermitteln zu finanzieren wäre.  Gleichzeitig muss man wissen, dass der früher existierende Bundeszuschuss (aus Steuermitteln) an die Bundesagentur für Arbeit zur Defizitdeckung (und damit eine gesamtgesellschaftliche Beteiligung an den stabilisierenden Aufgaben der Arbeitslosenversicherung über Steuermittel) schon seit geraumer Zeit gestrichen ist, so dass bei einer krisenhaften Zuspitzung der Lage auf dem Arbeitsmarkt die Arbeitslosenversicherung aus eigenen Bordmitteln die Aufgabe zu stemmen hat. Auch wenn hier formal noch Parität besteht zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber – ein Effekt sind dann Leistungsverdichtungen bzw. -kürzungen, die natürlich vor allem bzw. ausschließlich die Versicherten im Falle der (Nicht-)Inanspruchnahme treffen.

Abschließend nur eine prophylaktische Anmerkung zu der an dieser Stelle immer wieder vorgetragenen Kritik, dass die Unterscheidung in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge in der Sozialversicherung in die Irre führt, denn am Ende muss der Arbeitnehmer die sogenannten „Lohnnebenkosten“ immer vollständig selbst zahlen, denn die Arbeitgeber kalkulieren mit den gesamten Arbeitskosten. Ökonomisch ist das richtig und das wird hier überhaupt nicht bezweifelt. Daraus resultiert auf einer anderen Baustelle die berechtigte Forderung, die bestehende Finanzierung der großen sozialen Sicherungssysteme überwiegend aus dem beitragspflichtigen (und dann auch noch durch Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen nach oben gedeckelten) Lohneinkommen zu erweitern und auf breitere Grundlagen zu stellen.

Aber der hier entscheidende Punkt ist: Je mehr Kostenanteile asymmetrisch verteilt werden zuungunsten der Arbeitnehmer und von diesen erst einmal alleine zu tragen sind, um so größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest ein großer Teil der Arbeitnehmer nicht in der Lage sein wird, sich das über entsprechende Lohnsteigerungen wieder „zurückzuholen“ bzw. den Belastungsanstieg wieder zu kompensieren, man denke hier nur an die Tatsache, dass viele Arbeitnehmer gar nicht (mehr) in tarifgebundenen Bereichen arbeiten und auch die Tarifabschlüsse der Gewerkschaften können nicht immer genug herausholen für die Arbeitnehmer. Im Ergebnis sind wir dann bei vielen konfrontiert mit einer weiteren Etappe auf dem Weg der Privatisierung der sozialen Sicherung.