Wenn die Leiharbeiter in der Leiharbeit per Tarifvertrag eingemauert werden und ein schlechtes Gesetz mit gewerkschaftlicher Hilfe noch schlechter wird

Hat die Gewerkschaft ihre Koordinaten verloren und taumelt sie jetzt orientierungslos durch die prekäre Zone der Arbeitswelt, die sie jahrelang mit Kampagnen und wortgewaltigen Verurteilungen gebrandmarkt hat? Diese Frage mag sich dem einen oder anderen nach der Konfrontation mit dieser Nachricht durchaus stellen: IG Metall stimmt Zeitarbeit bis zu vier Jahren zu: »In der Metall- und Elektroindustrie können Leiharbeiter künftig bis zu 48 Monate in einem Betrieb beschäftigt werden – statt 18 Monaten, wie es das seit 1. April in Kraft getretene Gesetz vorsieht.« Im vergangenen Jahr hatte die Große Koalition das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) mit Wirkung zum 1. April 2017 geändert, u.a. wurde festgelegt, dass ein Leiharbeiter maximal 18 Monate lang an denselben Betrieb ausgeliehen werden darf. »Es sind jedoch Ausnahmen möglich, wenn Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften abweichende Vereinbarungen treffen. Im Fall der Metall- und Elektroindustrie haben sich der Arbeitgeberverband Gesamtmetall und die IG Metall auf die Änderungen verständigt.« 

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Arbeitskampfbilanz 2016: Der mehr oder weniger starke Arm hat auch 2016 für Stillstand gesorgt: Viele Streikteilnehmer, aber deutlich weniger Ausfalltage in den Unternehmen

Nach dem Super-Streikjahr 2015 ist die Intensität der Arbeitskämpfe in Deutschland 2016 deutlich zurückgegangen. Streikbedingt seien 462.000 Arbeitstage ausgefallen. Das liegt knapp unter dem Durchschnittswert für die Jahre 2011 bis 2014, so die Meldung 2016 wurde wieder weniger gestreikt. 2015 waren rund 2 Millionen Arbeitstage ausgefallen, als Paketboten und Erzieherinnen in lang anhaltende Konflikte um ihre Arbeitsbedingungen verwickelt waren. Ähnlich harte Streikauswirkungen waren davor im Jahr 1992 registriert worden.

Das Zahlenwerk geht zurück auf die vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichten WSI-Arbeitskampfbilanz 2016. Im Vergleich zu 2015 nahezu gleich geblieben ist 2016 hingegen die Anzahl der Streikteilnehmer mit knapp 1,1 Millionen. Wie ist dann der deutliche Rückgang der ausgefallenen Arbeitstage von 2 Mio. auf „nur“ noch 462.000 zu erklären? Es gibt solche und andere Streiks. Von den 1,1 Mio. Streikteilnehmern im vergangenen Jahr entfielen allein 800.000 auf die IG Metall, die an den meist kurzen Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie teilnahmen. Und weitere 200.000 Menschen beteiligten sich an den Warnstreiks der Gewerkschaft ver.di im Öffentlichen Dienst, an denen waren auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sowie einzelne zum dbb beamtenbund und tarifunion gehörende Gewerkschaften beteiligt, die seit mehreren Jahren im in einer Verhandlungsgemeinschaft zusammenarbeiten.

Im vergangenen Jahr sind also große, über Wochen andauernde Arbeitsniederlegungen ausgeblieben, was die deutlich niedrigere Zahl der Ausfalltage erklärt.

Bei der IG Metall und im Öffentlichen Dienst ging es um Flächentarifverträge. Aber mehr als drei Viertel der rund 200 Arbeitskämpfe im Jahr 2016 waren Auseinandersetzungen um Haus- und Firmentarifverträge:

»In vielen Fällen wurden die Verhandlungen lediglich von einzelnen, oft auch kürzeren Warnstreiks begleitet. Öffentlich wahrgenommen werden diese meist nur, wenn der Verkehrsbereich und insbesondere die Luftfahrt betroffen sind. 2016 galt dies für den von der Unabhängigen Flugbegleiterorganisation UFO organisierten Streik des Kabinenpersonals bei Eurowings sowie für die Streiks der Pilotinnen und Piloten im seit 2014 andauernden Tarifkonflikt zwischen Lufthansa und Vereinigung Cockpit.«

Interessant ist der Hinweis auf die Konfliktintensität im Gesundheitswesen, wenn denn dort einmal gestreikt wird. Dazu ein Fallbeispiel aus der WSI-Arbeitskampfbilanz 2016:

»Besonders lange dauerte 2016 die Auseinandersetzung um die Übernahme des Tarifergebnisses im öffentlichen Dienst für die Beschäftigten der AMEOS-Kliniken in Hildesheim und Osnabrück an. Hier brauchte es 11 Wochen Streik, um zu einem für die Streikenden akzeptablen Ergebnis zu kommen. Neben ver.di hatte auch die zum dbb gehörende GeNi Gewerkschaft für das Gesundheitswesen zum Streik aufgerufen. Auch der nicht am Tarifkonflikt beteiligte Marburger Bund hatte explizit seine Solidarität erklärt. Wie mühsam das Tarifgeschäft bei AMEOS ist, hatte sich bereits 2015 gezeigt. Damals konnte erst nach ebenfalls mehrwöchigen Streiks ein Haustarifvertrag abgeschlossen werden.«

Das ist auch interessant vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen im Bereich der Krankenhauspflege im Saarland, wo die Gewerkschaft ver.di für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege kämpft. Mit dem Themenfeld begann das Berichterstattungsjahr 2017 in diesem Blog: Und jährlich grüßt das Arbeitskampf-Murmeltier im Krankenhaus?, so ist der Beitrag vom 1. Januar 2017 überschrieben, in dem auch die Schwierigkeiten eines Arbeitskampfes im Bereich der Pflege behandelt wurden. Nun erfahren wir: Verdi bestreikt am Montag neun Kliniken. »Die Gewerkschaft Verdi macht im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen an den 22 Saar-Kliniken ernst: Für kommenden Montag, also wenige Tage vor der Landtagswahl, ruft sie die Mitarbeiter von neun Krankenhäusern zum Streik auf. Zudem wollen die Beschäftigten vormittags den Landtag „umzingeln“.«

Auch das WSI greift diesen Konflikt auf: »Interessant wird nach Einschätzung des Forschers der Fortgang der sehr breit angelegten Auseinandersetzung von ver.di um einen Tarifvertrag zur Entlastung des Pflegepersonals in den Kliniken des Saarlandes. Erklärtes Vorbild ist hier der 2015 erfolgte Durchbruch für bessere Arbeitsbedingungen an Deutschlands größter Klinik, der Charité in Berlin. Die Hürden zu einem umfassenden Pflegestreik im Saarland hat ver.di bewusst relativ hoch gehängt. Ein möglicher Streik für einen entsprechenden Tarifvertrag zur Entlastung wird ausdrücklich an die breite Unterstützung des Pflegepersonals in den betreffenden Krankenhäusern geknüpft. „Hier wird in verschiedener Hinsicht Neuland betreten, das Interesse an praktischen Schritten zur Entlastung ist nicht nur im Saarland unter dem Klinikpersonal groß“, sagt der Arbeitskampfexperte.«

Und bei ihrem Ausblick für das laufende Jahr 2017 hat das WSI die aktuelle Auseinandersetzung an den Berliner Flughäfen nicht vergessen: »Aktuell macht das Bodenpersonal an den Flughäfen Schönefeld und Tegel mit Streiks auf seine Forderungen nach besserer Bezahlung aufmerksam. Hier verhandelt ver.di für rund 2.000 Beschäftigte des Bodenpersonals, die häufig niedrig bezahlte Tätigkeiten wie Ladearbeiten, Check-in oder Fahren von Abfertigungsfahrzeugen ausüben.«

Zu den Hintergründen dieses Konflikts vgl. auch den Blog-Beitrag Sand im Flughafen-Getriebe. Wenn das von privatisierten Billigheimern an die Wand gedrückte Bodenpersonal den Flugverkehr lahmlegt vom 13. März 2017. Hier wurde der Streik des Bodenpersonals, der für den Montag angesetzt war, um einen Tag verlängert. Die Forderung der Gewerkschaft nach mehr Geld ist nicht nur von dem, was das Bodenpersonal leisten muss, sondern auch rückblickend gerechtfertigt, denn der Blick zurück zeigt eine deutliche Verschlechterung der Bedingungen bei gleichzeitiger Zunahme der Arbeit: Das Einkommensniveau des Bodenpersonals an den Berliner Flughäfen liegt heute um rund 30 Prozent unter dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, der bis zur Privatisierung vor gut acht Jahren angewendet wurde. 2016 wurden an allen deutschen Flughäfen rund 220 Millionen Passagier abgefertigt, vor zehn Jahren waren es noch gut 174 Millionen. Von der nahezu gleichen Anzahl der Beschäftigten in den Bodenverkehrsdiensten mussten rund 45 Millionen Passagiere mehr betreut werden, so die Gewerkschaftsangaben in dem Artikel Verdi erhöht den Druck im Flughafenstreik. Die Gewerkschaft »spricht im Zusammenhang mit der Berliner Situation, wo sich fünf Bodenverkehrsunternehmen im Kampf um Marktanteile mit Lohndumping wechselseitig in Bedrängnis bringen, von einem „perversen System. Die Situation der Beschäftigten – schlechte Löhne, Teilzeit, von einem Unternehmen ins nächste geschoben – ist in Berlin so schlecht wie an keinem anderen Flughafen“.« Dazu auch der Beitrag Wettbewerbsstrukturen machen Tarifkonflikt schwer lösbar, in dem Bezug genommen wird auf meinen Beitrag zum Streik des Bodenpersonals vom 13.03.2017: »Bis 2008 lag das Be- und Entladen der Flugzeuge, der Check-In und das Einweisen der Maschinen in der Hand eines einzigen Dienstleisters. Die Globe Ground gehörte der Flughafengesellschaft und der Lufthansa. Die Tariflöhne waren auskömmlich. Der Verkauf von Globe Ground und die Zulassung von insgesamt fünf Wettbewerbern in Tegel und Schönefeld änderten Struktur und Löhne der Branche grundlegend … Fünf Bodendienstleister – Wisag, AHS, Swissport, AeroGround und Ground Solution – konkurrieren um die Abfertigungsaufträge. Dazu kommen Tochter- und Enkelfirmen, die dann noch einmal unternehmensintern um Aufträge ihrer Muttergesellschaften ringen. Sie stellen zu noch schlechteren Tarifbedingungen ein oder heuern Leiharbeiter an. Bodendienstleister haben wegen der schlechten Bezahlung längst Probleme, Mitarbeiter zu finden. Mehr zahlen können sie aber innerhalb dieser Wettbewerbsstruktur nur, wenn sie die eigene Pleite in Kauf nehmen.«

Wie schwierig eine Auflösung dieses Konflikts ist, kann man auch diesem Bericht entnehmen: Verdi kündigt Streikpause bis nächsten Montag an. „Wir haben uns zu dieser Streikpause entschlossen, um den Arbeitgebern eine weitere Nachdenkpause zu gewähren“, heißt es von der Gewerkschaft. Noch kurze Zeit vorher standen die Zeichen auf eine weitere Eskalation des Konflikts, als bekannt wurde, dass der Billigflieger Ryanair Streikbrecher engagiert hat:

»In Schönefeld hat Ryanair laut Verdi eigenes Personal aus dem Ausland eingeflogen, das zwölf Flüge der irischen Billigfluglinie abfertigen soll. Auch Easyjet will sechs Flüge abfertigen und dafür offenbar eingeflogenes Personal einsetzen … Verdi wirft Ryanair und dem Flughafen zudem vor, dass die Streikbrecher von Ryanair ohne Sicherheitsüberprüfung auf dem Vorfeld im Einsatz seien … Die Flughafengesellschaft bestätigte auf Anfrage, dass sie acht Mitarbeitern von Ryanair eine Zutrittsgenehmigung zum Luftsicherheitsbereich des Flughafens Schönefeld ausgestellt habe … Verdi behauptet zudem, dass die eingeflogenen Ryanair-Arbeiter keine Genehmigung für die Bedienung der Maschinen hätten. Daher müssten sie die Koffer von Hand entladen. Die „Koffermuli“-Fahrzeuge und die Schlepper-Fahrzeuge würden von den Geschäftsführern der Bodenverkehrs-Dienstleister selbst gefahren. Ryanair-Mitarbeiter seien zudem teilweise in Turnschuhen und Jeans gekleidet und würden keine vorgeschriebene Schutzkleidung tragen. Die Gewerkschaft hat nach eigener Aussage auch diese angeblichen Verstöße dokumentiert und dem Luftfahrtbundesamt zugeleitet. Ryanair reagierte gereizt auf den Gegenwind der Gewerkschaft.«

Man sieht, mit welchen Bandagen hier gekämpft wird.

Jetzt die Dienstleistungen als – ambivalente – Speerspitze der Arbeiterbewegung? Von der Tertiarisierung der Streiks, Häuserkämpfen und „Organizing“ als Hoffnungsträger

»Der Schwerpunkt der Arbeitskämpfe in Deutschland verschiebt sich immer mehr vom produzierenden Gewerbe auf den Dienstleistungsbereich. Dabei sind zunehmend Dritte – etwa Flugreisende, Bank- und Einzelhandelskunden, Brief- oder Paketempfänger – von Streiks betroffen.« Die Gewerkschaft Verdi würde auf Mitgliederverluste, eine rückläufige Tarifbindung und Konkurrenzgewerkschaften „mit einer expansiven Tarifpolitik“ antworten, so der Artikel Streiks treffen immer mehr Privatpersonen. Dieser bezieht sich auf Beobachtungen und Schlussfolgerungen des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Verdi im Kampfmodus, so kann man es beim Institut selbst lesen. »Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) verfolgt … eine zunehmend harte Tarifpolitik. So genehmigte Verdi zwischen 2004 und 2007 durchschnittlich 70 Arbeitskämpfe pro Jahr. Zwischen 2008 und 2014 stieg die Zahl dann auf durchschnittlich 151 … Während es zwischen 1990 und 2005 deutlich mehr Streiks im Produzierenden Gewerbe gab, entfielen zwischen 2005 und 2015 rund 80 Prozent aller Streiktage auf Dienstleistungsbranchen.«

Zu diesen Entwicklungen hat das Institut eine Studie veröffentlicht, die das genauer analysiert:

Hagen Lesch (2016): Die Dienstleistungsgewerkschaft  ver.di – Tarifpolitische Entwicklungen und Herausforderungen, in: IW-Trends, Heft 4/2016

Im Jahr 2001 haben sich fünf Gewerkschaften zur Vereinten Dienstleis­tungsgewerkschaft  (ver.di) zusammengeschlossen.  In den Jahren nach Gründung 2001 habe die Gewerkschaft rund 600.000 Mitglieder verloren, ein Minus von 27 Prozent. Die Jahre nach dem Zusammenschluss waren mehr als mager: Die Tarifabschlüsse waren damals niedrig und ver.di bekam Konkurrenz durch Sparten- bzw. Berufsgewerkschaften wie in der Luftfahrtbranche (Ufo für die Flugbegleiter, die Vereinigung Cockpit für die Piloten) oder im Gesundheitswesen durch den Marburger Bund (für die Krankenhausärzte). Die Tarifbindung ging in einzelnen Tarifbereichen spürbar zurück. So sank der Anteil der tarifgebundenen Arbeitnehmer im westdeutschen Handel von 69 Prozent im Jahr 2000 auf zuletzt 42 Prozent.

Mittlerweile »hat sich der Mitgliederrückgang in den letzten Jahren verlangsamt und es gelang in vielen Tarifbereichen, wieder Anschluss an die allgemeine Lohnentwicklung zu finden«, so Lesch in seiner Studie. Mit heute gut 2 Millionen Mitgliedern ist sie nach der IG Metall die zweitgrößte deutsche Gewerkschaft.

Schaut man sich das Jahr 2015 hinsichtlich der Streikaktivitäten in Deutschland an, dann liegt die Diagnose einer deutlichen Zunahme der Arbeitskämpfe nahe. Zu den Werten für 2015 erläutert das WSI: Die erhebliche Steigerung gegenüber 2014 (2,02 Millionen gegenüber 392.000 Streiktage) beruht im Wesentlichen auf zwei großen Auseinandersetzungen. Allein 1,5 der zwei Millionen Streiktage entfielen auf den Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst sowie den Streik bei der Post (was die These einer Tertiarisierung der Arbeitskämpfe zu bestätigen scheint). Hinzu kam zu Beginn des letzten Jahres eine breite Warnstreikwelle in der Metall- und Elektroindustrie. Im internationalen Vergleich wird in Deutschland gleichwohl weiterhin relativ wenig gestreikt (vgl. dazu genauer WSI: Ein außergewöhnliches Streikjahr – Zwei Millionen Streiktage, ganz unterschiedliche Arbeitskämpfe fielen zusammen. WSI-Arbeitskampfbilanz 2015, Düsseldorf, 03.03.0216).

Und 2016? Die Zahl der Streiktage im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurückgegangen. Also war 2015 doch nur ein „Ausrutscher“? Das nun auch wieder nicht. In den ersten sechs Monaten 2016 fanden nach WSI-Angaben 405.000 Arbeitstage wegen Streiks nicht statt – und damit mehr als im ganzen Jahr 2014.

»Es waren nicht die großen Auseinandersetzungen um Flächentarifverträge, die das Bild 2016 prägten. Vielmehr zeigen die vielen Arbeitskämpfe auf Unternehmens- und Betriebsebene eine Tendenz zur Fragmentierung. Das liegt zum einen daran, dass die Branchentarifverträge an Reichweite und Prägekraft verloren haben. Unternehmen entziehen sich der Tarifbindung oder gehen diese gar nicht erst ein. Zum anderen hat sich insbesondere in ehemals staatlich gelenkten Bereichen ein Wettbewerb der Gewerkschaften entwickelt: Bei Bahn und Lufthansa konkurrieren die DGB-Gewerkschaften mit Spartenorganisationen, was auf allen Seiten die Konfliktbereitschaft schürt«, so Daniel Behruzi in seinem Artikel Konflikte, die bleiben und damit den Finger auf den entscheidenden Punkt der qualitativen Veränderungen legend, die auch quantitative Auswirkungen haben.

Und die qualitativen Verschiebungen sind wesentlich bedeutsamer als die nur nackten Zahlen, die oftmals verzerrt sind hinsichtlich ihrer Aussagefähigkeit, behandeln sich doch jeden Streikenden und jeden ausgefallenen Arbeitstag gleich, was dazu führt, dass völlig unterschiedliche Streikaktionen nivelliert werden zu einem standardisierten Streikenden/Streiktag.

Behruzi formuliert das so: »Rein quantitativ sind die Tarifkonflikte in der Fläche freilich weiterhin entscheidend. Allein die IG Metall zählte bei ihren Warnstreiks im Frühjahr 2016 rund 800.000 Beteiligte in mehreren tausend Betrieben. Damit hat Europas größte Industriegewerkschaft zwar eine Tarifstrategie etabliert, in der flächendeckende Warnstreiks die Regel sind. Eine wirkliche Streikbewegung ist das allerdings nicht. Die Metaller gehen zu Tausenden diszipliniert einige Stunden vors Tor. Und dann ebenso diszipliniert wieder an die Arbeit. Das reicht, um die immer noch gut verdienenden Konzerne dazu zu bewegen, ein paar Zugeständnisse zu machen … Die Metaller-Warnstreiks bleiben Teil eines Rituals, keines Machtkampfs. Sie zeigen den Unternehmern den Ausstand als »Schwert an der Wand«, das dort hängen bleiben soll.«

Diese eher „symbolische“ Form des Arbeitskampfes richtet sich zum einen an die kollektive Seele der Organisation und soll eine Binnenwirkung entfalten, zugleich wird die korporatistische Verflechtung mit den (zumeist größeren) Unternehmen nicht wirklich gestört bzw. durch eine Konfliktstrategie zerstört. Man könnte anmerken, wenigstens übt die IG Metall hin und wieder den Streik an sich und wenn auch nur stundenweise. Bei der IG BCE wurde seit Jahrzehnten nicht mehr gestreikt, wahrscheinlich bräuchten deren Funktionäre Unterstützung aus kampferfahrenen Organisationen, wie man das eigentlich macht.
»Anders sind die Verhältnisse in den Dienstleistungsbranchen, wo von kooperativer Einbindung der Gewerkschaften zumeist keine Rede sein kann. Hier müssen die Beschäftigtenorganisationen zum Teil darum kämpfen, überhaupt als Verhandlungspartner akzeptiert zu werden«, schreibt Behruzi und nennt das Beispiel Amazon, wo sich die ver.di-Aktivisten seit Jahren durch immer wiederkehrende Streikaktionen bislang aber die Zähne ausbeißen. Seit Frühjahr 2013 zieht sich diese wegen ihrer Signalwirkung bedeutende Auseinandersetzung hin, in der sich der Konzern bisher hartnäckig weigert, überhaupt mit ver.di in Tarifverhandlungen einzutreten.
Interessanterweise sieht Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) genau diesen Bereich äußerst kritisch hinsichtlich möglicher negativer Folgen für die Gewerkschaft selbst:

»Als Multibranchengewerkschaft mit den meisten Tarifbereichen steht ver.di vor großen Herausforderungen. Das Hauptproblem dürfte sein, sich nicht in endlosen Kleinkonflikten wie beim Versandhändler Amazon zu verlieren. Angesichts der organisatorischen Breite führen Häuserkämpfe zu einem enormen personellen wie finanziellen Ressourcenverbrauch. Da einzelne Fachbereiche hiervon unterschiedlich betroffen sind, könnte dies langfristig den Zusammenhalt der Multibranchengewerkschaft gefährden.« (Lesch 2016: 36).

Wobei man darauf hinweisen muss, dass eine Strategie des „Häuserkampfs“ nicht per se eine ist, die man als Gewerkschaft vermeiden sollte, ganz im Gegenteil, wenn die Bedingungen stimmen. Man schaue sich nur die durchaus erkennbaren Erfolge an, die von der IG Metall vermeldet werden, wenn es um die „Eroberung“ von Unternehmen geht, die bislang aufgrund der Nicht-Zuständigkeit der IG Metall deutlich schlechtere, nicht selten gar keine Tarifstandards aufzuweisen hatten und dann als Werkvertragsunternehmen enormen Druck auf die hohen tariflichen Standards der Kernbelegschaften ausgeübt haben und das immer noch tun. Aber seit einiger Zeit investiert die IG Metall eine Menge in den Häuserkampf im Sinne einer „Eroberung“ der Kontraktlogistik-Unternehmen über betriebliche Mitbestimmungssstrukturen und die anschließende Tarifbindung der Betriebe (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Wenn der starke Arm immer kürzer wird. Theorie und Praxis eines tarifpolitischen Umgangs mit der problematischen Instrumentalisierung von Werkverträgen am Beispiel der IG Metall vom 10. Mai 2016). Für die IG Metall macht das Sinn, es gibt eben nicht wie bei der Multibranchengewerkschaft ver.di das Ungleichverteilungsproblem der dann auch noch sehr knappen Ressourcen auf einige wenige Bereiche, wo die Häuserkampf-Strategie gemacht wird, während die anderen dafür zahlen müssen. Und die IG Metall hat natürlich auch a) andere Ressourcen zur Verfügung als ver.di und b) ist die Organisation immer noch wesentlich zentralistischer geführt und führbar, was bei den vielfältigen Dienstleistungen schlichtweg nicht vorstellbar wäre.
Und ein neues Konfliktfeld beginnt sich zu strukturieren: In »Einrichtungen des Gesundheitswesens wächst durch die Ökonomisierung das Konfliktpotential. So in den Krankenhäusern, wo die Rationalisierung in den vergangenen Jahren eine neue Qualität erreicht hat. Nach dem Erfolg am Berliner Uniklinikum Charité – wo im April 2016 erstmals personelle Mindestbesetzungen per Tarifvertrag festgeschrieben wurden – begeben sich auch andere Krankenhausbelegschaften auf diesen Weg.« Allerdings ist das hier ein richtig vermintes Gelände. Unbestritten ein wichtiger Etappensieg war der kurze unbefristete Streik in der Charité, der erfolgreich beendet werden konnte (vgl. dazu Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart vom 1. Juli 2015). Auf der anderen Seite muss man durchaus mehr als skeptisch sein, was die Chance eines auch nur mittelfristig erreichbaren Durchbruchs im Gesundheitswesen angeht (vgl. dazu Und jährlich grüßt das Arbeitskampf-Murmeltier im Krankenhaus? vom 1. Januar 2017).

Man muss schlichtweg zur Kenntnis nehmen, dass die Voraussetzungen beispielsweise für einen großen Pflegestreik, der im Grunde unbedingt erforderlich wäre, um einen Durchbruch erzielen zu können, hundsmiserabel schlecht sind. Und das meint nicht nur den immer noch niedrigen Organisationsgrad der in den Krankenhäusern und Pflegeheimen bzw. -diensten Beschäftigten, so dass der Gewerkschaft oftmals die Masse fehlen würde für einen Arbeitskampf. Hinzu kommt, dass gerade im Sozial- und Gesundheitsbereich viele Einrichtungen in konfessioneller Trägerschaft sind, so dass hier gar keine rechtliche Möglichkeiten für einen Arbeitskampf bestehen. Selbst wenn das Personal dort streiken wollte – es dürfte nicht. Was wiederum der Gewerkschaft ein wichtiges Druckmittel, aber auch eine Rekrutierungsmöglichkeit nimmt.
Und auch das sollte nicht verschwiegen werden: Selbst wenn ver.di in einen harten Arbeitskampf geht, waren die Erfolge bei den beiden bereits erwähnten Großkonflikten im Jahr 2015, also der Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst (oft arg verkürzend als „Kita-Streik“ tituliert) sowie der Streik bei der Post, mehr als überschaubar, wenn nicht deprimierend (vgl. zu dieser explizit kritischen Sichtweise am Beispiel des „Kita-Streiks“ den Beitrag Da war doch noch was: Ein Arbeitskampf => ein Schlichtungsergebnis => dessen Ablehnung von unten => neue Verhandlungen nach der Wiederwahl des Vorsitzenden => eine Wiederauferstehung des Schlichtungsergebnisses, garniert mit kosmetischen Korrekturen vom 7. Oktober 2015 sowie zum letztendlich gescheiterten Streik bei der Deutschen Post den Beitrag Das Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015).
Wobei man fairerweise auch darauf hinweisen muss, dass der Gewerkschaft ver.di nicht selten die Hände gebunden sind, weil die Beschäftigten in vielen Dienstleistungsbranchen nicht wirklich bereit und willens sind, sich zu organisieren, damit man einen entsprechenden Organisationsgrad erreicht, mit dem man auch von den Arbeitgebern auf Augenhöhe wahrgenommen wird. Wenn im Einzelhandel von zehn Verkäuferinnen eine gewerkschaftlich organisiert ist, dann werden sich die Arbeitgeber nicht wirklich fürchten (müssen) vor Arbeitskampfmaßnahmen.
Wie immer stellen sich dann abschließend zwei Fragen: Gibt es Hoffnung und was tun?
Vielleicht hilft das hier: Die neue Kampfkultur der Gewerkschaften, so der Titel eines Beitrags, den Deutschlandradio Kultur am 10.10.2017 ausgestrahlt hat. „Organizing“ heißt der neue Schlüsselbegriff der deutschen Gewerkschaftsarbeit. „Organizing beinhaltet eine bestimmte Grundhaltung und orientiert sich am Leitgedanken einer Offensivstrategie“, so heißt es selbstbewusst im „Handbuch Organizing“ der IG Metall. Das Grundprinzip des Organizing baut auf dem Dreischritt „Wut-Hoffnung-Aktion“ auf. Ein Gewerkschafter erläutert das so:

»Weniger Stellvertreterpolitik. Und mehr direkte Beteiligung der Beschäftigten. Dafür ist es notwendig, die Kolleginnen und Kollegen zu aktivieren und konsequent in Handlungen und Entscheidungen einzubeziehen. Diese Beteiligung ist die Voraussetzung von Demokratie und Emanzipation. Ein solches Vorgehen braucht Zeit und Geduld, ist aber dafür nachhaltig. Es gilt der Grundsatz: Tue nie etwas, was die Kolleginnen und Kollegen selbst tun können.«

Es geht darum, bisher passive und duldsame Menschen zu aktivieren. Ein Modell jenseits der klassischen deutschen Sozialpartnerschaft: Organizing will Wut und Konflikte. Das Konzept kommt aus den USA:

»Mitte der 90er begann die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU mit Organizing und verdoppelte innerhalb von einem Dutzend Jahren ihre Mitgliederzahl, von 900.000 auf 1,8 Millionen. Daran wollen jetzt auch die deutschen Gewerkschaften anknüpfen: Mehr Kampf, Gefühl und Basisdemokratie.«

Und – gibt es Hoffnung? Durchaus, wenn man den Beispielen im Beitrag folgt: Ein Organizing-Pilotprojekt für das Prekariat in den modernsten Autofabriken Deutschlands in der Region Leipzig oder die Aktivitäten in und um die Charité herum.

Es wird ein langer und steiniger Weg, aber die Zeiten des alten Gewerkschaftsverständnisses sind in den Dienstleistungen definitiv vorbei. Insofern bleibt Hoffnung angesichts der vielfältigen neuen Aktivitäten, zugleich aber sollte man sich der Ambivalenz bewusst sein, die darin liegt, dass nunmehr die Dienstleistungen die Speerspitze der deutschen Arbeiterbewegung bilden sollen. Bis dahin ist es noch ein ordentliches Stück Weg.

Und nebenbei wird in diesem Jahr auch noch eine ganz grundsätzliche Frage höchstrichterlich unter die Lupe genommen und entschieden werden – das Tarifeinheitsgesetz. Dieses umstrittene Gesetz schränkt die Verhandlungsmacht kleiner Gewerkschaften deutlich ein. Es sieht vor, dass bei »Tarifkollisionen« nur noch der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gilt, die in dem betreffenden Betrieb die meisten Mitglieder hat. Seit Juli 2015 ist es in Kraft und dagegen haben mehrere (potenziell) betroffene Sparten- und Berufsgewerkschaften Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben. Aber nicht nur die, sondern auch ver.di hat in Karlsruhe gegen das Gesetz Klage erhoben.

»Befürworter sehen darin eine Stärkung der Solidargemeinschaft im Betrieb: Einzelne Berufsgruppen sollen sich nicht besser stellen können, ohne dass die anderen Beschäftigten daran teilhaben. Kritiker rügen eine massive Einschränkung von Grundrechten: Wer zur Minderheit gehört, brauche nicht zu hoffen, dass seine Gewerkschaft noch einen attraktiven Tarifvertrag aushandele. Er müsse sich mit der Standardware begnügen, welche die Mehrheit ausgehandelt habe. Das wird auch für die kleinen Gewerkschaften (also GDL etc.) zum Problem: Warum sollte dort jemand Mitglied bleiben und Beiträge zahlen, wenn die Minderheit ohnehin keine Handlungsmacht hat?«, so Gerrit Forst in seinem Beitrag Das Tarifeinheitsgesetz und seine Folgen.

Das Bundesverfassungsgericht hat es im Oktober 2015 zwar abgelehnt, die Anwendung des neuen Rechts bis zu einer endgültigen Klärung der Rechtslage auszusetzen. Gestützt hat es dies aber allein auf verfahrensrechtliche Erwägungen, die über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nichts aussagen (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Das höchst umstrittene Tarifeinheitsgesetz scheitert nicht am Bundesverfassungsgericht. Jedenfalls nicht auf die Schnelle vom 11. Oktober 2015). Grundsätzlich kann man tatsächlich eine Menge Einwände gegen dieses Gesetz vortragen, vgl. dazu die Beiträge Von der Tarifeinheit zur Tarifpluralität und wieder zurück – für die eine Seite. Und über die Geburt eines „Bürokratiemonsters“ vom 22. Mai 2015 sowie Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“ vom 5. März 2015.

Wie dem auch sei, in diesem Jahr wird Karlsruhe entscheiden müssen. »Auf zwei Verhandlungstage hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe seine öffentliche Beratung über das umstrittene Tarifeinheitsgesetz der großen Koalition angesetzt. Prozesstermin ist am 24. und 25. Januar«, kann man diesem Artikel entnehmen: Tarifeinheit vor Verfassungsgericht (es geht um diese Verfahren: Az.: 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16). Offensichtlich wollen sich die Verfassungsrichter ausreichend Zeit nehmen, um ihre Fragen zu klären. Das sieht nicht so aus, als sein schon klar, dass sie das Gesetz einfach durchwinken werden.