Nach Bussen, Bahnen und Kindertagesstätten sind nun die Flughäfen an der Reihe. Auf sieben Airports haben Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes ihre Arbeit niedergelegt. In Frankfurt kommt es zu massiven Beeinträchtigungen durch Hunderte Flugausfälle, an den übrigen Airports läuft der Betrieb – bislang – annähernd normal, so einer der vielen Artikel, die man derzeit im Netz finden kann. Damit setzt die Gewerkschaft ver.di die Warnstreikwelle fort, die schon in den vergangenen Tagen im Umfeld der Tarifverhandlungen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes bei Bund und Kommunen – nicht aber den Ländern, die separat verhandeln – stattgefunden haben. Die Gewerkschaft will damit Druck vor der dritten Tarifrunde machen, die Anfang der Woche stattfinden wird. Die Gewerkschaften fordern, dass die Einkommen der 2,1 Millionen Angestellten im Bund und in den Kommunen um einen Betrag von 100 Euro und dann zusätzlich um weitere 3,5 Prozent steigen.
Die Arbeitgeber haben in den bisherigen zwei Verhandlungsrunden bislang kein Angebot vorgelegt. Die Angelegenheit hat zwei Dimensionen: Zum einen die aktuelle Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst im engeren Sinne, da geht es dann um Fragen, ob die Forderungen berechtigt sind und ob die massive Warnstreikwelle zum jetzigen Zeitpunkt in Ordnung ist. Zum anderen aber lohnt ein Blick auf die generelle Streikbilanz der vergangenen Jahre. Hier geht es dann um die Frage, ob die Arbeitskämpfe zugenommen haben und wie Deutschland im internationalen Vergleich aufgestellt ist.
Stefan Menzel hat seinen Kommentar im Handelsblatt unter die Überschrift „Die lahmgelegte Republik“ gestellt. Ein erster flüchtiger Blick auf diesen Titel lässt erwarten, dass der Kommentator die vielen Warnstreiks und die gerade heute für viele Menschen erfahrbaren Einschränkungen als überzogen kritisiert. Menzel weist zwar darauf hin, dass es natürlich Alternativen zu den vielen Warnstreiks gegeben hätte, argumentiert im weiteren Gang aber differenzierter:
»Trotz aller aktuellen Kritik an Verdi verhält sich die Gewerkschaft so, wie man es von ihr erwartet … Die Steuereinnahmen sprudeln. Bundesfinanzminister Schäuble will im kommenden Jahr sogar erstmals wieder einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Dass eine Gewerkschaft in einer solchen Situation und nach mehreren mageren Jahren wieder einen „größeren Schluck aus der Pulle“ nehmen will, ist vollkommen logisch, nachvollziehbar und kalkulierbar. Die öffentlichen Arbeitgeber wissen also schon länger, was auf sie zukommt.«
Und dann kommt Menzel zu dieser – für die aktuelle Lage wichtigen – Bewertung, an die man sich erinnern sollte, wenn nun die Gewerkschaften verantwortlich gemacht werden für die erheblichen Störungen, die durch die bisherigen Arbeitskampfmaßnahmen hervorgerufen werden:
»Trotzdem fährt die Arbeitgeberseite in dieser Situation einen unverhohlenen Konfrontationskurs. Während Verdi schon ziemlich früh ihre Wünsche für mögliche Gehaltssteigerungen auf den Tisch gelegt hat, zögern die öffentlichen Arbeitgeber von Bund und Kommunen immer noch mit der Preisgabe ihres ersten Angebots.
Die Arbeitgeber fahren einen Kurs der Konfrontation, wenn sie kein eigenes Angebot vorlegen. Dass die Gewerkschaft dann mit Warnstreiks reagiert, ist eine völlig nachvollziehbare Schlussfolgerung … Bund und Kommunen tragen also die Verantwortung dafür, dass im Nahverkehr und an den Flughäfen im Moment nicht viel geht. Die aktuelle Konfrontation hätte vermieden werden, wenn sich die Arbeitgeber an den vergangenen Tagen verhandlungsfreudiger gezeigt hätten.«
So kann man das sehen und einordnen.
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht das rigider und hat sich unter der Überschrift „Unverhältnismäßig“ positioniert. Das von den Arbeitgebern getragene Institut weist zwar darauf hin, dass die von Streiks bei Bahnen, Bussen, Flughäfen oder Kitas betroffenen Dritten von der Arbeitskampfrechtsprechung keinen besonderen Schutz eingeräumt bekommen, denn Streikrecht geht als Grundrecht den Interessen der Fahrgäste oder der Eltern grundsätzlich vor. Das Institut fordert aber eine Ausrichtung beider Tarifpartner darauf, wie sie negative Drittwirkungen weitestgehend vermeiden können. Im Gegensatz zu der klaren Einordnung bei Menzel, der in seinem Kommentar die Verantwortlichkeit der Arbeitgeberseite herausgearbeitet hat, spekuliert das IW in eine andere Richtung:
»Vor allem bei ver.di drängt sich momentan allerdings der Verdacht auf, dass der Warnstreik in erster Linie organisationspolitische Ziele verfolgt, um im Wettbewerb mit den streikfreudigen Berufsgewerkschaften um die besten Tarifabschlüsse zu bestehen.«
Da scheint die Einordnung der aktuellen Ereignisse, wie man sie bei Menzel finden kann, überzeugender. Zugleich kann man an dieser Stelle aber die angesprochene grundsätzliche Dimension das Arbeitskampfgeschehen in Deutschland betreffend aufrufen.
Hierzu findet man wichtige Daten und Einordnungen auf der gewerkschaftlichen Seite, konkret beim „WSI Tarifarchiv„. Die veröffentlichen regelmäßig eine „Streikbilanz“ – und die für das abgelaufene Jahr 2013 findet man unter der Überschrift „Weniger Streiks bei anhaltender Dominanz des Dienstleistungsbereichs“ publiziert, mit einigen sehr interessanten Details.
Quelle der Abbildung: Böcklerimpuls 5/2014, S. 3 |
Der WSI-Arbeitskampfexperte Heiner Dribbusch kommt zu folgenden Befunden, die von den Abbildung illustriert werden:
Im internationalen Vergleich wird in Deutschland nach wie vor relativ wenig gestreikt. Deutschland hat im mehrjährigen Durchschnittsvergleich fast das niedrige US-amerikanisches Niveau erreicht. Ganz anders hingegen die Arbeitskampfintensität in Frankreich, aber auch in skandinavischen Ländern wie Dänemark, Finnland oder Norwegen.
Dribbusch kommt vor dem Hintergrund der langjährigen Beobachtung des Streikgeschehens zu der folgenden Feststellung: »Seit etwa zehn Jahren beobachtet Dribbusch einen Trend zu einer Verschiebung des Arbeitskampfgeschehens in den Dienstleistungsbereich. Dieser setzte sich auch 2013 fort. Rund 80 Prozent aller tariflichen Arbeitskämpfe fanden im Dienstleistungssektor statt … Außerhalb des Dienstleistungsbereichs gab es besonders viele, kleinere und größere Arbeitsniederlegungen in der von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) organisierten Getränke- und Lebensmittelindustrie.« Dribbusch wird dann mit diesen Worten zitiert: „Sehr deutlich lässt sich der Zusammenhang zwischen Konflikthäufigkeit und Zerklüftung der Tariflandschaft beobachten.“
Die Konfliktfokussierung auf den Dienstleistungsbereich lasse sich nach Dribbusch strukturell erklären: »Hier wirkten sich einerseits die Abkehr öffentlicher Auftraggeber von ehemals einheitlichen Tarifstrukturen sowie die Privatisierung von Post, Telekommunikation und im Gesundheitswesen aus. Hinzu kämen Versuche von privatwirtschaftlichen Unternehmen, sich Tarifverträgen zu entziehen oder erst gar keine Tarifbindung einzugehen.«
Die angesprochene „Zerklüftung“ der Tariflandschaft kann man auch daran erkennen, dass es wie in den vergangenen Jahren zu zahlreichen Arbeitskämpfen im Zusammenhang mit Haus- und Firmentarifverträgen gekommen ist. Die vielen bekannte Auseinandersetzung um Amazon kann verdeutlichen, wie schwierig dieses spezielle Gelände für die Gewerkschaften ist.
Vor dem Hintergrund der auch vom IW in Köln behaupteten angeblichen Konkurrenzsituation zu den kleinen Berufsgewerkschaften und einer daraus abgeleiteten größeren Konfliktbereitschaft der traditionellen Gewerkschaften besonders interessant ist der folgende Befund:
»Die Streikaktivitäten der Berufsgewerkschaften blieben nach der Auswertung des Arbeitskampfexperten 2013 wie im Vorjahr marginal. „Sie trugen nicht nennenswert zum Streikvolumen bei“, erklärt Dribbusch.«
Eigentlich – das soll an dieser Stelle abschließend als These in den Raum gestellt werden – müsste die Konfliktintensität, gemessen an den Arbeitskämpfen, angesichts der in vielen Bereichen, vor allem in den Niedriglohnsektoren des Dienstleistungsbereichs, sich verschlechternden Arbeitsbedingungen, deutlich höher ausfallen. Hier nun stoßen wir auf strukturelle Probleme der Gewerkschaften, die in der folgenden Abbildung illustriert werden:
Man erkennt bei einer Analyse der Jahre von 1996-2011 eine erhebliche Abnahme (-31%) des „klassischen“ Modells, wo Betriebsräte in Unternehmen mit einem Branchentarif agieren. Massiv zugenommen (+50 %) hat die Konstellation am anderen Ende, also kein Tarifvertrag und auch kein Betriebsrat. Und das sind die Zahlen über alle Branchen hinweg, die Organisationsprobleme hinsichtlich betrieblicher Mitbestimmung wie auch gewerkschaftlicher Durchsetzungsfähigkeit gerade in vielen Dienstleistungsbranchen, wo es auch sehr viele Niedriglohnbeschäftigte gibt, sind natürlich noch einmal deutlich ausgeprägter.
Vor diesem für die Gewerkschaften wahrlich nicht einfachen Umfeld klingt dann der Blick des Arbeitskampfexperten Dribbusch auf die Streiks im vergangenen Jahr (für die Gewerkschaften) zumindest vielversprechend, was die Perspektive einer ansteigenden Konfliktbereitschaft in den Bereichen angeht, wo es die meisten Probleme gibt, zugleich aber auch oftmals keinen oder nur einen geringen Organisationsgrad der Beschäftigten gibt: „Diese Streiks sind Ausdruck wachsender Unzufriedenheit in den traditionellen Niedriglohnbranchen“, so wird Dribbusch zitiert. Man wird sehen, ob hier der Wunsch Vater des Gedankens ist.