Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort

Da kann man aber auch durcheinander kommen. Noch im September dieses Jahres wurde mit teilweise sehr hemdsärmeligen Überschriften wie Jobsuchende EU-Bürger haben kein Recht auf Sozialhilfe oder Deutschland darf EU-Zuwanderern Sozialhilfe verweigern oder Deutschland darf EU-Zuwanderer von Hartz IV ausschließen über eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) berichtet (es ging um das  Urteil in der Rechtssache C-67/14 Jobcenter Berlin Neukölln / Nazifa, Sonita, Valentina und Valentino Alimanovic vom 15.09.2015).

Und heute wird über mehrere Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) berichtet, die den einen oder anderen wieder verwirren werden: EU-Ausländer haben Anspruch auf Sozialhilfe, meldet die Online-Ausgabe der FAZ dazu. Ja was denn nun? Haben sie nun Anspruch oder nicht? Wie immer, wenn es um Rechtsfragen geht, muss die Antwort a) wohlüberlegt, b) so kompliziert wie nötig und c) differenziert ausfallen – man könnte den letzten Punkt auch unter dem Motto „Es kommt darauf an“ subsumieren. Das BSG selbst versucht uns schon mit der kompakt daherkommenden Überschrift der Pressmitteilung aus dem hohen Haus auf die richtige Interpretationsspur zu setzen: Ausschluss von SGB II-Leistungen für Unionsbürger – Sozialhilfe bei tatsächlicher Aufenthaltsverfestigung. Damit gelingt der Hinweis auf ein tatsächlich tiefsinnig angelegtes Urteil in einer komplexen Frage.

Um den Gehalt der heutigen Entscheidungen wirklich einordnen zu können, muss man einen kurzen Blick zurück werfen. Dann wird klar, was da heute verkündet wurde:

1. Im Jahr 2014 hat sich der EuGH mit dem Fall Dano beschäftigt. Vgl. dazu den Blog-Beitrag Aufatmen bei vielen verbunden mit der Gefahr einer Überbewertung. Der Europäische Gerichtshof und seine Entscheidungen. Diesmal hat man sich einer jungen Rumänin in Leipzig angenommen vom  11. November 2014. Der Schlüsselsatz der damaligen EuGH-Entscheidung lautete: „Nicht erwerbstätige Unionsbürger, die sich allein mit dem Ziel, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen, in einen anderen Mitgliedstaat begeben, können von bestimmten Sozialleistungen ausgeschlossen werden“ (Urteil in der Rechtssache C-333/13 Elisabeta Dano, Florin Dano / Jobcenter Leipzig). Die Besonderheit beim Fall Dano: Es ging um die 25-jährige Rumänin Elisabeta Dano, die mit ihrem fünfjährigen Sohn bei ihrer Schwester in Leipzig wohnt. Die junge Frau lebt bereits seit 2010 in Deutschland, ernsthaft nach Arbeit gesucht hat sie aber wohl nie. Das Jobcenter in Leipzig hat deshalb ihren Antrag auf Hartz IV abgelehnt. Dano wollte das nicht hinnehmen und klagte. Aber auch das Leipziger Sozialgericht stufte Dano als nicht arbeitssuchend ein. Man muss vor diesem Hintergrund darauf hinweisen, dass es um einen Fall ging, in dem die Klägerin offensichtlich eine bestimmte Sozialleistung beziehen möchte, ohne die als Anspruchsvoraussetzung definierte Arbeitssuche erfüllen zu wollen. Von daher war die Entscheidung des EuGH klar und nachvollziehbar.

2. In diesem Jahr musste sich das EuGH erneut mit dem Themenfeld befassen, allerdings hinsichtlich einer anderen Fallkonstellation – der Fall Alimanovic. Vgl. hierzu den Blog-Beitrag Ist das alles kompliziert. Der EuGH über die Zulässigkeit der Nicht-Gewährung von Sozialleistungen für einen Teil der arbeitsuchenden EU-Bürger vom 15. September 2015. Der Fall war dem EuGH vom deutschen BSG höchstselbst zur Entscheidung vorgelegt worden. Das BSG wollte wissen, ob ein Ausschluss von Leistungen wie im Fall Dano auch bei Unionsbürgern zulässig ist, die sich zur Arbeitsuche in einen Aufnahmemitgliedstaat begeben haben und dort schon eine gewisse Zeit gearbeitet haben. Hinzu kommt: Der Fall Alimanovic  fällt genau in eine – nun ja – eigenartige Regelungszone, die man nachvollziehen kann, wenn man sich eine einfache Zahlenfolge merkt: 3-6-12. Anders ausgedrückt: In den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland erhalten EU-Ausländer keine Sozialleistungen – das ist die 3. Grundsätzlich gelten aber für sie die gleichen Regelungen wie für Deutsche – sofern sie mindestens ein Jahr in der Bundesrepublik gearbeitet haben – das ist die 12. Fehlt noch die 6, die sich so erklären lässt: Beträgt die Zeit der Arbeit in Deutschland weniger als 12 Monate, dann entfällt nach sechs Monaten der Anspruch auf Sozialleistungen – das ist die 6. Dann nämlich gilt ein EU-Ausländer prinzipiell nur als arbeitsuchend. Nach deutschem Recht hat bislang kein EU-Ausländer Recht auf Hartz IV, wenn er in Deutschland nach Arbeit sucht. Alles klar? Und was hat nun der EuGH geurteilt? Von deutscher Seite gab es schlimme Befürchtungen im Vorfeld des Urteils, denn der Generalanwalt – dem das Gericht in den meisten Fällen folgt – hatte sich in seinem Plädoyer für ein Einzelfallprüfung ausgesprochen, es sollte also in jedem Fall individuell geprüft werden, wie es mit der tatsächlichen „Verbindung zum Aufnahmemitgliedsstaat“ aussieht. Das wäre natürlich für die Jobcenter der administrative Super-Gau. Aber der EuGH war an dieser Stelle anderer Auffassung: Die Weigerung, Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht in einem Aufnahmemitgliedstaat sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, bestimmte „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ zu gewähren, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ darstellen, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Für das Zeitfenster einer Arbeit von weniger als zwölf Monaten entschied das Gericht, dass der Aufnahmemitgliedstaat jegliche Sozialhilfeleistung verweigern darf. Diese Entscheidung ist bei denen einen sicher mit Erleichterung aufgenommen worden, in der Fachdiskussion gab es aber nachfolgend durchaus auch sehr kritische Bewertungen – vgl. stellvertretend dafür den Blog-Beitrag Der Umbau der europäischen Sozialbürgerschaft: Anmerkungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache Alimanovic von Anuscheh Farahat, Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg sowie die detailreiche Besprechung der EuGH-Entscheidung in dem Artikel Deutsch­land darf mittel­lose EU-Bürger von Sozial­hilfe ausschließen von Constanze Janda.

Jetzt nähern wir uns endlich den heutigen Entscheidungen des BSG. Zum besseren Verständnis dessen, von dem wir regelungstechnisch auszugehen haben, hier noch mal eine Formulierung der bereits erläuterten 3-6-12-Logik:

1. eine Drei-Monats-Frist: In den ersten drei Monaten nach der Einreise müssen die Staaten keine Sozialleistungen zahlen;
2. eine Sechs-Monats-Frist für die Fälle, wo jemand im Einreiseland weniger als zwölf Monate gearbeitet hat, also er oder sie bekommt sechs Monate lang Sozialleistungen, danach aber nicht mehr, wenn bis dahin keine neue Arbeit gefunden wurde, ohne dass er oder sie deswegen ausgewiesen werden darf, sowie
3. eine 12-Monats-Frist, die zu einer weitgehenden Gleichstellung mit den Inländern führt, wenn man länger als ein Jahr ohne Unterbrechungen hier gearbeitet hat.

Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hat heute in drei Urteilen unter Berücksichtigung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums konkretisiert, in welchen Fallgestaltungen Unionsbürger aus den EU-Mitgliedstaaten existenzsichernde Leistungen nach dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) beziehungsweise dem Sozialhilferecht (SGB XII) beanspruchen können. Das BSG weist darauf hin, dass die Entscheidungen im Anschluss an das EuGH-Urteil vom 15. September 2015 (Rs C-67/14 „Alimanovic“) zu sehen sind.

Es ging konkret um drei Fallkonstellation, die in der Terminvorschau 54/15 des BSG genauer dargestellt sind:

Ein griechischer Staatsbürger, der nach einer kurzen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Ende 2011/Anfang 2012 SGB-II-Leistungen auch für die Zeit ab Februar 2013 begehrt. Eine bereits 2008 nach Deutschland zugezogene Familie rumänischer Staatsangehörigkeit. Und drittens erneut der Fall Alimanovic, eine seit langem im Bundesgebiet lebende Mutter mit drei Kindern schwedischer Staatsangehörigkeit.

Und was ist die Quintessenz der heutigen Entscheidungen des BSG? Der kurze Bericht darüber mit der Überschrift BSG: Ausschluss von SGB-II-Leistungen für EU-Bürger – Sozialhilfe bei tatsächlicher Aufenthaltsverfestigung bringt es gut auf den Punkt: SGB II zwar nein, SGB XII aber sehr wohl.

Im Fall des griechischen Staatsangehörigen sind SGB II-Leistungen ausgeschlossen, nicht jedoch Sozialhilfeleistungen in gesetzlicher Höhe an den Kläger. Für die rumänische Familie gilt zwar auch der Ausschluss von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, aber: Wegen ihres verfestigten Aufenthalts in Deutschland hätten sie jedoch Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe. Der Sozialhilfeträger müsse diese Leistungen erbringen. Und das gleiche Muster im Fall Alimanovic: Keine SGB II-Leistungen, aber: Es sei jedoch noch zu prüfen, ob sich die Kläger auf andere Aufenthaltsrechte im Zusammenhang mit der Ausbildung und Integration der Kinder im Bundesgebiet berufen können. Dann würden die SGB XII-Leistungen greifen.

Fazit: Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das „Hartz IV“-System. Es fügt aber die Kategorie des „verfestigten Aufenthalts“ in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist.«

Das wird die Kommunen nicht erfreuen, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII sind – anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen – kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren. Auch nicht unproblematisch ist eine neue Auffächerung des Grundsicherungssystems, denn eigentlich sollen ja alle erwerbsfähigen Menschen über das SGB II-System abgesichert werden. Das SGB XII gilt gerade nicht – im Normalfall – für diese Personen. Nun aber doch, zumindest für eine Teilgruppe der an sich Erwerbsfähigen. Das macht das System nicht wirklich einfacher, ganz im Gegenteil. Aber offensichtlich hat man beim BSG nach einer Bypass-Strategie gesucht mit Blick auf die Absicherung des Existenzminimums angesichts der durch gesetzliche Regelungen wie auch durch die EuGH-Rechtsprechung blockierten SGB II-Lösung, wo die Fälle eigentlich hin gehören. Wir dürfen gespannt sein, welche politischen Diskussionen sich nach diese Entscheidungen des BSG entwickeln werden.

Foto: © Stefan Sell

Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen – gedulden

Ein gewichtiger Teil der Berichterstattung dreht sich überwiegend um „Arbeitslose“ und dann auch noch in Gestalt ihrer absoluten Untergrenze, also der offiziell registrierten Arbeitslosen, deren Größenordnung einmal monatlich von der Bundesarbeitslosenverwaltung in Nürnberg verkündet wird. Da erfährt man dann: »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von September auf Oktober um 59.000 auf 2.649.000 gesunken.« Die meisten Journalisten brechen an dieser Stelle ab und tragen die tatsächlich quantitativ erfreulich rückläufige Zahl in die Öffentlichkeit. Wenn sie doch wenigstens die schon „richtigere“ Zahl nennen würden, die von der BA ebenfalls publiziert wird: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt … belief sich … im Oktober 2015 auf 3.476.000 Personen.«

Das sind immerhin 827.000 Menschen mehr als die Zahl, die dann über die Presse verbreitet wird – und arbeitslos sind die nun wirklich auch. Aber es geht in diesem Beitrag gar nicht um die Zahl der Arbeitslosen, sondern um eine andere, die 70% der ausgewiesenen „offiziellen“ Arbeitslosen beinhaltet: um die Zahl der Hartz IV-Empfänger. Und die liegt derzeit bei fast 6,1 Millionen Menschen. Das ist nun eine ganze andere „Gewichtsklasse“ und vielen – auch in den Medien – ist gar nicht bewusst, dass es so viele sind, die auf Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II) angewiesen sind. Immerhin zehn Prozent der Menschen in unserem Land sind auf Hartz IV-Leistungen existenziell angewiesen. Und die tragenden Säulen dieser Leistungen sind zum einen der „Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts“ – das sind die derzeit noch 399 Euro pro Monat für einen Alleinstehenden – sowie die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Für Wohnkosten bekommt ein Alleinstehender derzeit im Durchschnitt gut 300 Euro. Am 1. Januar 2016 wird der Regelsatz um 5 Euro auf 404 Euro erhöht. Die jährlich vorzunehmende Dynamisierung hängt zu 70 Prozent von der Preisentwicklung und zu 30 Prozent von der Lohnentwicklung ab.

Nun gibt es allerdings einen interessanten Passus im § 28 SGB XII „Ermittlung der Regelbedarfe“: »Liegen die Ergebnisse einer bundesweiten neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vor, wird die Höhe der Regelbedarfe in einem Bundesgesetz neu ermittelt.« Ganz offensichtlich geht es hier um die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Man muss wissen: Die EVS wird alle fünf Jahre durchgeführt. 60.000 Haushalte führen für das Statistische Bundesamt Haushaltsbücher. Drei Monate lang halten sie penibel fest, wofür sie Geld ausgeben. Etwa 200 Positionen sind in  der EVS vorgesehen, vom Waschmittel über die Telefongebühren bis zu Essen und Trinken.

Derzeit beruhen die Hartz-IV-Sätze noch auf der EVS von 2008. Wer rechnen kann, ist bekanntlich klar im Vorteil und wird sofort erkannt haben, dass bei fünfjährigen Abständen 2013 eine neue EVS-Erhebung stattgefunden haben muss. So ist es auch. dabei wurden umfangreiche Daten erhoben, die von den Bundesstatistikern natürlich erst ausgewertet werden mussten. Das aber ist nunmehr geschehen, die Ergebnisse liegen vor. Also könnte man jetzt entsprechende gesetzgeberische Schlussfolgerungen ziehen. Aber in der bereits zitierten Vorschrift des § 28 SGB XII steht nicht, wie schnell das zu passieren hat. Insofern überrascht dann diese Feststellung von Thomas Öchsner in seinem Artikel Hartz IV ist zu niedrig – Erhöhung bleibt trotzdem aus nicht wirklich:

»Hartz-IV-Bezieher sollten sich jedoch nicht zu früh freuen: Mit einer Erhöhung der Regelsätze aufgrund der neuen Daten können sie erst Anfang 2017 rechnen.«

Natürlich liegt es angesichts der Haushaltswirksamkeit einer Erhöhung der Regelsätze im Interesse der Regierung, diese auf der Zeitachse zu schieben, das bedeutet Milliarden-Einsparungen. Von daher verwundert die Auskunft des Bundesarbeitsministeriums nicht, die Öchsner in seinem Artikel zitiert:

»Zunächst werde man die Ergebnisse der EVS prüfen und bei den Statistikern neue Sonderauswertungen in Auftrag geben, sagte eine Sprecherin des Ministeriums. Erst danach könne die Arbeit am Gesetz beginnen, sodass die neuen Regelbedarfshöhen auf Grund der neuen Haushalts-Stichprobe „zum 1. Januar 2017 in Kraft treten und damit im derzeitigen Anpassungsturnus liegen“. Auf Grund der „zeitlichen Abläufe“ sei es nicht möglich, den Termin auf den 1. Juli 2016 vorzuziehen. Auch sei nicht daran gedacht, die neuen Regelsätze rückwirkend gelten zu lassen.«

Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen wird in dem Artikel zitiert mit der Bewertung, dass das ein Skandal sei. So seien „die Leistungen nachweislich zu niedrig, um sich ausgewogen zu ernähren, die tatsächlichen Stromkosten zahlen oder sich eine Waschmaschine kaufen zu können“.

Offensichtlich setzt man hier auf Aussitzen. Dabei hatte sogar das Bundesverfassungsgericht in seinem an sich regierungsfreundlichen Urteil  aus dem Juli 2014 – BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13) – kritisch angemerkt:
»Komme es wie zum Beispiel beim Strom zu außergewöhnlichen Preissteigerungen bei einer derart gewichtigen Ausgabeposition, müsse der Gesetzgeber dies zeitnah abbilden und den Stromkostenanteil in den Regelsätzen erhöhen.«

Auch die damalige Entscheidung nimmt sogar explizit Bezug auf die EVS 2013, denn in der Pressemitteilung Sozialrechtliche Regelbedarfsleistungen derzeit noch verfassungsgemäß zu dem Urteil heißt es:

»Soweit die tatsächliche Deckung existenzieller Bedarfe in Einzelpunkten zweifelhaft ist, hat der Gesetzgeber eine tragfähige Bemessung der Regelbedarfe bei ihrer anstehenden Neuermittlung auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 sicherzustellen.«

Der in diesem Beitrag bereits zitierte Martin Künkler hatte bereits im September nach der Ankündigung der Mini-Erhöhung der Regelsätze zum 1. Januar 2016 in einem Interview ausgeführt:

»Die Bundesregierung will den Hartz-IV-Satz der Preis- und Lohnentwicklung anpassen. Sie ist aber in der Pflicht, die Hartz-IV-Leistung grundsätzlich neu zu ermitteln und deutlich zu erhöhen …  Nahles kommt ihren gesetzlichen Pflichten nicht nach: Hartz-IV-Beträge sind alle fünf Jahre aufgrund des Ausgabeverhaltens unterer Einkommensgruppen festzusetzen, sobald die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) vorliegen.«

Der Handlungsbedarf sei offensichtlich, so Künkler:

»Die Stromkosten sind seit 2008 um 38 Prozent in die Höhe geschossen, viele können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen …  Anderes Beispiel: Für ein 13jähriges Kind sind pro Tag für Essen und Trinken 3,53 Euro vorgesehen. Das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund hat festgestellt: Wer das ansatzweise hinbekommen will, müsste täglich vier Discounter abklappern, um jeweils die günstigsten Angebote herauszupicken. Hartz-IV-Bezieher als Schnäppchenjäger – aber sollen sie nicht eigentlich Arbeit suchen? Daran ist nicht zu denken, zumal im ländlichen Raum, wenn man kein Auto hat! Die Mobilität ist dort ein Problem wie auch in Großstädten. Der Gesetzgeber hat bei der letzten Festsetzung die Kosten dafür auf üble Weise kleingerechnet; zum Maßstab hat er Personen in Stadtzentren erklärt, die ihre Wege meist zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen.«

Natürlich wurde er auch gefragt, in welcher Größenordnung sich ein „richtig“ bemessener Regelsatz bewegen müsste: Um die 500 Euro, so die Antwort angesichts der vielen bestehenden Mängel.

Aber bereits die embryonal daherkommende Erhöhung um fünf Euro hat auf der anderen Seite wütende Reaktionen hervorgerufen. Ein »Anreiz zur Nichtarbeit« sei die Erhöhung, wird Michael Eilfort, Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft, in einem Artikel zitiert. Und Christian Freiherr von Stetten, CDU-Bundestagsabgeordneter sowie Präsidiumsmitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung von CDU und CSU, wittert gar ein »Geschäftsmodell Hartz IV«. Es sei »kein Wunder«, dass »angebotene Arbeit konsequent abgelehnt« werde, so Susan Bonnet in ihrem Artikel Neoliberale Legenden. Minierhöhung von Hartz IV.

Und sie verweist kontrastierend darauf, um welche Beträge es hier in der Realität geht:

»Laut Regelsatztabelle darf ein Alleinstehender derzeit für 142 Euro monatlich essen und trinken, ein Jugendlicher für 107 Euro, für ein Kleinkind müssen 83 Euro reichen. Für Strom und Wohnungsreparaturen sind nur 33,36 Euro vorgesehen, für die Pflege eines Babys stehen Eltern inklusive Windeln ganze zehn Euro zur Verfügung. Und genau 1,01 Euro monatlich sollen für häusliche Bildung eines Schulkindes reichen.«

Vor kurzem gab es einen Vorstoß der Linken im Bundestag für ein höhere Existenzminimum. Ihr Antrag »für ein menschenwürdiges Existenz- und Teilhabeminimum« fand keine Resonanz bei den Regierungsfraktionen. In einem Artikel kann man dazu lesen:

»Kaum wurde der Tagesordnungspunkt aufgerufen, verließen Dutzende Abgeordnete der Koalition den Plenarsaal. Linke-Vorsitzende Katja Kipping forderte eine Kommission, die das Existenzminimum neu berechnen und dafür ein Verfahren entwickeln solle, das die Armutsrisikogrenze und das »Warenkorbmodell« berücksichtige.«

Das zumindest wäre mal zu diskutieren. Statt dessen wird man mit so was konfrontiert: »Stephan Stracke (CSU) befand, Kippings Forderung falle »aus der Zeit«. Dann spielte er Arme gegen Arme aus: Das Land sei voller Flüchtlinge, da sei an eine Erhöhung von Hartz IV nicht zu denken.«

Ist das alles kompliziert. Der EuGH über die Zulässigkeit der Nicht-Gewährung von Sozialleistungen für einen Teil der arbeitsuchenden EU-Bürger

Man kann in diesen Tagen so gut wie kein anderes Thema aufrufen als die vielen Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind oder es derzeit versuchen, was angesichts der um sich greifenden Abschottungsversuche der Aufnahmeländer zunehmend schwieriger wird. Da werden Staatsgrenzen geöffnet und nachdem man feststellt, dass dies eine erhebliche Sogwirkung entfaltet, vollzieht man innerhalb weniger Tage eine veritable Rolle rückwärts und führt gar wieder Grenzkontrollen ein, wie das Deutschland gerade der staunenden Öffentlichkeit vorführt. Da errichten die Ungarn einen Zaun an der Grenzen nach Serbien und behandeln die Flüchtlinge, die trotzdem ihr Staatsterritorium betreten, als Straftäter. Und die Menschen, die noch auf dem Weg sind, müssen (und werden) andere Routen finden, um in die Nähe der von ihnen begehrten Länder zu gelangen.

Mit Blick auf die Flüchtlinge, die es geschafft haben – und wir sprechen hier von Hunderttausenden -, wird sich in der vor uns liegenden Zeit die Aufgabe stellen, sie unterzubringen und zu versorgen sowie die Kinder in das Bildungssystem und die Älteren in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Natürlich wird das viel Geld kosten und dann wird auch wieder sortiert werden zwischen denen, die man nicht abweisen kann, weil sie „berechtigt“ hier sind beispielsweise als Kriegsflüchtlinge oder aus anderen anerkannten Asylgründen, während der Blick auf die so genannten „Armuts-“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ ein ganz anderer sein wird und auch heute schon ist. Denen wird unterstellt, sie wollen „lediglich“ ein besseres Leben erreichen, nicht selten auch durch eine Zuwanderung in „unsere“ Sozialsysteme. Wobei die Abgrenzung wenn überhaupt dann nur auf dem Papier einfach daherkommt.

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Diesseits und jenseits der Grundsicherung im Alter: Die Legende von der massenhaften Rentner-Armut. Das ist (nicht) richtig

Das Statistische Bundesamt hat neue Zahlen zur  Inanspruchnahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung veröffentlicht: »Neben den rund 512.000 Empfängerinnen und Empfängern von Grundsicherung im Rentenalter gab es im März 2015 deutschlandweit rund 483.000 Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung wegen dauerhaft voller Erwerbsminderung«, berichten uns die Statistiker. Hier interessiert besonders der Blick auf die älteren Menschen. Immer mehr Menschen sind auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger dieser Leistung bei Bedürftigkeit ist auf über eine halbe Million Betroffene am Jahresende 2014 angestiegen. 61 Prozent der Bezieher sind Frauen. Am stärksten betroffen vom Grundsicherungsbezug sind Frauen im Rentenalter in Westdeutschland – eine Folge der Konstruktionsprinzipien der klassischen gesetzlichen Rentenversicherung mit ihrer Orientierung am Modell einer möglichst lange und ohne Unterbrechungen absolvierten Erwerbsarbeit mit Beitragszahlungen und die in Vollzeit. Bei vielen westdeutschen Frauen „rächt“ sich aus dieser Systemlogik der in früheren Jahren übliche sehr lange Ausstieg aus der Erwerbsarbeit und wenn dann wieder eine aufgenommen wurde, dann zumeist in Teilzeit oder gar geringfügiger Beschäftigung, oft gekoppelt mit einer sehr niedrigen Vergütung mit entsprechend niedrigen bis gar keinen (bei der geringfügigen Beschäftigung) Rentenansprüchen.

Die Abbildung verdeutlicht, dass in den Jahren seit Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 die Zahl der Empfänger/innen angestiegen ist auf nunmehr eine halbe Million Menschen. Die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes weist zwar für März 2015 als aktuelle Zahl  511.915 Menschen über 65 Jahre im Grundsicherungsbezug aus, ein Wert, der dem vom Ende 2014 entspricht, der in der Abbildung als letzter Wert ausgewiesen wurde – allerdings erwähnen die Statistiker, dass die aktuelle Zahl für März 2015 mit einem Erhebungsfehler verunreinigt ist:

»Die Grundsicherungsstatistik nach dem SGB XII wurde mit dem 1. Berichtsquartal 2015 neu konzipiert. Die Zahl der Empfänger/innen bezieht sich dabei immer auf den letzten Monat des Berichtsquartals. Bei der erstmaligen Erhebung kam es zur Untererfassung in verschiedenen Ländern. Für Deutschland insgesamt beträgt die Untererfassung im März 2015 schätzungsweise 10 000 bis 15 000 Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung gemäß SGB XII, der größte Teil davon in Berlin (schätzungsweise 10 000 Leistungsberechtigte).«

Interessant ist vor dem Hintergrund der seit Jahren ansteigenden Zahl an Grundsicherungsempfänger/innen im Alter dann der Artikel Die Legende von der massenhaften Rentner-Armut von Karl Doemens. Das sitzt erst einmal. Offensichtlich hat sich Herr Doemens aufgeregt. Dazu erfahren wir von ihm:

»Auf die Empörungswelle ist Verlass. Kaum lagen am Donnerstag die neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes über die Entwicklung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vor, meldeten sich die üblichen Bedenkenträger zu Wort: „Es rollt eine Lawine der Altersarmut auf uns zu“, schlug Ulrich Schneider, der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, routiniert Alarm. Und Ulrike Mascher, die Chefin des Sozialverbandes SdK, sprach von „alarmierenden“ Nachrichten für die Senioren. Mit diesem Tenor griffen auch die Nachrichtenagenturen die Meldung auf. Spiegel Online und viele Tageszeitungen am Freitag folgten. „Immer mehr alte Menschen auf Grundsicherung angewiesen“, lautet der beunruhigende Tenor.«

Doemens meint sicher nicht SdK, wie im Artikel notiert, sondern eigentlich den VdK. Der hat am gleichen Tag eine Pressemitteilung veröffentlicht unter der Überschrift VdK: Armut nimmt weiter zu.  Genau hier setzt Doemens Widerspruch an. Er bezieht sich dabei auf den vom Statistischen Bundesamt ebenfalls ausgewiesenen relativen Wert, also den Anteil der Bezieher staatlicher Hilfe an der Gesamtheit der Senioren:

»2013 betrug er 3,0 Prozent. 2014 waren es 2,9 Prozent. Der Anteil der Armen ist also nicht etwa gestiegen, sondern leicht gesunken! … Den Rentnern geht es im Schnitt unverändert – vielleicht sogar ein bisschen besser.«

Nehmt das, ihr „Armutslobbyisten“! Wobei Doemens selbst einen anderen Schmäh-Begriff präferiert: „Senioren-Lobby“. Aber seine Argumentation ist erst einmal durchaus gewichtig:

»… entblößt  eine weitere Zahl endgültig die Einseitigkeit der Senioren-Lobby. Niemand hat sich nämlich die Mühe gemacht, die Quote der Senioren-Stütze-Empfänger mit dem Anteil  der Hilfsbedürftigen im Rest der Gesellschaft zu vergleichen. Auch das kann man auf der Homepage des Statistischen Bundesamtes leicht tun: „7,38 Millionen Empfänger von Mindestsicherung“, meldete das Amt im Dezember 2014. Demnach beziehen 9,1 Prozent der Gesamtbevölkerung Hartz IV, Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter oder Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder der Kriegsopferfürsorge. Alleine sechs Millionen Frauen und Männer sind auf Hartz IV und eine weitere Million auf Sozialhilfe angewiesen. Mit anderen Worten: Im Schnitt benötigt jeder elfte Deutsche staatliche Unterstützung. Bei den Senioren ist es jeder Vierunddreißigste.«

Sein Punkt: »2,9 Prozent bei den Senioren, aber 9,1 Prozent der Gesamtbevölkerung – das lässt vermuten, wo die wirklichen Probleme liegen.«

Ihm ist zuzustimmen, dass diese Daten prima facie offensichtlich nicht geeignet sind, Altersarmut als irgendwie relevantes Problem herauszustellen, insofern könnte man sich seinem Vorwurf, hier werde seitens der Sozialverbände völlig überzogen, anschließend.

Aber wie immer lohnt es sich, vorher noch einmal genauer hinzuschauen.

Zum einen wäre das Problem der „verdeckten Armut“ zu berücksichtigen (vgl. dazu bereits meinen Blog-Beitrag aus dem November 2014: Sie wächst und wird weiter wachsen – die Altersarmut. Neue bedrückende Zahlen am Anfang einer bitteren Wegstrecke). Die Verteilungsforscherin Irene Becker hat dazu 2012 einen Beitrag publiziert, in dem sie die Ergebnisse einer Untersuchung vorgestellt hat, die der Frage nachgegangen ist, wie sich die verdeckte Armut unter Älteren seit der 2003 erfolgten Einführung der „Grundsicherung im Alter“ entwickelt hat (vgl. Irene Becker: Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter. In: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 2, 2012, S. 123-148). Die Ergebnisse ihrer Studie bezogen sich auf das Jahr 2007: Von gut einer Million Menschen ab 65 Jahren, denen damals Grundsicherung zustand, bezogen nur 340.000 tatsächlich Leistungen. Die „Quote der Nichtinanspruchnahme“, so der technische Begriff für die Dunkelziffer der Armut, betrug 68 Prozent.

Nun haben sich die Verhältnisse – möglicherweise – seit damals geändert. Wir wissen darüber aber nichts genaues und es ist durchaus plausibel, immer noch von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer auszugehen, gerade bei den älteren Menschen, bei denen beispielsweise Scham-Faktoren hinsichtlich der Inanspruchnahme einer bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Hinzuweisen wäre auch auf den Tatbestand, dass die EInkommens- und vor allem die Vermögensanrechnung im SGB XII, wo die Grundsicherung im Alter normiert ist, restriktiver erfolgt als im SGB II, also im „normalen“ Hartz IV-System.

Auf alle Fälle sollte nicht vergessen werden, dass die – auch jetzt wieder – in der öffentlichen Wahrnehmung stehende Zahl an Grundsicherungsempfängern bei den Älteren nur als eine Untergrenze für das weite Feld der „Altersarmut“ anzusehen ist.

Dazu muss man einen vertiefenden Blick werfen auf das, was man eigentlich unter „Altersarmut“ versteht (vgl. beispielsweise die Infoplattform „Altersarmut“ des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mit einer hilfreichen Materialsammlung zu diesem Themenfeld).
Ein Zusammenfassung der Diskussion über die Messung von „Altersarmut“ findet sich auch in der von Johannes Geyer vom DIW verfassten und im April 2015 veröffentlichten Publikation Grundsicherungsbezug und Armutsrisikoquote als Indikatoren von Altersarmut. Darin finden sich interessante Hinweise.

Ein zentrales Argument von Doemens ist ja der Hinweis auf die mit 2,9 Prozent deutlich niedrigere Quote an Grundsicherungsempfänger/innen als die 9,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Hier erweitert Geyer den Horizont und kommt zu einer interessanten Annäherung:

»Betrachtet man die Armutsrisikoquote – nach dieser gelten Personen als armutsgefährdet, wenn ihr bedarfsgewichtetes verfügbares Einkommen weniger als 60% des Medianeinkommens beträgt, mehr dazu unten – ergibt sich auf der Basis der Europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) für das Jahr 2013, dass 14,9% aller Personen ab 65 Jahren als armutsgefährdet galten, in der jüngeren Bevölkerung lag der Wert mit 16,4% nur unwesentlich höher. Bei den Älteren liegt die Armutsrisikoquote also fünfmal so hoch wie die Grundsicherungsquote.«

Fazit: Man sollte sich nicht darauf begrenzen (lassen), die offizielle Zahl und Quote der Empfänger/innen von Grundsicherung im Alter nach dem SGB XII als Indikator für „Altersarmut“ zu verwenden, dass verkürzt die tatsächlich davon betroffene Grundgesamtheit ganz erheblich.
Vor allem sollt man sich aber immer auch darüber bewusst sein, dass zwar derzeit auf der Ebene der Zahlen kein gravierendes Problem mit (Einkommens)Altersarmut bestehen mag, sich dies aber ohne tiefgreifende Reformen des sozialen Sicherungssystems in den vor uns liegenden Jahren mit Sicherheit erheblich ändern wird, denn heute profitieren wir immer noch von der – ansonsten von den interessierten Kreisen gerne geschmähten – gesetzlichen Rentenversicherung und ihrem Erfolg, was die Absicherung angeht. Aber das lässt sich aus der Vergangenheit eben nicht einfach fortschreiben in die Zukunft. Denn, so Johannes Geyer in der 2014 veröffentlichten Publikation Zukünftige Altersarmut:

»Das Einkommen im Alter hängt von der Erwerbshistorie, den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und vom Haushaltskontext ab. Die langfristige Abschätzung von Einkommensrisiken im Alter ist schwierig. Bereits heute zeichnen sich allerdings bestimmte Risikogruppen ab. Langzeitarbeitslosigkeit oder Niedriglohnbeschäftigung, die schon in der Erwerbsphase ein Armutsrisiko darstellen, wirken kumuliert im Ruhestand fort. Zugleich werden die Einkommen aus der GRV nicht mehr ausreichen, um das Einkommensniveau im Ruhestand zu erhalten.« (S. 8)

»Millionen heutiger und künftiger Rentnerinnen und Rentner bezahlen für den zur Jahrhundertwende vorgenommenen Paradigmenwechsel in der Alterssicherung mit einem stetig sinkenden Versorgungsniveau«, so der ausgewiesene Rentenexperte Johannes Steffen im November des vergangenen Jahres vor dem Hintergrund des damals veröffentlichten Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung (»Drei-Säulen-Modell« der Alterssicherung ist gescheitert. Trotz geförderter Privatvorsorge keine Lebensstandardsicherung).

Ceteris paribus – also ohne fundamentale Reformen der sozialen Sicherungssysteme – werden wir in den vor uns liegenden Jahren noch eine Rentner-Armut zu sehen bekommen, deren Zwangsläufigkeit angesichts der politisch gewollten und gemachten Ausrichtung der Systeme die „Jetzt-Betrachter“ scheinbar nicht erkennen können (oder wollen). Ceteris paribus bedeutet bekanntlich „unter sonst gleich bleibenden Bedingungen“. Das nun wieder verweist darauf, dass wir es mit Sozialpolitik zu tun haben und die ist nun mal nicht „alternativlos“, wie manche gerne behaupten (müssen), um vom eigenen Nichtstun abzulenken. Sondern politische Entscheidungen können so oder anders ausfallen. Diese grundsätzliche Option lässt hoffen, dass wir dann nicht das zu sehen bekommen, was c.p. ansonsten zu erwarten wäre.

Hartz IV-Anwälte dürfen umsonst arbeiten

Immer wieder wird von den zahlreichen Klagen vor den
Sozialgerichten berichtet, die das Hartz IV-System betreffen. Neben den vielen
erfolgreichen Klagen gegen die Jobcenter und der damit verbundenen Rolle der
Anwälte, den Betroffenen zu ihrem Recht zu verhelfen, gab es auch an der einen
oder anderen Stelle in den Medien Hinweise darauf, dass es findige Anwälte
geben würde, die ein Geschäftsmodell mit Hartz IV-Empfängern aufgebaut haben
und die Jobcenter mit teilweise fragwürdigsten Klagen überziehen (vgl. beispielsweise
den Beitrag Gierige
Anwälte – Das Geschäft mit Hartz IV
im ARD-Wirtschaftsmagazin Plusminus am
25.02.2015: Einige Anwälte, so die These des Beitrags, überziehen die Jobcenter
mit einer Flut von Widersprüchen und Klagen. Finanziell gewinnt der Anwalt
immer).

Eine neue und abweichende Variante lernen wir durch den
folgenden Artikel kennen: Gut
verteidigt, trotzdem pleite
, so hat Antje Lang-Lendorff ihren Beitrag
überschrieben: »Manche Jobcenter zahlen Anwälten von Arbeitslosen kein Honorar
mehr, sondern verrechnen es mit deren Schulden. Anwaltskammer sieht Schutz von
Armen in Gefahr.«

Sie beginnt mit einem konkreten Fall, der die Anwältin
Aglaja Nollmann betrifft:

»Das Jobcenter war der Ansicht, dass ihr Mandant zu viel
Geld ausgezahlt bekommen habe, und verlangte es zurück. Die Anwältin für
Sozialrecht legte Widerspruch ein – und bekam recht. Trotzdem erhält sie für
ihre Leistung nun kein Honorar. Rund 800 Euro, die ihr das Jobcenter hätte
erstatten sollen, seien mit den Schulden ihres Mandanten verrechnet worden,
erzählt sie. Das Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg habe dieses Honorar zwar
anerkannt. „Es hat mir aber auch geschrieben, dass ich dieses Geld nicht
kriege.“«

Auch andere im Sozialrecht tätige Anwälte bestätigen eine
solche Vorgehensweise. Wie aber kann das sein?

»In einem Praxishandbuch der Bundesagentur für Arbeit wird
darauf hingewiesen, dass nicht der Anwalt, sondern der Kläger – also der
Arbeitslose – Anspruch auf Kostenerstattung habe. Und weiter: „Vor jeder
Auszahlung von zu erstattenden Kosten (…) ist zu prüfen, ob gegen den Kostengläubiger
Forderungen seitens des Jobcenters bestehen, die aufgerechnet werden können.“
Im Klartext heißt das: Wenn Arbeitslose dem Jobcenter Geld schulden, ist es
gewünscht, dass das Anwaltshonorar mit diesen Schulden verrechnet wird. Die
Anwälte gehen dann leer aus.«

Das kann natürlich dazu führen, dass
Grundsicherungsempfänger Schwierigkeiten bekommen können, überhaupt einen
Rechtsbeistand zu finden, wenn der damit rechnen muss, nicht auf seine Kosten
zu kommen.

Für Rechtsanwälte werde es immer schwerer, den sozial
Schwachen einen wirkungsvollen Zugang zum Recht zu gewährleisten, so Marcus
Mollnau, Präsident der Rechtsanwaltskammer Berlin. Die Anwaltskammer setze sich
dafür ein, „die gesetzlichen Regelungen zu ändern und ein Aufrechnungsverbot zu
verankern“.
Wenn man sich das klar macht – das hat schon was: Der
Mandant eines Anwalts wird (teil)entschuldet auf Kosten des erfolgreichen
Anwalts und zugunsten der unterlegenen Partei, die aber dem Mandaten vorher
einen Kredit gewährt hat.
Und das Problem der Verschuldung von Hartz IV-Empfänger ist
nicht irgendein Randproblem. Ende April 2015 konnte man beispielsweise lesen: Langzeitarbeitslose
brauchen häufiger Kredite
.

»Wenn das Arbeitslosengeld II, Hartz IV genannt, nicht
reicht, geraten Langzeitarbeitslose schnell in eine Abwärtsspirale.
Zehntausende sind jeden Monat auf zusätzliche Darlehen für Waschmaschine,
Kühlschrank, Kleidung oder andere Dinge angewiesen. Im vergangenen Jahr
erkannten die Jobcenter pro Monat im Schnitt bei rund 18.700 Hartz-IV-Beziehern
einen Anspruch auf ein solches Darlehen an. Das geht aus einer Antwort der
Bundesagentur für Arbeit auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten
Sabine Zimmermann hervor … Im Vergleich zum Jahr 2013 mit im Schnitt rund
17.800 Darlehen pro Monat ist die Zahl 2014 um mehr als fünf Prozent gestiegen.
Im Jahr 2010 waren es sogar nur 15.500 Kredite pro Monat – seither ist die Zahl
demnach um knapp 21 Prozent gestiegen.«