In wenigen Tagen, zum Jahresanfang 2016, wird „Hartz IV“ erhöht – bei einer alleinstehenden Person von derzeit noch 399 Euro um fünf Euro auf 404 Euro. Aber damit ist nur ein Teil dessen gemeint, was unter „Hartz IV-Leistungen“ zu subsumieren ist. Der Betrag in der genannten Höhe ist der „Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts“ nach § 20 SGB II, daneben gibt es für bestimmte Fallkonstellationen noch einige wenige Mehrbedarfe (z.B. für Alleinerziehende) und als weiterer großer Leistungsbereich neben dem Regelsatz gibt es dann noch die Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung. Der § 22 SGB II präzisiert bzw. begrenzt den letzten Punkt: „Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.“ Und da fängt der Ärger an, denn es handelt sich bei der Formulierung „angemessen“ um einen der im Sozialrecht weit verbreiteten unbestimmten Rechtsbegriffe, deren Auslegung und Infragestellung Lohn und Brot für einen ganzen Zweig der Juristerei sicherzustellen vermag. Aber für die Betroffenen hat das alles ganz handfeste Konsequenzen: »Sparen auf Kosten der Ärmsten: Im vergangenen Jahr versagten Jobcenter Bedürftigen fast 800 Millionen Euro Sozialleistungen. 620 Millionen davon entfielen auf nicht anerkannte Wohnkosten. Im Schnitt musste damit jede der 3,26 Millionen »Bedarfsgemeinschaften«, also Familien, die Hartz IV beziehen, 200 Euro Miete aus dem Regelsatz zuzahlen«, so Christina Müller in ihrem Artikel Zu wenig zum Leben.
Im Frühjahr 2015 wurde in diesem Blog über eine Studie von Andrej Holm, Laura Berner und Inga Jensen aus Berlin berichtet, die überschrieben ist mit Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems. Darin findet man dann so einen Passus: »Die sogenannten „Bemessungsgrenzen der Kosten der Unterkunft“ der Jobcenter halten mit den steigenden Mieten in der Bundeshauptstadt nicht mehr mit, so dass Betroffene die Differenz entweder aus eigener Tasche zahlen müssen oder dem Vermieter schuldig bleiben.« Dass Mietschulden entstehen, hängt im Fall von Transferleistungsbeziehern nicht nur, aber eben auch mit den Bemessungsgrenzen zusammen. Die vom Amt übernommene Höchstmiete steht in keinem Verhältnis zu den Mietentwicklungen. Billigere Ausweichwohnungen sind eine Utopie. Die Stadtforscher sprechen daher auch von einer »Ko-Produktion der Verdrängung durch die Jobcenter«, so Josephine Schulz in ihrem Artikel Hauptstadt der Wohnungsnot.
Ein weiteres Beispiel beschreibt Jörn Wegner in seinem Artikel Hartz IV: Wohnungen unbezahlbar, in diesem Fall aus dem ostdeutschen Sachsen-Anhalt: »Niedrige Höchstwerte bei den Mietkosten erschweren die Wohnungssuche für Hartz-IV-Beziehende in Wernigerode.« Zahlreiche Hartz IV-Bezieher müssen aufgrund der niedrigen übernahmefähigen Mietkosten im Zusammenspiel mit der Tatsache, dass man zugleich aber auch keinen billigeren Wohnraum finden kann, die Differenzbeträge aus dem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts decken, der an sich schon mehr als knapp kalkuliert ist, aber dafür nun gar keinen Spielraum enthält.
Interessant am Beispiel Wernigerode:
»Wie teuer die Wohnung eines Hartz-IV-Empfängers sein darf, regelt ein sogenanntes Schlüssiges Konzept. Im Harzkreis und in anderen Kommunen hat dies das Hamburger Unternehmen Analyse und Konzepte (A+K) erstellt. Doch das Unternehmen ist bereits mit vielen seiner Konzepte vor den Sozialgerichten gescheitert – falsch ermittelt seien die Werte und daher viel zu niedrig angesetzt.«
Die in ganz Deutschland von Jobcentern in Anspruch genommene Arbeit dieses Unternehmens wird heftig kritisiert, vgl. dazu beispielsweise nur den Beitrag Keine schlüssigen Konzepte durch „Analyse und Konzepte“ von Monika Sehmsdorf aus dem Juni dieses Jahres.
Man kann dem Artikel von Jörn Wegner zur Situation in Sachsen-Anhalt gut entnehmen, wie man die Mieten nach unten rechnen kann, wenn man denn will bzw. der Auftraggeber das möchte. Die Vorgehensweise von A+K entspreche nicht den Kriterien, die das Bundessozialgericht für schlüssige Konzepte vorgegeben hat:
»Eines der Hauptprobleme ist dabei die Art und Weise, wie der Bedarf an Wohnungen ermittelt wird. Dabei wird untersucht, ob für einen festgesetzten Mietpreis tatsächlich ausreichend Wohnungen vorhanden sind. In die Rechnung müssen Bestandsmieten und die in der Regel höheren Angebotsmieten mit eingerechnet werden. Christian Linde, Vorstand der Wernigeröder Wohnungsbaugenossenschaft (WWG), berichtet, wie A+K vorgegangen ist. Das Unternehmen habe die Mieten sämtlicher Wohnungen gesammelt. Der überwiegende Teil der WWG-Wohnungen ist vermietet, teilweise seit vielen Jahren. In alten Mietverträgen fänden sich noch Quadratmeterpreise von drei Euro. Nach einer Sanierung liege die Angebotsmiete aber bei etwa fünf Euro. „So rechnen sie die Mieten nach unten“, sagt Linde. Die A+K-Erhebung hat auf diese Weise einen Durchschnittspreis von etwa 4,10 Euro/nettokalt für den Wernigeröder Wohnungsmarkt errechnet, einen Euro unter den vergleichsweise niedrigen Angebotsmieten der WWG.«
Das nun ist so offensichtlich fehlerbehaftet, dass Betroffene sicher große Chancen haben, vor dem Sozialgericht eine Korrektur zu erreichen. So ist es in der Praxis auch – wenn sie denn klagen. Und hier werden wir zugleich Zeuge eines nur perfide zu nennenden Systems:
Trotz der vielen abschlägigen Gerichtsurteile erstellt A+K weiterhin Miettabellen für zahlreiche Kommunen – was ja eigentlich keinen Sinn macht, wenn man die Rechtsprechung berücksichtigen würde, die ja auch für andere Kommunen nicht unbekannt ist. Warum greifen dann doch aber so viele auf die umstrittene und fehlerverseuchte Methode zurück? Das sei Berechnung, wird der Fachanwalt für Sozialrecht Michael Loewy von Jörn Wegner zitiert. „Von zehn Betroffenen klagt einer, vielleicht zwei.“ Am Ende würden sich auch rechtswidrige Konzepte für die Kommunen lohnen. Hinzu kämen lange Verfahrenszeiten von mehreren Jahren. Wird ein Konzept dann für rechtswidrig und nicht anwendbar erklärt, werde einfach das nächste erstellt, so Loewy.
Wie erfolgreich der Klageweg – dessen Beschreiten dann an anderer Stelle wieder in den Medien als ungeheuerliche Klageflut seitens der Leistungsbezieher aufgegriffen wird – ist, verdeutlicht dieser Passus: »Bei erfolgreicher Klage kommt die Wohngeldtabelle zur Anwendung. Ein Beispiel: Die Koba gewährt für zwei Personen in Wernigerode maximal 309 Euro, laut Wohngeldtabelle wären 418 Euro angemessen, jeweils plus Heizkosten.« Wohlgemerkt, nur dann, wenn man geklagt und sich aktiv zur Wehr gesetzt hat. Dass das nicht alle Hilfebedürftigen tun, darauf setzen offenbar manche Kommunen.
Und als wenn die Betroffenen nicht schon genug zu tragen haben, wenn sie nicht-gedeckte Mietkosten aus dem dafür gar nicht vorgesehenen Regelsatz decken müssen, dann kommen da auch noch die Stromkosten hinzu, die – anders als die (angemessenen) Kosten für Unterkunft und Heizung – nicht separat abgegolten werden, sondern die aus dem mehrfach angesprochenen Regelsatz finanziert werden müssen. Und auch hier gibt es erhebliche Probleme:
Schon seit langem wird darauf hingewiesen, dass die steigenden Stromkosten für die Haushalte mit niedrigen Einkommen eine besondere Belastung darstellen. Das gilt für die Hartz IV-Empfänger auch deshalb, weil sie diese Kosten aus dem Regelsatz abdecken müssen und der Kostenanstieg beim Strom – so der Vorwurf – nicht adäquat abgebildet wird.
Mit diesem Thema hat sich nun eine neue Studie beschäftigt, die von der Caritas gemeinsam mit dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim durchgeführt und nunmehr veröffentlicht wurde.
Zentrales und leider nicht überraschendes Ergebnis: »Der Regelbedarf von Haushalten in der Grundsicherung (Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe) reicht häufig nicht aus, um die Kosten für ihren Stromverbrauch zu decken. Die Differenz zwischen dem Regelbedarf und dem Mittelwert der Stromkosten beträgt, je nach Haushaltszusammensetzung, zwischen fünf und elf Euro im Monat. Noch größer ist die Differenz, wenn die Warmwasserbereitung dezentral erfolgt und mit Strom betrieben wird. Dann erhöht sich der Differenzbetrag um weitere neun bis 19 Euro im Monat.« So die Formulierung in der Pressemitteilung Stromkosten setzen Haushalte von Sozialhilfeempfängern unter Druck. Das Besondere: In dieser Untersuchung wurde erstmals der Stromverbrauch der Leistungsempfänger direkt beobachtet, während die im Regelbedarf ausgewiesenen Leistungsanteile auf der Basis einer jeweils Jahre zurückliegenden Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) bestimmt wurden (und werden).
Die Studie im Original:
Gerd Aigeltinger, Peter Heindl, Verena Liessem, Daniel Römer, Clarita Schwengers und Claire Vogt: Zum Stromkonsum von Haushalten in Grundsicherung: Eine empirische Analyse für Deutschland. Discussion Paper No. 15-075. Mannheim: Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), 2015
Zum Abschluss: Das, worüber hier berichtet wird, ist nun wahrlich nicht neu oder überraschend. Bereits am 22. Juli 2013 konnte man in diesem Blog diesen Beitrag lesen: Zwischen Himmel und Hölle: Wenn das Wohnen die einen arm und einige andere sehr reich macht. Darin findet man diesen Hinweis:
630 Millionen Euro zu Lasten des Lebensunterhalts. Hartz-IV-Haushalte bleiben auf Unterkunftskosten sitzen, so der Titel einer kompakt auf einer Seite zusammengefassten Berechnungsergebnisse von Johannes Steffen.
Und zuweilen ist es durchaus hilfreich, wenn auch deprimierend, wenn man die Schlussfolgerung aus einem Beitrag erneut aufruft, der im Juli 2013 publiziert wurde:
»Es bleibt eine unangenehme Frage im Raum stehen: Gibt es eine relativ einfache Lösung dieser Probleme, die ja auch und gerade Probleme durch ganz unterschiedliche Knappheitsrelationen auf dem Immobilienmarkt sind?
Nehmen wir das Beispiel mit der Erstattung der „angemessenen“ Kosten der Unterkunft. Eine ganz andere Lösung wäre, man würde die Kosten insgesamt erstatten oder abgeschwächt, dass man die Kostenerstattungsgrenzen nach oben setzt. Im Ergebnis könnte diese gut gemeinte Maßnahme aber dazu führen, dass sich am Problem nichts ändert – dann nämlich nicht, wenn die Angebotsseite entsprechend reagiert und einfach das Preisniveau nach oben anpasst.
Viele Hartz IV-Empfänger stehen vor dem Problem, dass sie einen Teil ihrer tatsächlichen Unterkunftskosten aus ihren Regelleistungen bestreiten müssen und gleichzeitig gar nicht die Möglichkeit haben, in eine günstigere Wohnung umzuziehen, weil es vor Ort solche Wohnungen, um die ja viele konkurrieren, gar nicht gibt. Dies verweist auf das grundsätzliche Problem des Mangels an (bezahlbaren) Wohnraum an sich, der natürlich gerade in den Regionen/Städten, in denen die Wirtschaft gut läuft und die von Zuwanderungen profitieren, bereits heute Mangelware sind … Wieder einmal zeigt sich an dieser Stelle, wie fatal es war, dass der Staate die Förderung des sozialen Wohnungsbaus so runtergefahren hat. Denn das war und ist das einzige Instrument, mit dem man eine Angebotsausweitung erreichen kann.
Wir befinden uns hier also in einem mehrfachen Dilemma und wirklich weiterführende Lösungsansätze werden dringend gesucht.«
Das mag verständlich machen, warum in der Überschrift zu diesem Beitrag geschrieben wurde: Und täglich grüßt das Murmeltier. Wobei die Rahmenbedingungen sich weiter verschlechtert haben. Wenn man in Rechnung stellt, dass wir mittlerweile mit einer enormen Zuwanderung von Flüchtlingen konfrontiert sind, von denen viele hier bleiben und eine Wohnung brauchen werden und das dann auch noch gerade in den (groß)städtischen Regionen, in denen auch viele Hartz IV-Empfänger leben, dann muss für jeden klar werden: Die Wohnungsfrage hat schon in den vergangenen Jahren für die Menschen im unteren Einkommensbereich eine enorme Brisanz bekommen und sie wird noch weiter an Brisanz zunehmen, wenn die Nachfrage so steigen wird, wie wir das derzeit sehen müssen. In diesem Fall – und daran muss sich auch Politik messen lassen – hängt alles ab vom (zu schaffenden) halbwegs bezahlbaren Angebot. Eine große wohnungs- und damit sozialpolitische Herausforderung gilt es zu bewältigen.
Nachtrag: In seinem Artikel „Im Häuserkampf“ in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 07.10.2015 bringt es Gerhard Matzig auf den Punkt, wenn er schreibt:
»An der Wohnungsfrage entscheidet sich die Zukunft einer verstädterten Gesellschaft, die sich Ballungszentren als Jobmotoren schafft – ohne zu bedenken, dass jene, die darin arbeiten, auch wohnen müssen. Überlässt man das Wohnen dem freien Markt, so wird das produziert, was dem Renditesystem genetisch entspricht: profitabler Wohnraum. Billiger Wohnraum ist nicht vorgesehen in diesem Bauplan. Grund und Boden gehören, nicht grundsätzlich, aber in großen Teilen zum in öffentlichen Eigentum. Der soziale Wohnungsbau, der sich in Deutschland seit der Weimarer Republik durch glänzende Beispiele für moderne Wohnarchitektur auszeichnet, muss eine Renaissance erfahren.
Die 500 Millionen Euro, die nun, wie auf dem Flüchtlingsgipfel Ende September zugesagt, zusätzlich in den sozialen Wohnungsbau fließen, sind wie Hohn angesichts einer sehr viel gewaltigeren Aufgabe. Nicht einmal der jährliche Rückgang der automatisch aus der Sozialbindung fallenden Wohnungen wird damit kompensiert. Der Staat, die Länder und die Kommunen müssen zu Bauherren viel größerer Ambitionen werden. Denn die homogenisierenden Wohnbauprogramme von einst formulieren überdies keine gültigen Antworten mehr auf die divergenten Wohnraumbedürfnisse der Gegenwart.
Fazit: Das Wohnen ist ein öffentliches Anliegen, es kann nicht allein der Privatwirtschaft überantwortet werden. Die Privatisierung städtischer Wohnbauträger in den letzten Jahren war ein Fehler. Weiter dienen die grotesk detaillierten Bauvorschriften vor allem der Bauindustrie – in ihrem bürokratischen Furor stehen sie preisbewusstem wie flexiblem Wohnraum im Weg. Zuletzt: Wer den sozialen Frieden bewahren möchte, und alles andere ist ein übrigens auch jenseits der Humanität kostenintensiver Albtraum, muss das Wohnen auf Platz eins der Agenda setzen … Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist ein Grundrecht des Menschen. Es greift nur dann, wenn man nicht nur ein Mensch, sondern auch ein Wohnender ist.«