Der öffentliche Gesundheitsdienst blutet und kommt unter die Räder. Und wieder einmal soll keiner behaupten, man hätte es nicht gewusst

Sozialpolitik ist (fast) immer eine Fortsetzungsgeschichte. Nur wird in Zeiten einer hektischen Aufmerksamkeitsökonomie und einer damit verbundenen punktuellen Berichterstattung viel zu wenig nachgehalten, was aus bestimmten Entwicklungen geworden ist. Nehmen wir als Beispiel den öffentlichen Gesundheitsdienst. Der ist in vielfacher Hinsicht von großer sozialpolitischen Bedeutung und wer sich ein wenig in der Sozialgeschichte auskennt, der ist sich bewusst darüber, dass über die öffentlichen Gesundheitsdienst gesellschaftlicher Fortschritt hergestellt werden konnte. Aber die Gesundheitsämter und die dort arbeitenden Fachkräfte sind immer auch Teil der Ordnungs- und zuweilen Zwangsverwaltung, man denke hier an ihre Rolle im Formenkreis der psychiatrischen Versorgung oder gegenüber den Prostituierten. Das ist alles eingebunden in ein zwangsläufig nicht widerspruchsfreies Verhältnis zwischen Schutzfunktion und grundrechtlich höchst sensiblen Eingriffen. Wir reden hier wahrlich nicht über einen Orchideen-Bereich, wie diese Zahlen verdeutlichen können:

»Im Öffentlichen Gesundheitsdienst der Bundesrepublik arbeiten schätzungsweise ca. 2.500 Ärztinnen und Ärzte, überwiegend mit den Facharztqualifikationen für Öffentliches Gesundheitswesen, Innere Medizin, Allgemeinmedizin, Kinder- und Jugendmedizin, Psychiatrie sowie Zahnheilkunde. In den knapp 400 Gesundheitsämtern sind insgesamt ca. 17.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.«

Es geht – so kann man es bilanzieren – im  Grunde um die „dritte Säule“ des Gesundheitswesens neben der ambulanten und stationären Versorgung, was allerdings noch nichts aussagt über die Verfasstheit der Säule an sich. »Der Öffentliche Gesundheitsdienst rückt jedoch immer dann verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, wenn die Gesellschaft mit den Gefahren und Herausforderungen von Pandemien konfrontiert (z.B. EHEC, Ebola) oder die Forderung nach verstärkten Kontrollen durch die Gesundheitsämter erhoben wird, um Hygienemängeln in Arztpraxen, Krankenhäusern und Heimen zu begegnen. Momentan werden die Aktivitäten des ÖGD insbesondere im Zusammenhang mit der Masern-Welle und im Kontext mit Gesundheitsuntersuchungen und Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge wahrgenommen«, so die Selbstbeschreibung des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD).

Nun wurde hier bereits am 1. Juni 2014 dieser Beitrag veröffentlicht: Auslaufmodell Amtsarzt? Die Gesundheitsämter in einem besonderen Sandwich-Dilemma zwischen (eigentlich) mehr Aufgaben und (faktisch) weniger Personal. Darin die Diagnose: »Der öffentliche Gesundheitsdienst steckt in einer mindestens dreifachen Falle: In einer Demografie-, einer Attraktivitäts- sowie einer Aufgabenfalle.«

Damals wurde diese Zahlen präsentiert: Seit Jahren sinkt die Zahl der Amtsärzte: von 1.079 im Jahr 2000 auf jetzt 840 – ein Minus von 22 Prozent. Gleichzeitig ist jedoch die Zahl der Ärzte in ganz Deutschland um 21 Prozent gestiegen. Noch dramatischer ist die Entwicklung aber bei der Altersstruktur. Auf einen ÖGD-Kollegen unter 50 Jahren kommen fünf über 50. Und zur „Attraktivitätsfalle“ konnte man erfahren, dass die Fachärzte für den öffentlichen Gesundheitsdienst ein massives Nachwuchsproblem haben hinsichtlich der erforderlichen Facharztweiterbildung.

Diesen Strang der zurückliegenden Berichterstattung kann und muss man nun erneut aufgreifen. Ilse Schlingensiepen hat das beispielsweise getan in ihrem Artikel Öffentlicher Gesundheitsdienst blutet zunehmend aus: »Der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) steht vor dem Kollaps: Aufgrund der deutlich geringeren Verdienste der ÖGD-Ärzte wird es für Gesundheitsämter immer schwerer, frei werdende Stellen zu besetzen. Gleichzeitig verlassen zunehmend Mediziner die Gesundheitsämter.«  Die Gruppe der Fachärzte für das öffentliche Gesundheitswesen werde von Jahr zu Jahr kleiner, beklagt Ute Teichert, die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD).

Schlingensiepen fokussiert bei ihrer Ursachensuche ausschließlich auf den Vergütungsaspekt:

»Die Ärzte im ÖGD werden nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst bezahlt, ihre Kollegen in kommunalen Kliniken nach dem Tarifvertrag, den der Marburger Bund (MB) mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände ausgehandelt hat. Die ÖGD-Ärzte erhalten allein beim Grundgehalt im Schnitt 1.000 Euro weniger im Monat. Bei Ärzten in Leitungsfunktionen im siebten oder achten Dienstjahr beträgt die Differenz über 2.300 Euro oder 30 Prozent.«

Nun muss man dieser Stelle darauf hinweisen, dass dieses Problem seit langem bekannt ist und selbst die Gesundheitsminister der Bundesländer und des Bundes haben eine Angleichung der Vergütung gefordert: Mehr Geld für Ärzte im ÖGD!, so ist beispielsweise ein Bericht über die Gesundheitsministerkonferenz aus dem Juni 2016 überschrieben: »Um mehr Ärzte von einer Tätigkeit im ÖGD zu überzeugen, ist nach GMK-Ansicht neben einer Angleichung der Gehälter an jene am Krankenhaus auch ein neues Leitbild wichtig.«

Aber wie heißt es so schön – zwischen Worten und Taten klaffen nicht selten große, sehr große Lücken. Dazu Ilse Schlingensiepen: Die Forderung nach einer Angleichung der Vergütung »ist bei den kommunalen Arbeitgebern bislang aber ohne Effekt geblieben. „An der Tariffront tut sich seit Jahren nichts“, kritisiert Teichert. Ihr Verband hat deshalb die Tarifgemeinschaft mit dem dbb (früher: Deutscher Beamtenbund) zum Ende des Jahres gekündigt. Der BVÖGD wird die Tarifvertretung zunächst selbst übernehmen.«

Der Attentismus der kommunalen Arbeitgeber ist nicht zufällig: »Offensichtlich fürchteten die Arbeitgeber einen Präzedenzfall.« Denn im öffentlichen Dienst werden auch andere Sozialisten beschäftigt, bei denen sich die arbeitsmarktlichen Angebots-Nachfrage-Relationen mittlerweile zugunsten der Arbeitnehmer und zuungunsten der Arbeitgeber verschoben haben. Nun fürchten die Arbeitgeber einen „Dammbruch“, wenn sie bei einer Beschäftigtengruppe Entgegenkommen zeigen würden. Nur löst so ein Verhalten natürlich nicht das Problem, sondern kann ganz im Gegenteil dazu beitragen, dass sich die Situation teufelskreismäßig verselbständigt.

Diese Gefahr wird auch dadurch verstärkt: »Die Krux der Gesundheitsämter: Sie müssen mit weniger Personal immer mehr Aufgaben stemmen. Die medizinische Versorgung von Geflüchteten hat sie vor große Herausforderungen gestellt. Auch in diesem Jahr hat sich das Arbeitsspektrum erneut erweitert: durch Prostituiertenschutzgesetz und Infektionsschutzgesetz.«

Um das mal an einem Beispiel zu konkretisieren. Dazu ein Blick auf die Stadt Berlin. Für Berlin gibt es die Kalkulation eines Mustergesundheitsamtes und seines Personalbedarfs:

»Von insgesamt 1.806 Stellen, die im Mustergesundheitsamt für den ÖGD vorgesehen und vom Finanzsenator genehmigt sind, waren zuletzt 1.478 besetzt. Dabei hatten die Bezirke in ihren Stellenplänen jedoch durchschnittlich schon knapp zehn Prozent weniger Stellen ausgewiesen als das Mustergesundheitsamt vorsieht.

Einzelne Bezirke wichen deutlich weiter von den Sollvorgaben des Senats ab. So sah der Stellenplan in Reinickendorf nur gut 100 Stellen vor, während das Soll für den Nordberliner Randbezirk bei 149 Stellen liegt. Von den 100 Planstellen waren jedoch 99 besetzt. Auch in Pankow waren 124,4 von 127,5 Planstellen besetzt, doch der Plan des Bezirks blieb klar hinter dem Soll von 149,5 Stellen zurück … Die größten Lücken bestehen in Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg. Dort sind 27 beziehungsweise 25 von je 148 Planstellen offen.« Das sind bekanntermaßen keine gut situierten Stadtteile.
Hinzu kommt, dass selbst wenn man Stellen besetzen will, weitere Probleme auftauchen: »Die Gesundheitsämter haben große Schwierigkeiten diese Stellen zu besetzen. Von 84 Besetzungsverfahren zwischen April 2016 und März 2017 sind 36 erfolglos verlaufen – rund 43 Prozent.«

Dazu auch der Artikel ÖGD-Verband warnt vor Ausbluten der Ämter.

Das ist eine mehr als fatale Entwicklung – auch und gerade vor diesem sozialpolitisch relevanten Hintergrund, auf den Ilse Schlingensiepen in ihrem Kommentar Eine zweifelhafte Botschaft hingewiesen hat:

»Der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) übernimmt eine enorm wichtige gesellschaftliche Aufgabe. In der Verantwortung der Gesundheitsämter liegen so zentrale Bereiche wie Infektions- und Katastrophenschutz, die Hygieneüberwachung oder die sozialpsychiatrischen Dienste. Auch aus den Schuleingangsuntersuchungen sind die Ärztinnen und Ärzte des ÖGD nicht wegzudenken. Hinzu kommen die Prävention, die Beratung und die direkte medizinische Versorgung einzelner Bevölkerungsgruppen wie Geflüchtete, Drogenkonsumenten oder Prostituierte.«

Die von den kommunalen Arbeitgebern trotz langjähriger Forderungen bislang konsequent verweigerte Gleichstellung mit den Krankenhausärzten sei ein verheerendes Signal an die Mediziner (und zugleich ein entsprechender Ausdruck der „Wertschätzung“ gegenüber diesem Leistungsbereich), so Schlingensiepen.

Und man muss an dieser Stelle ergänzen, dass sich das bitter rächen wird, denn selbst wenn es zu einer Angleichung der Vergütung kommen sollte, muss man sich vergegenwärtigen, dass aufgrund des Bedarfs an Ärzten schon heute und erst recht in den kommenden Jahren, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der Mediziner in den Ruhestand gehen, die Konkurrenz der einzelnen Fachgebiete weiter intensivieren wird – und mit Sicherheit wird die fachärztliche Weiterbildung für den öffentlichen Gesundheitsdienst ziemlich weit unten stehen. Keine beruhigenden Aussichten für die Versorgung in vielen und oftmals kritischen Bereichen.