Und vor jeder neuen Legislaturperiode grüßt die „Bürgerversicherung“. Über ein fundamentales Umbauanliegen und das Schattenboxen vor dem Haifischbecken

Die Cineasten unter den Lesern werden den Klassiker „Und täglich grüßt das Murmeltier“ aus dem Jahr 1993 kennen. Bill Murray spielt darin einen arroganten, egozentrischen und zynischen Wetteransager, der in einer Zeitschleife festsitzt und ein und denselben Tag immer wieder erlebt, bis er als geläuterter Mann sein Leben fortsetzen kann. In so einer Zeitschleife scheint ganz offensichtlich auch die Forderung nach einer „Bürgerversicherung“ festzustecken – wobei die Läuterung, die zur Auflösung der andauernden Wiederholung der Forderung und dann deren Nicht-Einlösung derzeit noch auf sich warten lässt.

Wenn man schon einige Jahre unterwegs ist in der Sozialpolitik, dann kennt man das Prozedere. Nehmen wir als Beispiel die erste Große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD, die 2005 nach der Abwahl der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder gebildet werden musste. CDU/CSU und SPD waren mit grundsätzlich verschiedenen Konzepten für einen Systemwechsel, zumindest hinsichtlich der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, in den Wahlkampf 2005 gezogen („Bürgerversicherung“ versus „Gesundheitsprämie“). Diese beiden Konzepte waren derart unterschiedlich, dass sie für die Jahre 2005 bis 2009 stillgelegt werden mussten (vgl. zur Bilanz der damaligen GroKo, in deren Mittelpunkt der Gesundheitsfonds stand, diesen Beitrag: Stefan Sell: Die Suche nach der Goldformel. Bürgerversicherung oder Kopfpauschale – trotz großer Gegensätze haben Union und SPD die Gesundheitspolitik vier Jahre lang gemeinsam gelenkt. Das Zauberwort für die schwarz-rote Reform heißt Gesundheitsfonds, in: Gesundheit und Gesellschaft, Heft 7-8/2009, S. 35-41).

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Wenn Wissenschaftler im Haifischbecken kreisen. Vorschläge zur Reform der Geldverteilmaschine Risikostrukturausgleich

»Der Finanzausgleich zwischen den Kassen ist eine hochpolitische Angelegenheit, es geht um die Verteilung von rund 200 Milliarden Euro im Jahr. Dass diese Geldverteilmaschine seit ihrem Start 2009 erst zum zweiten Mal wissenschaftlich untersucht wurde, ist ein Unding«, schreibt Florian Staeck in seinem Kommentar, den er mit Das 200 Milliarden-Monster überschrieben hat. Es geht – verknüpft mit dem Gesundheitsfonds – um den „Morbi-RSA“, also um den „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich“. Dieser wurde – ursprünglich als Weiterentwicklung des alten, seit 1995 geltenden Ausgleichssystems seit 2001 für 2007 geplant – im Jahr 2009 mit dem Gesundheitsfonds dann tatsächlich auch eingeführt. Das Grundanliegen kommt sympathisch rüber: »Die Mittel des Gesundheitsfonds sollen so an die Krankenkassen verteilt werden, dass sie da ankommen, wo sie zur Versorgung der Versicherten am dringendsten benötigt werden. Zunächst erhält jede Krankenkasse für jeden Versicherten eine Grundpauschale in Höhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben in der GKV. Für eine Krankenkasse mit vielen alten und kranken Versicherten reicht dieser Betrag naturgemäß nicht aus, während eine Krankenkasse mit vielen jungen und gesunden Versicherten zuviel Geld erhielte. Daher wird diese Grundpauschale durch ein System von Zu- und Abschlägen angepasst. Neben den bisherigen Merkmalen des Risikostrukturausgleichs – Alter, Geschlecht und Bezug einer Erwerbsminderungsrente – soll dabei auch die anhand von 80 ausgewählten Krankheiten gemessene Krankheitslast der Krankenkassen berücksichtigt werden«, so das Bundesversicherungsamt in einer Darstellung des Risikostrukturausgleichs. Nun hört sich das mit dem Ausgleich der besonders hohen Ausgaben, die mit bestimmten Krankheiten verbunden sind, einfacher an als es dann in der Praxis ist.

Man ahnt schon, wo das methodische Grundproblem liegt: Wenn man (lediglich) klar abgrenzbare Hochkosten-Fälle berücksichtigt, ist das nachvollziehbar und auch kaum manipulationsanfällig – denn eine relativ seltene, aber extrem kostenintensive Autoimmunerkrankung lässt sich gut abgrenzen.

Problematisch wird es dann, wenn man das Spektrum der berücksichtigungsfähigen Krankheiten seht weit aufmacht und die Frage der (Nicht-)Diagnose einem gewissen „Gestaltungsspielraum“ unterliegt. Dann werden Anreize in die Welt gesetzt, die man nutzen kann. Was offensichtlich, so die Kritiker, auch passiert (ist).

Und gerade an dieser Stelle hat es in der Vergangenheit mächtig geknallt zwischen den verschiedenen Kassen(arten). Im vergangenen Jahr gab es eine intensive Debatte über konkrete Manipulationsvorwürfe (vgl. hierzu den Beitrag Wenn der „mordbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“ Anreize setzt, Patienten morbider zu machen als sie sind und denen das dann schmerzhaft auf die Füße fallen kann vom 7. November 2016).

Auch aus der Forschung wurden statistische Hinweise auf „Gestaltungsaktivitäten“ geliefert, vgl. hierzu die Studie Sebastian Bauhoff, Lisa Fischer, Dirk Göpffarth and Amelie C. Wuppermann (2017): Plan Responses to Diagnosis-Based Payment: Evidence from Germany’s Morbidity-Based Risk Adjustment. CESifo Working Papers 65017, Munich, May 2017.

Reformen an dem komplexen Verteilungsalgorithmus des Morbi-RSA werden insbesondere von Ersatz, Betriebs- und Innungskassen gefordert, und zwar so rasch wie möglich. Die AOKen profitieren hingegen derzeit von dem Mechanismus und haben andere Interessen. Bundesgesundheitsminister Hermann Größe (CDU) hat Ende 2016 reagiert – und ein Gutachten in Auftrag gegeben. Unter anderem soll auch evaluiert werden, wie eine Manipulationsanfälligkeit des Finanzausgleichs in Zukunft verhindert werden kann. So ein Gutachten unter Haifischbecken-Bedingungen kann natürlich nicht in einem aseptischen Raum der Wissenschaft erarbeitet werden, dafür geht s hier offensichtlich um zu viel Geld. Außerdem sind die Wissenschaftler, die mit dem Gutachten beauftragt wurden (konkret handelt es sich um einen Anfang 2017 extra einberufenen Wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs), gerade nicht dem Elfenbeinturm verhaftet, sondern selbst teilweise Multi-Akteure innerhalb des Systems, was man beispielsweise an der Person des Vorsitzenden, Prof. Dr. Jürgen Wasem, studieren kann. Man schaue sich nur die beeindruckende Liste an Mitgliedschaften in Kommissionen und Institutionen an. Auf der einen Seite ist das verständlich, dass man mit so einer Aufgabe nur Leute beauftragen kann, die sich in dem hyperkomplexen System des Gesundheitswesens auch auskennen, auf der anderen Seite ist dann natürlich auch die Gefahr einer institutionengetriebenen „hidden agenda“ nicht unplausibel.  Darüber wurde bereits in diesem Beitrag vom 11. September 2017 berichtet: Die Krankenkassen auf dem wahren Schlachtfeld. Wo es um das ganz große Geld geht. Der „Morbi-RSA“ als höchst umstrittene Verteilungsformel im Gesundheitswesen.

Rechtzeitig zum Start der Koalitionssondierungen sollten die Wissenschaftler ihr Gutachten vorlegen. Nun liegen die ersten Ergebnisse der Arbeit des Beirats vor, dieser Auftrag wurde also mit einer Punktlandung erfüllt.

Am Tag, als der Beirat das Gutachten vorgestellt hat, erschien in der „Ärzte Zeitung“ dieser Artikel: Morbi-RSA – Streit um Geld und Diagnosen. Dort wurde darauf hingewiesen, dass insbesondere zwei miteinander verwobene Problemkreise die Reform des Morbi-RSA komplex und konfliktträchtig machen: Zum einen massive finanzielle Folgen für die Kassen durch bereits kleine Veränderungen am Algorithmus sowie die Frage der Manipulationsresistenz des Morbi-RSA.

Nach der Präsentation des neuen Gutachtens konnte man dann in der „Ärzte Zeitung“ diesen Artikel lesen: Neue Regeln für Morbi-RSA: „Mehr Geld für Kranke, weniger für Gesunde“. Das hört sich für den außenstehenden Zuschauer doch recht vernünftig an.
Der Vorsitzende des Beirats, Jürgen Wasem, wird mit diesen Worten zitiert: „Das ist ein guter Tag für Kranke.“ Den historisch Bewanderten erinnert das sehr an den ersten Satz von Peter Hartz, als er 2002 die Empfehlungen der „Hartz-Kommission“ zusammen mit dem damaligen Bundeskanzler Schröder der Öffentlichkeit vorgestellt hat, auch da war von einem „guten Tag“, in dem Fall für die Arbeitslosen in Deutschland die Rede.

Was nun hat die Kommission vorgeschlagen? Das „Sondergutachten zu den Wirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs“ kann man noch nicht im Original auf der Beiratsseite finden, aber immerhin eine Zusammenfassung, der man die Grundlinien der Argumentation des Gutachtens entnehmen kann.

Zu den wichtigsten Vorschlägen in dem Gutachten gehören sicher diese drei Punkte:

  • Bisher werden nur 80 ausgewählte Krankheiten im Finanzausgleich besonders berücksichtigt. Die Experten empfehlen ein Vollmodell, das also alle Krankheiten berücksichtigt. Man will also die Zielgenauigkeit der Zuweisungen über den RSA dadurch erhöhen, dass man alle Kosten berücksichtigt.
  • Und anders als auch von manchen Kassen gefordert, empfehlen die Experten nicht, im RSA auf Diagnosen, die in der ambulanten Versorgung erhoben werden, zu verzichten. An denen bzw. deren Qualität hatten sich die Manipulationsvorwürfe festgemacht.
  • Einen Risikopool, durch den die Kosten besonders „teurer“ Versicherter abgedeckt werden könnten, empfehlen die Experten nicht vorbehaltlos. Man habe keine systematische Benachteiligung von Kassen beobachten können, die einen besonders hohen Anteil von Hochkostenfällen versichern, sagte Wasem. Bis Ende 2008 hat es im RSA einen solchen Risikopool gegeben, er war dann mit dem Start des Morbi-RSA entfallen.

Vor allem das Vollmodell, das im Gutachten vorgeschlagen wird, würde sicher nicht die Komplexität des Systems verringern. Komplexitätssteigernde Effekte sind auch durch einen noch ausstehenden Folgeauftrag an das Gremium zu erwarten: Ende April 2018 wird der Wissenschaftliche Beirat erneut ein Gutachten vorlegen, das vom Bundesgesundheitsministerium angefordert wurde. Dieses wird sich damit beschäftigen, ob eine regionale Versorgungskomponente in den RSA eingefügt werden soll. Hintergrund ist, dass die Versorgung in Ballungsregionen oft höhere Kosten verursacht als in ländlichen Regionen. Ein weiterer Hintergrund ist das Drängen reicher Bundesländer wie Bayern, die Umverteilungskomponente zu ihren Gunsten zu reduzieren.

Natürlich wird jetzt intensiv gestritten über die Vorschläge – und ein konsensuales Ergebnis ist naturgemäß nicht zu erwarten. Die ersten Reaktionen der einzelnen Kassenarten verdeutlichen das:

»Der Ersatzkassenverband vdek kritisierte, dass das Sondergutachten des Wissenschaftlichen Beirats keine Lösungen enthalte, wie die finanzielle Benachteiligung der Ersatzkassen und ihrer Versicherten im Morbi-RSA kurzfristig beseitigt werden könnte. Stattdessen werde ein Krankheitsvollmodell vorgeschlagen, das bereits überdeckte Kassen und Kassenarten weiter bevorteile.

Auch die BKK zeigte sich enttäuscht über das Gutachten. Das Bündel der vorgelegten Empfehlungen gehe an den tatsächlichen Wettbewerbsverzerrungen zwischen Kassen und Kassenarten vorbei, so Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbands in einer Pressemitteilung. Denn die Vorschläge bewegten sich allesamt im technokratischen Umfeld des gegenwärtigen RSA, der diese Probleme erst geschaffen habe. Als „befremdlich und praxisfern“ bezeichnete er zudem die Nichtberücksichtigung der Unterschiede bei den Zusatzbeitragssätzen.

Als gute Basis für die Weiterentwicklung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) bezeichnet hingegen der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, das Sondergutachten zum Morbi-RSA.«

Es ist mehr als schwierig, sich in diesem interessenverminten Gelände zu bewegen. Vielleicht hilft eine grundsätzliche Rückbesinnung: Der Beirat, der nach 2001 für die Ausarbeitung eines neuen RSA zuständig war, hatte dafür plädiert, vor allem besonders teure Krankheiten auszugleichen. Der entsprechende Gesetzentwurf sah vor, dass diese Krankheiten „eng abgrenzbar, schwerwiegend und chronisch“ sein und eine „besonders Bedeutung für das Versorgungsgeschehen“ haben müssten. Vor allem aber sollten die durchschnittlichen Behandlungskosten je Patient die durchschnittlichen Leistungsausgaben für alle Versicherten um mindestens 50 Prozent übersteigen. Der Beirat hatte bewusst Erkrankungen wie Rheuma, einfache Diabetes, Asthma oder Depressionen ohne schweres Krankheitsbild nicht in die Liste aufgenommen, weil sie zwar häufig vorkommen, aber keine hohen Behandlungskosten auslösen und oft auch schwer abgrenzbar und zu diagnostizieren sind.

Diesem Votum war man schlussendlich nicht gefolgt, sondern hatte mit den 80 finanziell besonders „wertvollen“ Erkrankungen dann eine weite Abgrenzung gewählt, die nun noch einmal geweitet werden soll, wenn man dem neuen Gutachten folgen würde. Bereits bei der veränderten Beschlussfassung den bestehenden Morbi-RSA betreffend wurde aus den Reihen des alten Beirats, der damals geschlossen zurückgetreten ist, vor der Manipulationsanfälligkeit einer zu weiten Berücksichtigung gewarnt und der damalige Vorsitzende, der Bremer Gesundheitsökonom Gerd Glaeske, sah sogar die Gefahr einer Morbidisierung der Gesellschaft am Horizont.

Man könnte abschließend – und an die Abbildung am Anfang des Beitrags anknüpfend, in der man den massiven Konzentrationsprozess in der Krankenkassenlandschaft erkennt – die Frage stellen, was eigentlich gegen einen sehr eng gestrickten Morbi-RSA spricht? Vielleicht die Tatsache, dass dann der Konzentrationsprozess der Kassen weiter vorangetrieben wird – die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hatte mal um die 50 Krankenkassen als ausreichend bezeichnet, aber man könnte durchaus noch weiter runter gehen. Denn die Krankenkassen im GKV-System unterliegen dem Kontrahierungszwang und die Versicherten haben die Möglichkeit, die Kasse zu wechseln. Ist es wirklich so, dass in einem GKV-System 50 oder 100 Kassen und der (angebliche) Wettbewerb zwischen ihnen besser ist als zwei, drei oder fünf Kassen – oder gar die gerne als Schreckensgespenst an die Wand gemalte Einheitskasse (für den GKV-Bereich, ergänzt um eine darüber liegende Schicht an Versicherungen für Zusatzleistungen)? Das sind die eigentlichen Fragen, die man aufrufen müsste.

Quelle der Abbildung: GKV-Spitzenverband, Entwicklung der Krankenkassenanzahl seit 1970

Zentralisierung versäulter Hilfesysteme als Lösungsansatz. Zu den Vorschlägen einer Neuordnung der Notfallversorgung – und den Fragezeichen jenseits der Schaubilder

Das geht uns nun wirklich alle an: die Notfallversorgung in unserem Land. Jedem kann es jederzeit passieren, auf schnelle und richtige Hilfe angewiesen zu sein. Und in den vergangenen Jahren musste man einen gefühlt anschwellenden Strom an kritischen Berichten aus der Welt der Rettungsdienste, der Notfallambulanzen der Krankenhäuser und des ärztlichen Notdienstes der Kassenärzte zur Kenntnis nehmen. Aus den vielen Berichten hier nur ein Beispiel: »Kaum ein gesundheitspolitisches Thema wird derzeit so kontrovers diskutiert wie die Notfallversorgung. Die Krankenhäuser beklagen sich, dass die stationären Notaufnahmen unterfinanziert seien und fordern zusätzliche Mittel in Milliardenhöhe. Die Vertragsärzte weisen im Gegenzug darauf hin, dass vielen der Patienten, die in einer stationären Notaufnahme behandelt werden, ebenso gut ein niedergelassener Arzt hätte helfen können … Zusätzlicher Handlungsdruck entsteht auch dadurch, dass die Zahl der stationär behandelten Notfallpatienten seit Jahren kontinuierlich steigt. Das spüren sowohl der Rettungsdienst als auch die Notaufnahmen. „Seit dem Jahr 2001 steigt die Anzahl unserer Einsätze. Schon im Juli dieses Jahres haben wir die Zahlen erreicht, mit denen wir für das gesamte Jahr gerechnet haben. Ich weiß nicht, wohin wir noch kommen sollen“, sagte Wilfried Gräfling, Landesbranddirektor bei der Berliner Feuerwehr, Ende November auf einem wissenschaftlichen Symposium des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Berlin.« Das kann man dem im Jahr 2016 veröffentlichten Artikel Notfallversorgung: Ambulant oder stationär? von Falk Osterloh entnehmen, der dann auch noch einen Vertreter der Krankenhäuser zu Wort kommen lässt.

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Der öffentliche Gesundheitsdienst blutet und kommt unter die Räder. Und wieder einmal soll keiner behaupten, man hätte es nicht gewusst

Sozialpolitik ist (fast) immer eine Fortsetzungsgeschichte. Nur wird in Zeiten einer hektischen Aufmerksamkeitsökonomie und einer damit verbundenen punktuellen Berichterstattung viel zu wenig nachgehalten, was aus bestimmten Entwicklungen geworden ist. Nehmen wir als Beispiel den öffentlichen Gesundheitsdienst. Der ist in vielfacher Hinsicht von großer sozialpolitischen Bedeutung und wer sich ein wenig in der Sozialgeschichte auskennt, der ist sich bewusst darüber, dass über die öffentlichen Gesundheitsdienst gesellschaftlicher Fortschritt hergestellt werden konnte. Aber die Gesundheitsämter und die dort arbeitenden Fachkräfte sind immer auch Teil der Ordnungs- und zuweilen Zwangsverwaltung, man denke hier an ihre Rolle im Formenkreis der psychiatrischen Versorgung oder gegenüber den Prostituierten. Das ist alles eingebunden in ein zwangsläufig nicht widerspruchsfreies Verhältnis zwischen Schutzfunktion und grundrechtlich höchst sensiblen Eingriffen. Wir reden hier wahrlich nicht über einen Orchideen-Bereich, wie diese Zahlen verdeutlichen können:

»Im Öffentlichen Gesundheitsdienst der Bundesrepublik arbeiten schätzungsweise ca. 2.500 Ärztinnen und Ärzte, überwiegend mit den Facharztqualifikationen für Öffentliches Gesundheitswesen, Innere Medizin, Allgemeinmedizin, Kinder- und Jugendmedizin, Psychiatrie sowie Zahnheilkunde. In den knapp 400 Gesundheitsämtern sind insgesamt ca. 17.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.«

Es geht – so kann man es bilanzieren – im  Grunde um die „dritte Säule“ des Gesundheitswesens neben der ambulanten und stationären Versorgung, was allerdings noch nichts aussagt über die Verfasstheit der Säule an sich. »Der Öffentliche Gesundheitsdienst rückt jedoch immer dann verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, wenn die Gesellschaft mit den Gefahren und Herausforderungen von Pandemien konfrontiert (z.B. EHEC, Ebola) oder die Forderung nach verstärkten Kontrollen durch die Gesundheitsämter erhoben wird, um Hygienemängeln in Arztpraxen, Krankenhäusern und Heimen zu begegnen. Momentan werden die Aktivitäten des ÖGD insbesondere im Zusammenhang mit der Masern-Welle und im Kontext mit Gesundheitsuntersuchungen und Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge wahrgenommen«, so die Selbstbeschreibung des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD).

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David und Goliath in der Welt der Krankenversicherungsleistungen. Teilweise erhebliche Unterschiede bei Leistungsbewilligungen und -ablehnungen

Es ist ein Wesensmerkmal der meisten sozialpolitischen Bereiche, dass es eine große Asymmetrie gibt zwischen denen, die auf Leistungen angewiesen sind und diese in Anspruch nehmen wollen bzw. müssen, und den großen Sozialleistungsträgern, die eben nicht nur als Dienstleistungsscharnier fungieren, sondern nach ganz eigenen und seit vielen Jahren zunehmend auch betriebswirtschaftlichen Steuerungsvorgaben arbeiten (müssen). Und neben der berechtigten Abwehr von Leistungsmissbrauch (und damit Schädigung der Solidargemeinschaft) kann es gerade dann, wenn die Träger im Wettbewerb stehen und Kosten „drücken“ müssen, dazu kommen, dass man versucht ist, auch berechtigte Leistungserwartungen der Mitglieder oder „Kunden“, wie die heute so oft genant werden, zu verweigern oder zumindest den Zugang zu erschweren. Nun wird sich das angedeutete Spannungsverhältnis zwischen den beiden Seiten niemals vollständig auflösen lassen, aber gerade bei sozialpolitischen Leistungen, die ja oftmals von existenzieller Bedeutung sind, ist es wichtig, dass man genau hinschaut, wenn David (der einzelne Versicherte, Patient, Klient) auf Goliath (die großen Krankenkassen, die Jobcenter, die Jugendämter usw.) trifft, denn die Kräfteverhältnisse sind hier immer ungleich verteilt und die vielen Kleinen benötigen Schutz vor immer möglicher administrativer Willkür.

Im Bereich der Krankenkassen geht es nicht nur um das laut Umfragen „höchste Gut“ der Menschen, also Gesundheit bzw. dessen Infragestellung durch Unfall oder Erkrankung, sondern auch um eine wahrhaft unüberschaubare Vielzahl von Leistungen. Im Krankenhaus operiert zu werden oder vom niedergelassenen Vertragsarzt Medikamente verordnet zu bekommen – das fällt den meisten Menschen sicher sofort ein, wenn es um das Leistungsspektrum der Krankenkassen geht. Aber da gibt es noch zahlreiche andere Leistungen – von den Heil- und Hilfsmitteln, den Vorsorge- und Rehamaßnahmen, häusliche Krankenpflege und vieles mehr. Und gerade in diesen Bereichen wird immer wieder auch in den Medien von Ablehnungen, Verweigerungen, Hinhalte-Taktiken der Krankenkassen gegenüber einzelnen Versicherten berichtet. Nur stellt sich dann immer auch die Frage, ob es sich hierbei um bedauernswerte Einzelfälle handelt oder ob das öfter vorkommt und vielleicht sogar einem Muster folgt.

Auch den Patientenbeauftragten der Bundesregierung bewegt dieses Thema – schon allein deshalb, weil bei ihm natürlich viele Fälle landen, wo ein David aus der Masse der Versicherten Beschwerde führt gegen einen Goliath der Krankenversicherungswelt. Also wollte man von dort aus mehr wissen.

»Das Thema Leistungsbewilligungen und -ablehnungen durch gesetzliche Krankenkassen steht immer wieder im Fokus der öffentlichen Diskussion. Aus den Beschwerden von Versicherten bei der Geschäftsstelle des Patientenbeauftragten geht hervor, dass viele Betroffene eine Leistungsablehnung oftmals nicht nachvollziehen können, auch wenn sich die Entscheidungen der Krankenkassen im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften des SGB V begründen lassen. Des Weiteren wird vielfach – insbesondere von Seiten der Patientenorganisationen – kritisiert, dass Krankenkassen die beantragten Leistungen von Patientinnen und Patienten verspätet, pauschal und ohne Einzelfallprüfung ablehnen würden«, so heißt es in der Ausgangsbeschreibung für eine Studie, die man dann in Auftrag gegeben hat.
Da bezüglich der Anzahl der Leistungsbewilligungen und -ablehnungen – mit der Ausnahme der sog. KG 5- Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) für den Bereich der Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen – keine amtlichen Statistiken zu Verfügung stehen, sollte anhand einer empirischen Analyse ein neutraler und sachlicher Überblick über die Leistungsbewilligungen und -ablehnungen der gesetzlichen Krankenkassen erstellt werden.

Dabei geht es um diese wichtigen Fragen:

1) Wie häufig werden Leistungsanträge von den Krankenkassen bewilligt bzw. abgelehnt? Welche Leistungsbereiche sind häufig von Ablehnungen betroffen?
2) Wie und in welchem Umfang werden die Versicherten über die Gründe für eine Bewilligung bzw. Ablehnung eines Leistungsantrags informiert? Wie verständlich sind diese Informationen für die Versicherten?
3) Wie häufig kommt es zu Fristüberschreitungen nach § 13 Abs. 3a SGB V? Wie sind die Versicherten über die Regelungen des § 13 Abs. 3a SGB V informiert?
4) Wie häufig kommt es zu Widersprüchen oder Klagen? Wie erfolgreich sind Widersprüche und Klagen?

Herausgekommen ist diese Ausarbeitung:

Monika Sander, Martin Albrecht, Verena Stengel, Meilin Möllenkamp, Stefan Loos und Gerhard Igl (2017): Leistungsbewilligungen und -ablehnungen durch Krankenkassen. Studie für den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflege, Berlin: IGES Institut, Juni 2017.

Es gibt auch eine Kurzfassung der Studie.

Susanne Werner hat ihren Artikel zu den Ergebnissen der Studie so überschrieben: Rätselhafte Vielfalt bei den Leistungen: Ob eine Leistung bewilligt wird oder nicht, hängt laut einer aktuellen Studie ganz erheblich von der Kasse ab. Über alle Leistungsbereiche hinweg lehnen die Kassen im Durchschnitt 5,2 Prozent der beantragten Leistungen ab. Einzelne Leistungsbereiche aber fallen durch besonders viele Absagen auf. Beispielsweise zeigen sich die Kassen auch bei den stationären Präventionsleistungen wie etwa Vorsorgekuren oder Mutter-Vater-Kind-Angeboten zugeknöpft. Etwa jedem dritten Antrag auf eine entsprechende präventive Maßnahme wurde 2015 eine Absage erteilt.

Als die Ergebnisse der Studie veröffentlicht wurden, fand der Patientenbeauftragte – mittlerweile als Gesundheits- und Arbeitsminister in die neue nordrhein-westfälische Landesregierung gewechselt – deutliche Worte: Neue Studie zur Bewilligung von Leistungsanträgen. Staatssekretär Laumann kritisiert gravierende Unterschiede zwischen Leistungsbereichen und Krankenkassen:

»Die Studie zeigt insbesondere, dass es bei der Bewilligung und Ablehnung von Leistungsanträgen teils erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Leistungsbereichen und den unterschiedlichen gesetzlichen Krankenkassen gibt. Nach Ansicht von Staatssekretär Laumann sind diese Unterschiede größtenteils nicht nachvollziehbar und gehören unverzüglich abgestellt.«

 Das muss man mit Zahlen belegen können, also lesen wir weiter:

»So wird beispielsweise bei den Leistungen im Bereich der Vorsorge und Rehabilitation im Durchschnitt fast jeder fünfte Antrag (18,4 Prozent) von den Krankenkassen abgelehnt. Die Spannbreite der Ablehnungsquoten der einzelnen Krankenkassenarten liegt dabei zwischen 8,4 und 19,4 Prozent. Gegen rund jede vierte Leistungsablehnung in dem Versorgungsbereich wird Widerspruch eingelegt (24,7 Prozent). Und weit mehr als jeder zweite eingelegte Widerspruch (56,4 Prozent) ist erfolgreich oder zumindest teilweise erfolgreich, indem der Antrag schließlich doch wie beantragt oder mit anderer Leistung bewilligt wird. Bei der medizinischen Vorsorge für Mütter und Väter trifft das sogar auf sage und schreibe fast drei von vier Widersprüchen zu (72,0 Prozent).«
Man sollte an dieser Stelle mit Blick auf den Klageweg zur Sozialgerichtsbarkeit auf die Größenordnung hinweisen: 46.000 Streitfälle aus dem Bereich der Krankenversicherung wurden von deutschen Sozialgerichten verhandelt. Dabei hatte jede vierte Klage Erfolg.

Die Schlussfolgerungen von Laumann aus den nun vorliegenden Studienergebnissen werden von ihm so auf den Punkt gebracht:

„Wenn – wie bei den Leistungsanträgen zur Vorsorge und Rehabilitation – weit mehr als jeder zweite Widerspruch erfolgreich ist, kann bei der Bewilligungspraxis etwas nicht stimmen. Es ist auch nicht zu erklären, wieso die Ablehnungsquoten bei Anträgen auf Hilfsmittel für chronische Wunden zwischen den einzelnen Krankenkassen zwischen 3,8 und 54,7 Prozent regelrecht auseinanderklaffen. Die Krankenkassen dürfen erst gar nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass sie bestimmte Leistungen zunächst einmal systematisch ablehnen, obwohl die Menschen einen klaren gesetzlichen Anspruch darauf haben. Das untergräbt massiv das Vertrauen in die Krankenkassen.“

Kritik ist das eine – und sie ist offensichtlich angebracht. Aber welche gesundheitspolitischen Schlussfolgerungen kann und muss man daraus ziehen? Dazu der bisherige Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, durchaus konkret:

„Vor allem müssen die Krankenkassen in Zukunft verpflichtet werden, die Daten zu den Leistungsbewilligungen und –ablehnungen zu veröffentlichen. Außerdem müssen sie die Patienten besser über das Verfahren der Leistungsbeantragung und das Widerspruchsverfahren informieren sowie die Gründe für eine Ablehnung verständlicher als bisher darlegen. Damit würde die Wahlfreiheit der Bürger gestärkt, sich ganz bewusst für oder gegen eine Krankenkasse zu entscheiden“, sagt Laumann. Er wiederholt zudem seine Forderung, dass Patienten bei Leistungsanträgen nach Ablauf der Entscheidungsfrist nicht nur einen Kostenerstattungsanspruch, sondern einen Anspruch auf die Sache selbst haben und die Krankenkassen diesen bezahlen müssen.