Diesseits der großen „Jobwunderland“-Erzählung: Schmutzige Geschäfte auf Kosten der Reinigungskräfte und Rache für den gesetzlichen Mindestlohn seitens der großen Fastfood-Ketten

Während immer noch in vielen Medien mit Blick auf den deutschen Arbeitsmarkt die große „Jobwunder“-Erzählung verbreitet und zuweilen vor sich her getragen wird wie eine Monstranz, kann man zahlreiche Veränderungen im überaus filigranen Arbeitsmarktgefüge auf den unterschiedlichen Etagen beobachten. An dieser Stelle soll erneut berichtet werden aus den unteren, eigentlich besonders schutzbedürftigen Bereichen des Arbeitsmarktes, wo zahlreiche Menschen arbeiten, deren Verhältnisse sich in den vergangenen Jahren teilweise schon deutlich verschlechtert haben.
Starten wir die Reise im Internet. Da blüht ja allerhand, auch die zweifelhaftesten Geschäftsmodelle können sich hier – zumindest wesentlich einfacher als in der „alten“ Geschäftswelt – entfalten. Und das sind dann nicht nur irgendwelche Geldverbrennungsmaschinen für verzweifelt nach Rendite suchende Investoren bzw. Spekulanten. Sondern das, was das Internet möglich macht vor allem auf der Ebene der Zwischenhändler, die dann die höchsten Margen einstreichen können, wenn sie es richtig machen, hat enorme Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen derjenigen, die gleichsam ganz am Ende der „Verwertungskette“ stehen. Die „natürlich“ zugleich die eigentliche Arbeit machen, an denen andere kräftig (mit)verdienen. Die dann diese Arbeit so neu organisieren, dass die gleiche Arbeit in anderen Bereichen dann wegfällt aufgrund der neuen Konkurrenz. Man schaue sich derzeit nur die ganze Story rund um Uber und dem Taxigewerbe an. Hier aber soll es um die Putzkräfte gehen. Denn die sind jetzt auch im Internet. Allerdings mit handfesten Folgen.

Darüber berichtet Charlotte Theile in ihrem Beitrag Schmutzige Geschäfte. Es geht um einen der schwierigsten „Märkte“, also für das Putzen in den Wohnungen und Häusern. Denn zum einen sind wir hier mit einem sehr hohen Anteil an schwarz arbeitenden Menschen konfrontiert oder wenn, dann mit in der Grauzone zwischen Illegalität und „normaler“, also sozialversicherungspflichtig ausgestalteter Beschäftigung, über die „Minijobs“. Und zum anderen gibt es bei vielen Haushalten durchaus einen Bedarf an diesen Putzkräften, dessen Realisierung sich aber überwiegend in einem der untersten Preissegmente bewegt oder aber der auch ungedeckt bleibt, weil ein Nachfrager, der sich an das Gesetz halten will oder muss, schlichtweg keine Putzkräfte zu den dafür erforderlichen Bedingungen findet. Schon seit vielen Jahren gibt es immer wieder Bestrebungen, das arbeitsmarktliche „Potenzial“ in diesem Bereich über legale Modelle zu erschließen. Man hat so einiges ausprobiert in der Vergangenheit, ob das nun „Dienstleistungsagenturen“ waren oder im Zuge der Hartz-Reformen der Ansatz, über eine Deregulierung bei der geringfügigen Beschäftigung die bis dato im illegalen Bereich angesiedelte Tätigkeit legaler zu machen.

Und jetzt kommt also gleichsam als eine Art „Durchlauferhitzer“ das Internet dazu. Theile zitiert als Beispiel die Firma Helpling. Sie gehört Rocket Internet, einem Unternehmen der Samwer-Brüder, das kurz vor dem Börsengang steht.

»Seit einigen Monaten wirbt die Firma mit ihrem Online-Putz-Service. Ihre Slogans springen einem entgegen, bei Facebook, im Fitnessstudio. „Du trainierst. Helpling putzt“, heißt es dort, oder „So einfach geht sauber“. Ab 12,90 Euro werden Küche, Bad und Schlafzimmer gereinigt – und zwar, so verspricht es die Homepage, von „geprüften und versicherten Reinigungsprofis“, die „zuverlässig und bestens ausgebildet“ sind. 10,32 Euro die Stunde kommen beim „Helpling“, wie die Putzkräfte genannt werden, an. Im Moment gibt es 50 Prozent Rabatt.«

So was geht natürlich nicht auf Dauer aufgrund der damit verbundenen Notwendigkeit einer Quersubventionierung – sondern wie so oft auf real existierenden Märkten nur für eine gewisse Zeit, die aber ausreichen kann, um andere Konkurrenten in die Knie zu zwingen. In diese Richtung geht auch die Einschätzung von Akteuren aus der Branche selbst, wie Theile zitiert:

»Patrick Tracht, Inhaber der Münchner Reinigungsfirma Mr. Cleaner, hält die Konkurrenten aus dem Netz für Ausbeuter. Der Preiskampf, den die neuen Firmen losgetreten hätten, sei verheerend. „Wer putzen nur über den Preis bewirbt, macht das Geschäft kaputt“, sagt Tracht. Es gehe, schreibt er in einer aufgebrachten E-Mail, um nichts anderes, als möglichst schnell möglichst viel Marktanteil zu gewinnen – „egal zu welchen Kosten“ – und das Unternehmen dann weiterzuverkaufen.«

Unternehmen, die wie Mr. Cleaner 30 oder 40 Euro die Stunde nehmen, mit versicherten, fest angestellten Mitarbeitern, sind die Hauptzielgruppe der neuen Anbieter bzw. sagen wir es genauer: der neuen Vermittlungsagenturen, denn selbst putzen die ja nicht. Nicht nur Helpling, sondern auch Homejoy, Book A Tiger und Clean Agents setzen diese Firmen unter Druck. Und sie zielen auf eine reale „Marktlücke“, denn viele Haushalte wünschen sich eine Putzfrau – wollen aber weder Schwarzarbeit fördern, noch 40 Euro die Stunde zahlen. Zugleich gibt es Menschen, fast immer Frauen, für die zehn Euro ein guter Stundenlohn sind. Wenn – ja wenn das wirklich zehn Euro wären pro Stunde. Hier kommt ein weiterer Vorteil der neuen Anbieter zum Vorschein. Theile berichtet von einer Rekrutierungsveranstaltung für potenzielle Hellinge:

»“Ich habe bis jetzt nur meine eigene Wohnung geputzt.“ Kein Problem, sagt Wilhelm, dann schiebt er ein Blatt über den Tisch: „Weiterbildung zum Thema Reinigungsablauf“. Darauf stehen Empfehlungen, wie eine Wohnung zu putzen sei. Keine Arbeitsanweisungen, natürlich nicht, Helplinge sind ja selbständig.«

„Selbständig“ – wie praktisch.

Da haben andere Branchen ganz andere „Probleme“. Denn die sind nun konfrontiert mit dem beschlossenen gesetzlichen Mindestlohn. Und während die einen das hinnehmen, versuchen andere, sofort neue Umgehungsstrategien in die Welt zu setzen. Stefan Sauer berichtet unter der Überschrift Rache für den Mindestlohn, welchen Weg die großen Fastfood-Ketten einschlagen wollen, um den Mindestlohn zu umgehen. Das liest sich schon wie ein starkes Stück. Konkret geht es um Fastfood-Ketten und andere Großgastronomen, die im Bundesverband der Systemgastronomie (BdS) zusammen geschlossen sind. Zum Start der zweiten Runde der Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft NGG präsentierten die ein bemerkenswertes Angebot für die mehr als 100.000 Beschäftigte, wobei man zweimal lesen und wissen muss, es gibt keinen Druckfehler:

»Es soll teils sogar  zweistellige Entgeltsteigerungen bis zum Mindestlohnniveau geben, was unterm Strich aber Lohneinbußen von einigen hundert oder sogar mehreren tausend Euro pro Jahr bedeuten würde.«

„Es kann doch nicht sein, dass infolge der Mindestlohneinführung die Beschäftigten weniger in der Tasche haben als vorher“, mit diesen Worten der Fassungslosigkeit wird ein Gewerkschaftsfunktionär zitiert in dem Artikel. Doch. Valerie Holsboer, die Hauptgeschäftsführerin des BdS, umschreibt ihr systemgastronomisches „yes, we can“ mit freundlichen Worten: Angesichts der Mindestlohneinführung sei „klar, dass wir das Gesamtpaket bestehend aus Entgelt- und Manteltarifvertrag neu schnüren müssen“. Der BdS, in dem u.a. Mc Donald’s, Burger King, Pizza Hut, Kentucky Fried Chicken, Nordsee und Starbucks organisiert sind, geht folgendermaßen vor:
»Der alte Manteltarifvertrag wurde gekündigt und Eckpunkte  eines neuen vorgelegt: Demnach sollen Weihnachts- und Urlaubsgeld  komplett entfallen, ebenso Zuschläge für Überstunden, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsdienste sowie auch die Arbeitgeberanteile zu vermögenswirksamen Leistungen (VL).« Also alles, was Geld kostet.

Das hätte enorme Auswirkungen. Beispiel Ungelernte:

»Ungelernte im ersten Berufsjahr erhalten bisher im Osten 7,06 Euro, im Westen sind es 7,71 Euro. 8,50 Euro bedeuten mithin Zuwächse  von 20,4 und 10,2 Prozent. Selbst solch kräftige Lohnsteigerungen verwandeln sich allerdings ins Gegenteil: Allein das Streichen des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes sowie der vermögenswirksamen Leistungen führt nach Berechnung der NGG zu Verlusten von 1450  Euro im Jahr. Verrechnet mit den Lohnsteigerungen bleiben jährliche Verluste zwischen 100 und 170 Euro.«

Hinzu kämen weit höhere Einbußen durch den Wegfall von Zuschlägen, die bisher an Feiertagen  100 Prozent, in der Nachtarbeit 15 und für Überstunden 25 Prozent ausmachen. »Für einen durchschnittlichen Mitarbeiter der unteren Lohngruppen ergeben sich so leicht Jahreseinbußen von mehr als 1.100 Euro.«

Aber noch härter würde es die besser verdienenden Mitarbeiter treffen: »Für gelernte Fachkräfte in der Tarifgruppe 4 (West) bietet der BdS ein Plus von 1,1 Prozent auf den bisherigen Stundenlohn von 9,52 Euro an. Aufs Jahr gerechnet sind dies rund 207 Euro mehr. Dem stehen Einbußen von 1.450 Euro Euro bei den  VL, beim Weihnachts- und Urlaubsgeld gegenüber sowie ein nochmals vierstelliger Betrag wegen der gestrichenen Zuschläge.«

Für die Gewerkschaften und für die betroffenen Arbeitnehmer ist das ein klare Kampfansage – womit wir allerdings schon bei einem der strukturellen Probleme wären: Die Gewerkschaft NGG hat gerade in den genannten Unternehmen teilweise einen Organisationsgrad, der bei 5% liegt. Damit fehlt aber der Gewerkschaft das notwendige Drohpotenzial gegenüber den Arbeitgebern. Die betroffenen Arbeitnehmer müssen sich eben auch organisieren und kollektiv versuchen, zu agieren.

Und damit nicht der Eindruck erweckt wird, dass es hier um eine einseitige Arbeitgeberschelte geht – es geht auch ganz anders, worauf Stefan Sauer in seinem Artikel auch zu Recht hinweist:

»Unter dem Dach des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga haben Ketten wie Block House, Joey’s,  Le Crobag, Maredo, Tschibo, Wienerwald sowie zahlreiche  Warenhausrestaurants im Juli einen Tarifvertrag mit der NGG bis Ende Mai 2016 abgeschlossen. Er sieht bereits zum 1. Dezember 2014 einen untersten Tariflohn von 8,51 Euro vor. Auch für alle übrigen Tarifgruppen gibt es – unterschiedlich hohe – Zuwächse, und zwar auf Deutschlandweit gleichem Niveau. Jeder Azubi erhält 90 Euro mehr pro Monat.  Zulagen, Weihnachts- und Urlaubsgeld bleiben unangetastet.«

Es gibt eben nicht die „Schlechten“, sondern auch die „Guten“. Quod erat demonstrandum.
Wobei natürlich auch „das Gute“ immer ein relativer Begriff ist.

Fazit: Die Beschäftigten müssen verstehen, dass es einen gewaltigen Angriff auf ihr Gesamtlohngefüge geben soll und dass man sich dagegen zur Wehr setzen muss. Was alleine nicht geht. Bleibt nur der Versuch einer kollektiven Interessenvertretung über die Gewerkschaft, im vorliegenden Fall also der NGG. Man kann das partiell als Verbraucher unterstützen und punktuell auch einzelne schlechte Unternehmen von der Verbraucher- und Medienseite unter Druck setzen, die entscheidende Frage wird aber lauten: Wie gelingt es den Gewerkschaften, gerade in diesen Bereichen mehr Mitglieder zu gewinnen, um eine ausreichende Drohkulisse gegenüber den Arbeitgebern aufbauen zu können.

Überraschung: Die Bundesbank hat herausgefunden, dass Leute, die kein oder zu wenig Geld haben, auch nichts oder zu wenig kaufen können. Oder doch nicht?

Eine frohe Botschaft für die Arbeitnehmer konnte man der neuen Print-Ausgabe des SPIEGEL entnehmen: „Ende der Bescheidenheit“. Denn das proklamierte Ende richtet sich an die gewerkschaftlichen Lohnforderungen – und wird von einer Institution vorgetragen, von der man das nun so gar nicht erwartet hätte: »Bei der Forderung nach höheren Löhnen finden die Gewerkschaften einen ungewohnten Verbündeten: die Bundesbank. Den Währungshütern ist die aktuelle Inflationsrate zu niedrig – deshalb sollen die Gehälter nun kräftiger steigen als bisher.« Markus Dettmer und Christian Reichmann schreiben in ihrem Artikel vor dem Hintergrund dessen, was man bislang von den Bundesbankern gewohnt war: »Über Jahre konnten ihre Appelle für Sparsamkeit und Lohnzurückhaltung gar nicht streng genug ausfallen. Höhere Löhne treiben die Preise, so lautete ihr Mantra. Mochten sich andere Notenbanken bei ihren Entscheidungen daran orientieren, wie viele Menschen Arbeit suchten, die Bundesbank kannte nur ein Ziel: die Inflation im Zaum zu halten.« Haben die nun die Seiten gewechselt, ihr Herz für die Arbeiterbewegung entdeckt oder sind sie zum Keynesianismus konvertiert? Schauen wir genauer hin.


Im SPIEGEL-Artikel (vgl. auch die Kurzfassung Bundesbank plädiert für deutliches Lohnplus) wird darauf hingewiesen, dass die Bundesbank selbst – entgegen der doch vielen überraschten Reaktionen – keineswegs eine Kursänderung erkennen kann: »Als es der Wirtschaft schlecht ging, predigte sie den Gewerkschaften Bescheidenheit. Jetzt, wo die Konjunktur rundläuft, könnten die Tarife ruhig kräftiger zulegen. „Unsere Argumentation ist symmetrisch und konsistent“, sagt Jens Ulbrich, Chefökonom der Bundesbank …« Der Chefökonom der Bundesbank lobt die „sehr verantwortungsbewusste Lohnzurückhaltung“ der vergangenen Jahre. Was damit gemeint ist:

In den vergangenen Jahren blieben die Tariflohnabschlüsse zumeist unter der Marke dessen, was man als „verteilungsneutraler Lohnerhöhungsspielraum“ bezeichnet. Aus gewerkschaftlicher Sicht setzt sich der zusammen aus den beiden Komponenten Ausgleich in Höhe des (gesamtwirtschaftlichen) Produktivitätsfortschritts + Ausgleich der Preissteigerungsrate, während in anderen Beschreibungen etwas einschränkend darauf hingewiesen wird, dass man den durchschnittlichen Produktivitätsfortschritt der vergangenen Jahre heranziehen sollte und bei der Berücksichtigung der Preissteigerungsrate wird ein Deckel dahingehend raufgesetzt, als das nur die knapp unter 2%-Zielinflationsrate der EZB Berücksichtigung finden sollten, auch wenn die tatsächliche Inflation höher liegt. Das Konzept hat seine Bedeutung angesichts der Annahme, dass Lohnerhöhungen, die sich unterhalb dieser Grenze bewegen, nicht zu Arbeitsplatzabbau führen würden. Die Abbildung verdeutlicht mit Daten des WSI-Tarifarchivs die Entwicklung in den Jahren 2000 bis 2013.

Man erkennt sehr deutlich, dass in den zurückliegenden Jahren ganz überwiegend der verteilungsneutrale Lohnerhöhungsspielraum bei den Tariflöhnen nicht ausgeschöpft oder gar überschritten wurde, sondern die Tariflohnentwicklung zumeist unter dem verteilungsneutralen Spielraum lag (das Jahr 2009 muss ausgeklammert werden aufgrund der Sondersituation der schweren Rezession im Gefolge der Finanzkrise). Erst am aktuellen Rand sieht man wieder leicht über der Schwelle liegende Abschlüsse, was aber auch eine Folge des Absinkens des verteilungsneutralen Lohnerhöhungsspielraums bzw. seiner Komponenten ist.

Besondere Beachtung sollte dabei die Entwicklung der Inflationsrate finden, denn die ist noch weiter abgesunken – und zwar erheblich:  Im Juni stiegen die Preise im Euroraum nur noch um 0,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (für Deutschland wird eine Preissteigerungsrate von einem Prozent gemeldet). An dieser Stelle sollten wir uns wieder an die Aussage des Chefökonomen der Bundesbank erinnern: „Unsere Argumentation ist symmetrisch und konsistent“. Und die Argumentation der Bundesbank ist eine Ein-Ziel-Argumentation, die da lautet: Preisstabilität. Nun haben sich aber die Rahmenbedingungen grundlegend verändert, die Hüter der Geldpolitik stehen vor einem erheblichen Problem: Nicht Inflation ist die Gefahr oder gar ein reales Phänomen, sondern möglicherweise ein deflationärer Prozess. Und eine Deflation ist ein gefährliche Angelegenheit und die muss man verhindern – normalerweise würde man das mit dem Waffenarsenal der Geldpolitik machen, also Leitzinssenkung und eine Politik des billigen Geldes. Doch dieses Pulver ist im Gefolge der Bewältigung der Finanzkrise weitestgehend verschossen. Der Leitzins wurde auf nur noch 0,15 Prozent gesenkt – und außerdem müssen die Banken jetzt einen Strafzins von 0,1 Prozent zahlen, wenn sie ihr Geld bei der EZB parken. Doch bisher sind die EZB-Maßnahmen wirkungslos verpufft, wie die niedrige Inflationsrate im Euroraum zeigt. So auch die Argumentation von Ulrike Herrmann in ihrem Artikel Bundesbank: Löhne müssen steigen!:

»… was früher gefürchtet war, soll jetzt die Rettung bringen. Die Bundesbank will eine Geldentwertung. Das Kalkül der Bank ist ganz einfach: Wenn die Gehälter zulegen, steigen automatisch die Kosten der Unternehmen. Also werden die Firmen versuchen, ihre Preise anzuheben.
Die Bundesbank will eine Inflation herbeizwingen, weil momentan das Gegenteil droht: eine Deflation, bei der die Preise permanent fallen und die Wirtschaft in einer Rezession verharrt.«

Da man geldpolitisch bei den Zinsen für die Banken nicht weiter kommt, interessiert man sich nun für die Löhne. Allerdings ist die Bundesbank hier eher ein Spätzünder, denn IWF und OECD hatten bereits im vergangenen Jahr gefordert, dass Deutschland seine Löhne anhebt.

Nun ist das mit den Löhnen so eine Sache, es gibt bekanntlich mehrere unterschiedliche Lohnformen. Die Ermunterung der Bundesbank für die Gewerkschaften, einen ordentlichen Schluck aus der Pulle zu nehmen, bezieht sich ja erst einmal nur auf die Tariflöhne, die von den Gewerkschaften ausgehandelt werden. Volkswirtschaftlich interessant sind natürlich die Löhne insgesamt und dabei ist zum einen zu beachten, dass viele Arbeitnehmer gar nicht oder nur beschränkt in den Genuss von Tariflohnsteigerungen kommen, weil sie in tariffreien Zonen arbeiten. Aber auch bei einem Teil der Arbeitnehmer, die unter dem Tarifschirm arbeiten, gibt es Öffnungsklauseln oder die Streichung anderer Lohnbestandteile. Und dann ist da noch der gesamte Niedriglohnsektor, der in den vergangenen Jahren enorm an Gewicht gewonnen hat. Und last but not least muss man natürlich auch den Zugriff des Staates auf die Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer mit in Rechnung stellen, als Stichwort möge hier „kalte Progression“ genügen.

Kurzum: Die reale Entwicklung sah für viele Arbeitnehmer mehr als mau aus: »Die deutschen Reallöhne sind in den vergangenen 15 Jahren nicht gestiegen, sondern liegen um 0,7 Prozent niedriger als zur Jahrtausendwende«, so Ulrike Herrmann in ihrem Artikel.
Insofern könnte und müsste eine Schlussfolgerung lauten: Es gibt gute Gründe für eine ordentliche Anhebung der Tariflöhne, vgl. hierzu das Plädoyer in diese Richtung von Peter Bofinger in guter alter nachfrageorientierter Manier. Aber das allein wird nicht reichen, wenn man an die Beschäftigten denkt, die gar nicht profitieren können von den Tariflohnabschlüssen.

Abschließend zurück zur Bundesbank: Meint sie es nun gut mit den Arbeitnehmern? Folgt man ihrer Argumentation, dass sie nun gar keinen Kurswechsel vollzogen habe, dann könnte man auf einen schlimmen Gedanken kommen: »Die Bundesbank will eine Geldentwertung«, so Ulrike Herrmann. Das aber würde bedeuten, man treibt die Gewerkschaften an, höhere Löhne durchzusetzen, damit die Unternehmen in der Folge die Preise anheben, um den Kostenanstieg an die Abnehmer weiterzugeben. Dann steigt die Inflationsrate wieder an, was allerdings auch bedeutet, dass die Arbeitnehmer real weniger in der Kasse haben. Und außerdem – wenn die Argumentation der Bundesbank wirklich konsistent wäre, dann müsste sie eigentlich ein Befürworter des Mindestlohns sein, denn durch den müssen die Preise in vielen Branchen – man denke hier an den Bereich Hotel- und Gaststättengewerbe, um nur ein Beispiel zu nennen – angehoben werden angesichts der sehr niedrigen Margen, die man da realisieren kann. Aber das geht dann doch wohl zu weit.

Wenn Dein starker Arm es will – Von Warnstreiks, Streiks und der (Nicht-)Lust auf Arbeitskämpfe in härter werdenden Zeiten

Nach Bussen, Bahnen und Kindertagesstätten sind nun die Flughäfen an der Reihe. Auf sieben Airports haben Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes ihre Arbeit niedergelegt. In Frankfurt kommt es zu massiven Beeinträchtigungen durch Hunderte Flugausfälle, an den übrigen Airports läuft der Betrieb – bislang – annähernd normal, so einer der vielen Artikel, die man derzeit im Netz finden kann. Damit setzt die Gewerkschaft ver.di die Warnstreikwelle fort, die schon in den vergangenen Tagen im Umfeld der Tarifverhandlungen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes bei Bund und Kommunen – nicht aber den Ländern, die separat verhandeln – stattgefunden haben. Die Gewerkschaft will damit Druck vor der dritten Tarifrunde machen, die Anfang der Woche stattfinden wird. Die Gewerkschaften fordern, dass die Einkommen der 2,1 Millionen Angestellten im Bund und in den Kommunen um einen Betrag von 100 Euro und dann zusätzlich um weitere 3,5 Prozent steigen.
Die Arbeitgeber haben in den bisherigen zwei Verhandlungsrunden bislang kein Angebot vorgelegt. Die Angelegenheit hat zwei Dimensionen: Zum einen die aktuelle Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst im engeren Sinne, da geht es dann um Fragen, ob die Forderungen berechtigt sind und ob die massive Warnstreikwelle zum jetzigen Zeitpunkt in Ordnung ist. Zum anderen aber lohnt ein Blick auf die generelle Streikbilanz der vergangenen Jahre. Hier geht es dann um die Frage, ob die Arbeitskämpfe zugenommen haben und wie Deutschland im internationalen Vergleich aufgestellt ist.

Stefan Menzel hat seinen Kommentar im Handelsblatt unter die Überschrift „Die lahmgelegte Republik“ gestellt. Ein erster flüchtiger Blick auf diesen Titel lässt erwarten, dass der Kommentator die vielen Warnstreiks und die gerade heute für viele Menschen erfahrbaren Einschränkungen als überzogen kritisiert. Menzel weist zwar darauf hin, dass es natürlich Alternativen zu den vielen Warnstreiks gegeben hätte, argumentiert im weiteren Gang aber differenzierter:

»Trotz aller aktuellen Kritik an Verdi verhält sich die Gewerkschaft so, wie man es von ihr erwartet …  Die Steuereinnahmen sprudeln. Bundesfinanzminister Schäuble will im kommenden Jahr sogar erstmals wieder einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Dass eine Gewerkschaft in einer solchen Situation und nach mehreren mageren Jahren wieder einen „größeren Schluck aus der Pulle“ nehmen will, ist vollkommen logisch, nachvollziehbar und kalkulierbar. Die öffentlichen Arbeitgeber wissen also schon länger, was auf sie zukommt.«

Und dann kommt Menzel zu dieser – für die aktuelle Lage wichtigen – Bewertung, an die man sich erinnern sollte, wenn nun die Gewerkschaften verantwortlich gemacht werden für die erheblichen Störungen, die durch die bisherigen Arbeitskampfmaßnahmen hervorgerufen werden:

»Trotzdem fährt die Arbeitgeberseite in dieser Situation einen unverhohlenen Konfrontationskurs. Während Verdi schon ziemlich früh ihre Wünsche für mögliche Gehaltssteigerungen auf den Tisch gelegt hat, zögern die öffentlichen Arbeitgeber von Bund und Kommunen immer noch mit der Preisgabe ihres ersten Angebots.
Die Arbeitgeber fahren einen Kurs der Konfrontation, wenn sie kein eigenes Angebot vorlegen. Dass die Gewerkschaft dann mit Warnstreiks reagiert, ist eine völlig nachvollziehbare Schlussfolgerung … Bund und Kommunen tragen also die Verantwortung dafür, dass im Nahverkehr und an den Flughäfen im Moment nicht viel geht. Die aktuelle Konfrontation hätte vermieden werden, wenn sich die Arbeitgeber an den vergangenen Tagen verhandlungsfreudiger gezeigt hätten.«

So kann man das sehen und einordnen.

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht das rigider und hat sich unter der Überschrift „Unverhältnismäßig“ positioniert. Das von den Arbeitgebern getragene Institut weist zwar darauf hin, dass die von Streiks bei Bahnen, Bussen, Flughäfen oder Kitas betroffenen Dritten von der Arbeitskampfrechtsprechung keinen besonderen Schutz eingeräumt bekommen, denn Streikrecht geht als Grundrecht den Interessen der Fahrgäste oder der Eltern grundsätzlich vor. Das Institut fordert aber eine Ausrichtung beider Tarifpartner darauf, wie sie negative Drittwirkungen weitestgehend vermeiden können. Im Gegensatz zu der klaren Einordnung bei Menzel, der in seinem Kommentar die Verantwortlichkeit der Arbeitgeberseite herausgearbeitet hat, spekuliert das IW in eine andere Richtung:

»Vor allem bei ver.di drängt sich momentan allerdings der Verdacht auf, dass der Warnstreik in erster Linie organisationspolitische Ziele verfolgt, um im Wettbewerb mit den streikfreudigen Berufsgewerkschaften um die besten Tarifabschlüsse zu bestehen.«

Da scheint die Einordnung der aktuellen Ereignisse, wie man sie bei Menzel finden kann, überzeugender. Zugleich kann man an dieser Stelle aber die angesprochene grundsätzliche Dimension das Arbeitskampfgeschehen in Deutschland betreffend aufrufen.

Hierzu findet man wichtige Daten und Einordnungen auf der gewerkschaftlichen Seite, konkret beim „WSI Tarifarchiv„. Die veröffentlichen regelmäßig eine „Streikbilanz“ – und die für das abgelaufene Jahr 2013 findet man unter der Überschrift „Weniger Streiks bei anhaltender Dominanz des Dienstleistungsbereichs“ publiziert, mit einigen sehr interessanten Details.

Quelle der Abbildung: Böcklerimpuls 5/2014, S. 3

Der WSI-Arbeitskampfexperte Heiner Dribbusch kommt zu folgenden Befunden, die von den Abbildung illustriert werden:

Im internationalen Vergleich wird in Deutschland nach wie vor relativ wenig gestreikt. Deutschland hat im mehrjährigen Durchschnittsvergleich fast das niedrige US-amerikanisches Niveau erreicht. Ganz anders hingegen die Arbeitskampfintensität in  Frankreich, aber auch in skandinavischen Ländern wie Dänemark, Finnland oder Norwegen.

Dribbusch kommt vor dem Hintergrund der langjährigen Beobachtung des Streikgeschehens zu der folgenden Feststellung: »Seit etwa zehn Jahren beobachtet Dribbusch einen Trend zu einer Verschiebung des Arbeitskampfgeschehens in den Dienstleistungsbereich. Dieser setzte sich auch 2013 fort. Rund 80 Prozent aller tariflichen Arbeitskämpfe fanden im Dienstleistungssektor statt … Außerhalb des Dienstleistungsbereichs gab es besonders viele, kleinere und größere Arbeitsniederlegungen in der von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) organisierten Getränke- und Lebensmittelindustrie.« Dribbusch wird dann mit diesen Worten zitiert: „Sehr deutlich lässt sich der Zusammenhang zwischen Konflikthäufigkeit und Zerklüftung der Tariflandschaft beobachten.“

Die Konfliktfokussierung auf den Dienstleistungsbereich lasse sich nach Dribbusch strukturell erklären: »Hier wirkten sich einerseits die Abkehr öffentlicher Auftraggeber von ehemals einheitlichen Tarifstrukturen sowie die Privatisierung von Post, Telekommunikation und im Gesundheitswesen aus. Hinzu kämen Versuche von privatwirtschaftlichen Unternehmen, sich Tarifverträgen zu entziehen oder erst gar keine Tarifbindung einzugehen.«

Die angesprochene „Zerklüftung“ der Tariflandschaft kann man auch daran erkennen, dass es wie in den vergangenen Jahren zu zahlreichen Arbeitskämpfen im Zusammenhang mit Haus- und Firmentarifverträgen gekommen ist. Die vielen bekannte Auseinandersetzung um Amazon kann verdeutlichen, wie schwierig dieses spezielle Gelände für die Gewerkschaften ist.
Vor dem Hintergrund der auch vom IW in Köln behaupteten angeblichen Konkurrenzsituation zu den kleinen Berufsgewerkschaften und einer daraus abgeleiteten größeren Konfliktbereitschaft der traditionellen Gewerkschaften besonders interessant ist der folgende Befund:

»Die Streikaktivitäten der Berufsgewerkschaften blieben nach der Auswertung des Arbeitskampfexperten 2013 wie im Vorjahr marginal. „Sie trugen nicht nennenswert zum Streikvolumen bei“, erklärt Dribbusch.«

Eigentlich – das soll an dieser Stelle abschließend als These in den Raum gestellt werden – müsste die Konfliktintensität, gemessen an den Arbeitskämpfen, angesichts der in vielen Bereichen, vor allem in den Niedriglohnsektoren des Dienstleistungsbereichs, sich verschlechternden Arbeitsbedingungen, deutlich höher ausfallen. Hier nun stoßen wir auf strukturelle Probleme der Gewerkschaften, die in der folgenden Abbildung illustriert werden:

Man erkennt bei einer Analyse der Jahre von 1996-2011 eine erhebliche Abnahme (-31%) des „klassischen“ Modells, wo Betriebsräte in Unternehmen mit einem Branchentarif agieren. Massiv zugenommen (+50 %) hat die Konstellation am anderen Ende, also kein Tarifvertrag und auch kein Betriebsrat. Und das sind die Zahlen über alle Branchen hinweg, die Organisationsprobleme hinsichtlich betrieblicher Mitbestimmung wie auch gewerkschaftlicher Durchsetzungsfähigkeit gerade in vielen Dienstleistungsbranchen, wo es auch sehr viele Niedriglohnbeschäftigte gibt, sind natürlich noch einmal deutlich ausgeprägter.

Vor diesem für die Gewerkschaften wahrlich nicht einfachen Umfeld klingt dann der Blick des Arbeitskampfexperten Dribbusch auf die Streiks im vergangenen Jahr (für die Gewerkschaften) zumindest vielversprechend, was die Perspektive einer ansteigenden Konfliktbereitschaft in den Bereichen angeht, wo es die meisten Probleme gibt, zugleich aber auch oftmals keinen oder nur einen geringen Organisationsgrad der Beschäftigten gibt: „Diese Streiks sind Ausdruck wachsender Unzufriedenheit in den traditionellen Niedriglohnbranchen“, so wird Dribbusch zitiert. Man wird sehen, ob hier der Wunsch Vater des Gedankens ist.