Die Flüchtlinge ruinieren die Gesetzliche Krankenversicherung? Schon ist man mittendrin in der Debatte über Systemprobleme. Da darf die Private Krankenversicherung nicht fehlen, die kräftig zulangt. Bei denen soll Draghi und die EZB schuld sein

In der aufgeheizten Atmosphäre in unserem Land, die nicht wenige dazu antreibt, ständig und überall „die Flüchtlinge“ als Ursache für gesellschaftliche Verteilungsprobleme zu identifizieren und eine dadurch bedingte Schlechterstellung „unserer“ Leute zu belegen, als hätte es die dahinter stehenden Prozesse nicht schon vor der großen Zuwanderung im vergangenen Jahr gegeben, passt dieser Vorstoß aus den Reihen der AfD hervorragend: Frauke Petry hatte auf Facebook ihrer Anhängerschaft und den Suchern einfacher Zusammenhänge mitgeteilt: „Durch die sogenannte Flüchtlingskrise droht die Finanzierung unseres Gesundheitswesens zu kollabieren. Die AOK fordert deshalb jetzt Steuerzuschüsse für die gesundheitliche Versorgung von Migranten, ansonsten drohten erhebliche Beitragsanhebungen.“ Und sie konnte sich scheinbar auf einen hochrangigen Vertreter der Krankenkassen selbst stützen: Der Vorsitzende des Verbands Rheinland/Hamburg, Günter Wältermann, hatte Zuschüsse im Hinblick auf eine Unterfinanzierung der Krankenkassen gefordert. „Für einen Arbeitslosengeld-II-Empfänger zahlt die Bundesagentur aktuell 90 Euro im Monat an die Krankenkassen. Die durchschnittlichen monatlichen Kosten liegen aber bei 138 Euro“, sagte Wältermann der „Rheinischen Post“, die ihre Meldung dazu unter diese Überschrift gestellt hatte: AOK zahlt bei Flüchtlingen drauf. Und da steht gleich am Anfang unmissverständlich: »Wegen der steigenden Kosten für die Versorgung von Flüchtlingen im Gesundheitssystem schlägt die AOK Rheinland/Hamburg Alarm.«

Wenn man weiß, welche Bedeutung gerade das Thema Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung bei vielen Menschen hat, dann kann man verstehen, dass es sich hier um eine wirklich perfide Konstruktion eines brisanten Zusammenhangs handelt, der bei den Betroffenen Abwehrhaltungen gegen die zusätzlichen Kostgänger auslösen soll, was sicher auch bei nicht wenigen funktioniert.

Aber ist dem so? Auch die Krankenkassen erkannten schnell die Brisanz der Indienstnahme der Kassen-Finanzprobleme für die Argumentation der AfD. Ein Ergebnis waren dann so ein Artikel: AOK klärt nach Petry-Behauptung über Kosten auf. Darin wird der Vorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Kitsch, mit diesen Worten zitiert: „Auch im Gesundheitswesen schürt die AfD-Vorsitzende mit einem durchsichtigen Instrumentalisierungsmanöver die Ängste der Bevölkerung und suggeriert eine unfaire medizinische Versorgungssituation. Sie sollte sich lieber schleunigst mit der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung vertraut machen, bevor sie weiter Schaden anrichtet.“

Der AOK-Bundesverbandsvorsitzende »erklärte, es gebe bisher keine Anzeichen, dass Geflüchtete höhere Kosten verursachten als Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen. Die Unterfinanzierung der Krankenversicherungsbeiträge von Hartz-IV-Empfängern entstehe nicht durch Flüchtlinge, sondern weil die Beiträge der Bundesagentur für Arbeit nicht ausreichten, betonte Litsch. Der Bund zahlt den gesetzlichen Krankenkassen aus Steuergeldern Beiträge für die medizinische Versorgung von Hartz-IV-Empfängern. Darunter fallen auch arbeitslose Flüchtlinge, die nach 15 Monaten in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln können und ebenfalls Leistungen nach den Hartz-IV-Regelungen (Arbeitslosengeld II) bekommen.«

Und auch der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Frank Ulrich Montgomery, wird in den Zeugenstand gerufen und mit dem Hinweis zitiert, »dass die Pauschale für die Krankenversicherung von Hartz-IV-Empfängern von derzeit rund 90 Euro nicht ausreiche. Es seien eher an die 140 Euro nötig. Dies gehe auch nicht zulasten der Krankenkassen und damit der Beitragszahler, sondern sei eine durch Steuern zu finanzierende staatliche Aufgabe.«

Nun wird sich der eine oder andere erinnern: Das hatten wir auch hier doch schon mal behandelt. Genau, beispielsweise bereits am 21. Februar 2016 mit dem Beitrag Teure Flüchtlinge und/oder nicht-kostendeckende Hartz IV-Empfänger? Untiefen der Krankenkassen-Finanzierung und die Frage nach der (Nicht-mehr-)Parität sowie nachfolgend ausführlich am 19. Juni 2016 in dem Beitrag Eine Finanzspritze für die Krankenkassen aus der gut gefüllten Schatulle des Gesundheitsfonds (im Wahljahr 2017), die Frage nach dem Geschmäckle und die wirklichen Systemprobleme.
Diesem Beitrag kann man entnehmen, dass tatsächlich eine Teil-Wahrheit in der AfD-Aussage zu erkennen ist, die man nicht wegdiskutieren kann: Natürlich steigen die Finanzprobleme der Krankenkassen, wenn deutlich mehr Menschen versorgt werden müssen, für die bzw. von denen es aber aus Sicht der Krankenkassen zu wenig Geld gibt. Das ist übrigens insgesamt betrachtet innerhalb der Krankenversicherung ein ganz normaler Zustand und nennt sich Umverteilung zwischen den unterschiedlichen Risikogruppen in einer Krankenkasse. Die eigentliche Logik ist simpel: Die Krankenkasse dient ja gerade dem Zweck, Menschen zu versorgen, deren Beiträge in keinem Verhältnis stehen (können) zu den Ausgaben, die man für sie tätigen muss. Die andere Seite der Medaille ist natürlich zwingend: Es muss dann immer genug Versicherte geben, die mehr Beiträge zahlen als sie an Leistungen beanspruchen bzw. die über längere Zeiträume bei hohen Beitragszahlungen gar keine Leistungen in Anspruch nehmen.

Der vorliegende Fall mit „den Flüchtlingen“ ist insofern etwas komplizierter, als hier mehrere Verteilungsprobleme involviert sind, die in dem erwähnten Beitrag bereits angesprochen wurden: Die Kassen bekommen für diese Personen eine Pauschale von rund 90 Euro pro Monat, die sie auch für andere Menschen bekommen, die nichts mit Flüchtlingen zu tun haben, weil das ohne Unterschied alle Hartz IV-Empfänger betrifft. An dieser Stelle könnte man scheinbar relativ einfach lösungsorientiert argumentieren und fordern, was die Kassen auch machen, dass die vom Bund aus Steuermitteln zu finanzierende Pauschale entsprechend der Kosten angehoben wird, in dem bereits zitierten Artikel AOK klärt nach Petry-Behauptung über Kosten auf wird das ja auch vorgeschlagen (wobei die Aussage des Bundesärztekammerpräsidenten und anderer, dass 140 Euro statt 90 Euro notwendig seien, um „kostendeckend“ arbeiten zu können, sicherer daherkommt, als sie derzeit ist, denn hinsichtlich der Ausgaben für geflüchtete Menschen bewegen wir uns auf unsicherem Terrain, in dem Blog-Beitrag vom 19. Juni 2016 wurden beispielsweise noch andere Größenordnung zitiert: »Es gibt … erste Erfahrungswerte aus Hamburg, die von Kosten in Höhe von 180 bis 200 Euro im Monat ausgehen. Auch in Nordrhein-Westfalen wird dieser Wert für realistisch gehalten. Dabei wird davon ausgegangen, dass viele Flüchtlinge traumatisiert sind und eine umfangreiche medizinische Behandlung benötigen.«

  • Es sei an dieser Stelle nur grundsätzlich angemerkt, dass diese Argumentationslinie mit Blick auf das System Gesetzliche Krankenversicherung nicht unproblematisch ist, wird hier doch hier eine Kostendeckungsrechnung aufgemacht für eine ganz bestimmte Personengruppe, die den allgemeinen Umverteilungsmechanismus im System tangiert. Warum dann nur für die Flüchtlinge? Was ist mit den anderen Personengruppen, beispielsweise die Niedriglöhner (mit entsprechend niedrigen Beiträgen für die Kassen), die aber möglicherweise hohe Ausgaben mit sich tragen? Und was ist mit den Menschen, die Leistungen bekommen, aber gar keine Beiträge zahlen, weil sie beispielsweise beitragsfrei über die Familienmitversicherung abgesichert sind? Aus einer grundsätzlichen Perspektive (nicht mit Blick auf die tatsächliche Finanzierungsmechanik) sind die vielgestaltigen Umverteilungseffekte gerade ein Wesensmerkmal der GKV.

Zurück zum Aufreger-Thema Pauschale für Flüchtlinge, wenn sie denn im Hartz IV-System sind, mithin, das sollte deutlich geworden sein, ein Thema, das alle Grundsicherungsempfänger betrifft. Die Diskrepanz zwischen der Pauschale und den (angeblich) höheren tatsächlichen Ausgaben wird – wie die kurzen Hinweise zur Konstruktionslogik einer Gesetzlichen Krankenversicherung gezeigt haben sollten – nicht deshalb zu einem Verteilungsproblem, weil es diesen Unterschied gibt, sondern weil die damit verbundenen Finanzierungsprobleme der Kassen nun einen anderen und in unserem Kontext den eigentlich relevanten problematischen Verteilungsmechanismus auslösen, der aus einer politischen Weichenstellung zurückliegender Jahre resultiert: Wenn die Aufgabenanstiege der gesetzlichen Krankenkassen zu höheren Beitragsbedarfen führen, dann greift nun der Mechanismus der Zusatzbeiträge, die aber – aufgrund der Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags – allein von den Versicherten zu stemmen sind, also außerhalb der paritätischen Finanzierung.

Die Versicherten müssen also die tatsächlich durch die zusätzlich „unterfinanzierten“ Menschen im Kassensystem steigenden Einnahmebedarfe alleine aufkommen. Das müssen sie aber – und der Hinweis ist nicht trivial – auch für alle anderen „unterfinanzierten“ Menschen im Kassensystem. Insofern kann und muss man aus verteilungspolitischer Sicht das eigentliche Problem adressieren, wenn man denn darin ein Problem sieht: die Aufgabe der Parität hinsichtlich der Finanzierung in der GKV. Und wenn den Versicherten bewusst wird, dass sie alleine für zukünftige Kostenanstiege aufzukommen haben, dann kann man diesen Tatbestand hervorragend instrumentalisieren, um die Leute politisch „nach unten“ zu orientieren, also tatsächlich auch wirklich zusätzliche Leistungsempfänger im System als Problem zu brandmarken, statt dass die Versicherten erkennen, dass sie Opfer einer allgemeinen, das bedeutet unabhängig von „den Flüchtlingen“ vorgenommenen Umverteilung zu ihren Ungunsten geworden sind.

In diesem Zusammenhang wäre es notwendig, dass die Betroffenen erkennen, dass sie in mehrfacher Hinsicht in strukturelle Finanzierungsprobleme im System eingebunden sind. Denn nicht nur die einseitige Verlagerung der Finanzierung der zukünftigen Kostenanstiege auf die Schultern der Versicherten ist problematisch, zumindest sehr diskussionsbedürftig. Man muss das im Zusammenhang sehen mit der Tatsache, dass insgesamt die Aufteilung der Ausgaben im Gesundheitssystem zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine erhebliche Unwucht hat. Vgl. hierzu den differenzierten Beitrag von Florian Diekmann: Arbeitgeber oder Arbeitnehmer – wer zahlt mehr für Gesundheit?  Arbeitnehmer und Arbeitgeber behaupten beide, die Hauptlast der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen. Wer hat recht? So seine Fragestellung. Am Ende kommt er nach Abwägung aller vorliegenden Daten und Zusammenhänge zu diesem Befund:

»Nach unserer Bewertung ergibt sich für das Jahr 2014 tatsächlich eine höhere Belastung der Arbeitnehmer – und das bereits vor den massiven Beitragssteigerungen der kommenden Jahre. Zwar sind die DGB-Zahlen wegen Unschärfen in der amtlichen Statistik nur scheinbar exakt und daher teilweise etwas zu hoch, aber die Größenordnung von rund zehn Milliarden Euro Mehrbelastung erscheint plausibel.«

Aber selbst die nunmehr nicht nur von den Gewerkschaften, sondern auch teilweise von denen, die den Abkoppelungsmechanismus mit eingeführt haben wie der SPD, geforderte Rückkehr zur „paritätischen Finanzierung“ könnte zwar zu einer gleichmäßigeren Verteilung der Gesundheitskosten zwischen Arbeitgebern und privaten Haushalten führen. Aber möglicherweise ist das eigentliche Systemproblem ein ganz anderes – die grundsätzliche Kopplung der Beiträge an die Arbeitseinkommen (und die auch noch begrenzt durch eine Beitragsbemessungsgrenze, was faktisch „nur“ zu einer Belastung der unteren und mittleren Einkommen führt. Wenn man diese Perspektive einnimmt, dann könnte man durchaus formulieren, dass es das Ziel sein sollte, die Gesamtbelastung der Arbeitseinkommen nicht noch weiter steigen zu lassen – also die Summe aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen. Denn das überlastet heute schon und tendenziell immer stärker die sozialversicherungspflichtigen Arbeitseinkommen. Auch an die Vorschläge, die aus einer solchen Perspektive abgeleitet werden hinsichtlich einer anderen Finanzierung – also mehr Steuermittel in das GKV-System und/oder Kapitalerträge und Mieteinnahmen beitragspflichtig zu machen, um nur zwei Aspekte zu nennen, werden sich viele erinnern unter dem Stichwort „Bürgerversicherung“ & Co.

Wenn wir schon bei den Systemfragen sind, dann darf natürlich der Hinweis auf die besondere Problematik in Deutschland, dass wir es mit einer Dualität des Krankenversicherungssystems zu tun haben, nicht fehlen. Also die Trennung zwischen GKV und PKV. Und die die PKV funktioniert zwar auch als Versicherung mit den ihr typischen Umverteilungen, aber die Finanzierung basiert auf einer ganz anderen Systematik als das, was wir im GKV-System haben.

Und hier ist offensichtlich mächtig Rauch in der Hütte: Drastische Beitragserhöhungen für privat Versicherte, wird uns berichtet:

»Die Beiträge in der Privaten Krankenversicherung (PKV) werden demnächst zum Teil drastisch erhöht … mit dem Beginn des neuen Jahres (werden) die Sätze im Schnitt zwischen elf und zwölf Prozent steigen. Betroffen davon sind rund zwei Drittel der fast neun Millionen privat Versicherten.«

Das ist ja nun mal ein ordentlicher Schluck aus der Pulle. Nun können die Versicherer hier nicht wirklich die Flüchtlinge zu Schuldigen an der Misere erklären, aber deren Funktion muss nun ein anderer übernehmen, der gerade in Deutschland mittlerweile ein richtig schlechtes Image hat: Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Aber was hat der nun mit diesem kräftigen Beitragsaufschlag in der deutschen PKV zu tun? Dazu die offizielle Position seitens der PKV:

»Volker Leienbach, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Verbandes der Privaten Krankenversicherung bestätigte auf Anfrage, „dass es zu untypischen Beitragserhöhungen“ kommen werde … Leienbach begründete die Beitragssteigerungen mit der Situation der Niedrigzins-Phase auf den Finanzmärkten. „Was am Kapitalmarkt nicht zu erwirtschaften ist, muss durch eine Erhöhung der Vorsorge ausgeglichen werden“ … Dies sei „gesetzlich vorgeschrieben“. Davon seien nun Privatversicherte „jetzt also ebenso betroffen wie andere Sparer“ auch … Tatsächlich finden viele private Versicherungen für gut verzinste Anlagen, die nun auslaufen, keinen ähnlich attraktiven Ersatz.«

Man erkennt an dieser Argumentation, dass die Finanzierung bzw. genauer: ein Teil der Finanzierung innerhalb des PKV-Systems einer ganz anderen Logik folgt als die der Umlagefinanzierung im GKV-System: Eine Teil-Kapitaldeckung spielt hier eine große Rolle und damit handeln sich verständlicherweise die PKV-Unternehmen vergleichbare Probleme ein wie wir sie im Bereich der kapitalgedeckten Altersvorsorge kennen und diskutieren: In einer Zeit der Niedrigst-, Null- und sogar Negativzinsen sowie einer expansiven Geldpolitik im Zusammenspiel mit dem, was man „Anlagenotstand“ nennt, können die Verwerfungen auf den Finanzmärkten nicht an kapitalgedeckten Systemen vorbeigehen.

Aber ist wirklich der Herr Draghi von der EZB an den kräftigen Beitragserhöhungen in der deutschen PKV auch noch schuld?
Dass die Geldpolitik der EZB einen Belastungsfaktor darstellt, darauf wurde hingewiesen und das ist gewissermaßen der Preis, denn man für die angeblich so überlegenen Kapitaldeckung zahlen muss.

Aber die Systemprobleme der PKV reichen deutlich weiter, denn die PKV

  • hat auch das Problem, dass ihr schlichtweg eine ausreichende Zahl an Neuzugängen vor allem in der Vollversicherung fehlt, die aber im Geschäftsmodell der PKV zwingend erforderlich sind;
  • dass die PKV-Unternehmen anders als die Krankenkassen im GKV-System kaum über relevanten (Ausgaben-)Steuerungsinstrumente verfügen und des dadurch schwer haben, die Kostenanstiege über diesen Weg zu reduzieren;
  • dass die Leistungserbringer die PKV-Patienten nicht selten als betriebswirtschaftlich motivierten Steinbruch verwenden und im Ergebnis nicht selten eine Überversorgung generieren, um mit den Einnahmen aus der PKV auch eine (angebliche bzw. tatsächliche) „Unterfinanzierung“ aus dem GKV-Bereich zu kompensieren. 

Die PKV insgesamt steht also unter mehrfachen Druck und auch die politische Debatte über die (Nicht-)Zukunft der versäulten Krankenversicherungslandschaft ist ja nicht verstummt, sondern läuft parallel weiter. Vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Eine „integrierte Krankenversicherung“ als Zwischenschritt auf dem Weg zur Bürgerversicherung? Jenseits der alten Welt von privat oder gesetzlich. Am Beispiel der Selbständigen gerechnet vom 12. Juli 2016. Auch in dem Artikel Drastische Beitragserhöhungen für privat Versicherte gibt es entsprechende Hinweise: »Die Ankündigung der PKV hat in der Bundespolitik die Debatte um Sinn und Unsinn des Nebeneinanders von PKV und GKV neu befeuert. Die SPD dringt auf ein Ende des Dualismus und wirbt für ihr Modell einer einheitlichen Bürgerversicherung … Hilde Mattheis, die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagfraktion, sprach von einem „Schlag für viele Versicherte, die nun den Preis für ein Geschäftsmodell zahlen müssen, das nicht mehr funktioniert“.«

In dem Artikel aus der Stuttgarter Zeitung findet man aber auch einen anderen Hinweis aus den Reihen der Union, konkret vom Gesundheitsexperte Michael Heinrich, der so zitiert wird:

»Kurzfristig will er den Privaten jährliche Beitragsanpassungen ermöglichen, um drastische Sprünge zu vermeiden. Langfristig plädiert er „für eine Zusammenführung der Gebührenordnungen für die ärztliche Vergütung von privaten und gesetzlichen Kassen“.«

Und der Hintergrund, der den kurzfristigen Vorschlag auslöst, wurde sogleich aufgegriffen von den Verteidigern des PKV-Systems und man mag es nicht glauben angesichts der vielschichtigen Probleme des PKV-Systems – es gibt Journalisten, die sich tatsächlich dazu versteigen, dass die SPD an der schlechten Presse für die PKV schuld sei. Diese Volte schafft Andreas Mihm von der FAZ in seinem Kommentar: Überfall auf Versicherte. Er argumentiert so: Der „Fluch für Kunden und Anbieter“ sei vor allem aus der Regulierung seitens des Staates entstanden.

»Das Verbot der gleitenden Tarifanpassung gehört dazu. Verbraucherschützer monieren diese Behandlung Privatversicherter, denen erst nach Erreichen von Kostenschwellen, dann aber überfallartig, eine gepfefferte Tariferhöhung präsentiert wird. So ein Überfall steht jetzt an.«

Ganz offensichtlich geht es dem Kommentator um diesen Zusammenhang: Der gewaltige Sprung bei den Beiträgen, der Anfang 2017 ansteht, erklärt sich auch aus der Tatsache, dass die PKV-Unternehmen erst dann ihre Beiträge (nach oben) anpassen dürfen, wenn besondere Sprünge in den Leistungsausgaben nachweisbar sind, während die Gesetzliche Krankenversicherung ihre Beiträge jährlich anpassen kann.

Wenn man also auch in der PKV die Möglichkeit hätte, so Mihm, die Beiträge jährlich nach oben zu heben, dann wäre das nicht so schmerzhaft ins Bewusstsein gedrungen, was da an Mehrausgaben auf die Versicherten zukommt – was natürlich ein irgendwie putziges Argument ist, denn nur dadurch, dass ich den Beitragsanstieg in der PKV gleichsam in kleine Portionen stückele, ändere ich ja nichts an der Belastung an sich. Ganz offensichtlich geht es hier wieder einmal um die Psychologie der großen Zahl.

Aber der Höhepunkt des Kommentars kommt dann noch – die Suche nach dem Schuldigen. Und der ist schnell gefunden, denn man hätte das Verbot der gleitenden Tarifanpassung aufheben müssen, dann stünde die PKV jetzt nicht in diesem Medien-Schlamassel, so Mihm:

»Doch dazu hätte das Gesetz geändert werden müssen. Das hat die SPD verhindert. Ihre Logik ist eiskalt: Wenn sie die Privatkassen schon nicht abschaffen kann, dann soll die Branche zumindest nicht gut dastehen – selbst wenn diese selbst dafür gar nichts kann.«

Ach, man kann sich die Welt auch einfacher basteln, also sie ist.

Abbildung 1: Wechsel zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung 1991- 2017, sozialpolitik-aktuell.de 
Abbildung 2: Vollversicherte in der privaten Krankenversicherung 1991- 2015, sozialpolitik-aktuell.de

Zwischen medialen und realen Verteilungskämpfen ganz unten, niedrigschwelliger Armutslinderung, einem überstrapazierten Ehrenamt und dann noch die Grundatz-Kritiker der „Vertafelung“

Um es gleich an den Anfang des Beitrags zu stellen: Beim Thema Tafeln kann man es nicht richtig machen. Für die einen gehören die Tafeln abgeschafft, für manche darunter sind sie zum nicht nur symbolischen, sondern handfesten Ort der Kapitulation des Sozialstaats vor der staatlichen Aufgabe der Gewährleistung der Existenzsicherung armer Menschen degeneriert, an die man die Menschen verweisen kann, denen man nicht genug Mittel zur Verfügung stellt, um sich selbst und ohne Rückgriff auf Almosen zu helfen. Die Kritiker arbeiten sich ab an der angeblichen oder tatsächlichen Funktionalität der Tafeln im Sinne einer neuen „Abspeisung“ von Menschen, denen man zu geringe Sozialleistungen gewährt und die man dann auf die fast flächendeckende Versorgungsinfrastruktur der Tafeln verweisen kann, bei denen man sich ja das besorgen kann, was nicht über die staatlichen Leistungen abgedeckt werden kann.

Auf der anderen Seite zeigt die Expansionsgeschichte der Tafeln, dass es offensichtlich eine reale Nachfrage nach den dort verteilten Lebensmitteln gibt – und dieser Nachfrage ist die theoretische Debatte ziemlich egal bzw. sie kommt für die Betroffenen kopflastig daher. Hinter dieser Nachfrage stehen Menschen, die mit den Lebensmitteln der Tafeln über den Monat kommen, denen der Genuss von Obst und Gemüse ermöglicht wird. Und wie ein Luftballon aufgeblasen werden kann, so spiegelt auch die Entwicklung der Tafeln nicht nur die faktische Ausweitung nicht-existenzsichernder Lebenslagen derjenigen, die schon immer hier waren, sondern die enorme Zuwanderung der letzten Monate ist natürlich nicht spurlos an diesem Bestandteil einer „Überlebensökonomie“ vorbeigegangen. Die Zahl der Bedürftigen, die Tafelleistungen in Anspruch nehmen möchten, also die Nachfrage, ist nicht nur, aber auch durch die Flüchtlinge angestiegen.

Das geht nicht ohne Konflikte ab in einem System, das auf Freiwilligkeit und Verteilung dessen, was man von Dritten bekommt, basiert. Das wurde bereits im vergangenen Jahr in diesem Blog-Beitrag hier thematisiert: Die Tafeln und die Flüchtlinge. Zwischen „erzieherischer Nicht-Hilfe“ im bayerischen Dachau und der anderen Welt der Tafel-Bewegung vom 14.10.2015.

Das Bild von einem (real durchaus vorhandenen und angesichts der Mengenrestriktionen auf der Angebotsseite auch zwangsläufigen) Verteilungskampf derer da unten untereinander wurde von einem Teil der Medien gerne aufgegriffen, hat das doch neben allen Realitäten in den Ausgabestellen einen „Gänsehautfaktor“ für viele Konsumenten solcher Berichte.
So beginnt beispielsweise Rolf-Herbert Peters seinen Artikel Das untere Ende der Gesellschaft mit dieser Beschreibung: »Manfred Baasner verteilt Essen, das sonst im Müll landen würde. Immer mehr Alte, Arme und Flüchtlinge kommen zu ihm. Der Verteilungskampf am unteren Ende der Gesellschaft eskaliert. Ein Besuch bei Deutschlands größter Tafel.«

Es ist leider im Kontext der aufgeheizten Stimmung rund um das Thema Flüchtlinge kaum verwunderlich, dass häufig in höchst aggressiver Art und Weise gerade in den sozialen Netzwerken Stimmung gemacht wird gegen Flüchtlinge, in dem beispielsweise auf die immer wieder berichteten Konflikte in den Tafeln Bezug genommen und mit dem „Argument“ gearbeitet wird, dass es „unsere“ Bedürftigen schlechter haben durch die zusätzlichen Nachfrager in den Tafeln.

Und solche Artikel scheinen das Problem zu bestätigen: Mehr Spenden, aber auch mehr Bedürftige, so Johannes Leithäuser von der FAZ: »Die Tafeln in Deutschland versorgen deutlich mehr Menschen als noch vor eineinhalb Jahren. Unter ihnen sind auch viele Flüchtlinge.« Fabian Lambeck berichtet im Neuen Deutschland unter der Überschrift Armut wächst – Tafeln droht die Überlastung.

Diese Berichte haben ihr Quelle beim Bundesverband Deutsche Tafel. Der hat sich unter der Überschrift Tafeln meistern Flüchtlingskrise durch niederschwellige Soforthilfe zu den Ergebnissen der Tafel-Umfrage 2016 zu Wort gemeldet – und ein Anliegen ist der Versuch, sich von der Instrumentalisierung und Vereinnahmung zu distanzieren.
Fast 1,8 Millionen Menschen besuchen regelmäßig einen der bundesweit 2.100 Tafelläden und Ausgabestellen der 900 Tafeln in Deutschland. Im Vergleich zu 2014 sei die Zahl der Tafelkunden um 18 Prozent gestiegen.  Die Warenspenden sind im gleichen Zeitraum um etwa 10 Prozent gestiegen. Besonders deutlich wird die Expansion, wenn man einen Blick wirft auf das Jahr 2005: Damals zählten die Tafeln noch „nur“ 500.000 regelmäßige Besucher.

Aktuell unterstützen die über 900 Tafeln bundesweit zusätzlich etwa 280.000 Flüchtlinge, so der Bundesverband.

„Trotz angestiegener Spendenmenge bekommt jeder Einzelne im Durchschnitt etwas weniger Lebensmittel“, so der Bundesvorsitzende der Tafeln, Jochen Brühl. Angesichts der höheren Steigerungszahlen bei den Bedürftigen im Vergleich zu den Lebensmittelspenden ist das auch kein Wunder. Der Bundesvorsitzende versucht dann offensichtlich, die „Konkurrenz-Debatte“ zwischen „Einheimischen“ und Zugewanderten, die sich in den vergangenen Monaten teilweise verselbständigt hat, wieder einzufangen und zu relativieren: „Dennoch hat sich die vormals zum Teil angespannte Situation bei den Tafeln weiter entspannt“, wird er zitiert.

Fabian Lambeck erläutert uns, was man sich unter der „vormals zum Teil angespannten Situation“ praktisch vorstellen muss:

»Wegen kultureller Unterschiede und Sprachproblemen habe es manchmal Anlaufschwierigkeiten gegeben, so Brühl. Syrische Männer etwa hätten Probleme damit gehabt, Hilfe von Frauen anzunehmen. Zudem seien bestimmte Lebensmittel für einige Gruppen ungeeignet. So verbieten die islamischen Speisevorschriften den Konsum von Schweinefleisch. Auch hätten viele Tafeln ihren neuen Kunden deutlich machen müssen, dass Tafeln keine staatlichen Einrichtungen seien und sie deshalb auch keinen Anspruch auf Lebensmittel hätten.«

Aber der Bundesvorsitzende der Tafeln geht noch weiter: „Tafeln sind zu einem zentralen Motor der Integration geworden“. Wie das?

»Viele Anfangsschwierigkeiten konnten mittlerweile behoben werden. Vor allem Sprach- und Verständigungsprobleme machten den Tafeln zu schaffen. Durch den Einsatz von Dolmetschern oder mehrsprachigem Informationsmaterial konnte Abhilfe geschaffen werden. Besonders die Einbindung von Flüchtlingen und Menschen mit Migrationshintergrund in die Tafel-Arbeit ist für beide Seiten ein Gewinn. Mittlerweile helfen in 40 Prozent der Tafeln Flüchtlinge als Ehrenamtliche oder als Bundesfreiwillige mit. Tendenz steigend.«

Und der Bundesverband positioniert sich so:

„Mit Sorge beobachten wir jedoch die Versuche von außen, einen Keil zwischen die Ärmsten in diesem Land zu treiben. Armut in Deutschland ist längst zum Dauerzustand geworden … Tafeln leisten niederschwellige Soforthilfe und fördern die Integration. Unsere Angebote dürfen seitens der Politik jedoch nicht länger überstrapaziert werden.“

Das ist ein wichtiger Hinweis an die Politik auf die Fragilität der Tafeln, deren Arbeit ja fase ausschließlich eine ehrenamtlich geleistete Arbeit ist und es handelt sich hier eben nicht um angestellte Menschen, sondern deren Engagement muss jeden Tag erneut abgerufen werden und abrufbar sein, sondern bricht das System auseinander. In diesem Kontext sollte man auch nicht unterschätzen, welche Folgewirkungen die neue Mischung der Menschen auf der Nachfrageseite für die ehrenamtlichen Helfer haben kann, wenn die kulturellen Konflikte stark zunehmen oder ein Teil der Helfer an der Legitimation dessen zweifelt, was sie tun. Insofern kann und muss man die Ausführungen des Bundesvorsitzenden der Tafeln so verstehen, dass er diese Flasche wieder verschließen und damit beruhigen möchte. Die Botschaft lautet: Die letzte Zeit war eine des doppelten Übergangs – viele neue „Kunden“ und zugleich ganz andere Hintergründe bei diesen, das muss natürlich am Anfang zu Überforderung führen, aber die Lage habe sich normalisiert.

Aber die Tafeln sind ja nicht nur deshalb unter Druck, weil die in diesen Institutionen nicht aufhebbare Rationierungsmechanik angesichts einer weiter ansteigenden und in den vergangenen Monaten sprunghaft gestiegenen Nachfrage eben immer auch ihre konflikthafte Schattenseite zeigen muss. Vielleicht noch größeres Ungemach droht den Tafeln von der Angebotsseite, denn dort laufen Veränderungen ab, die tendenziell dazu führen werden, dass die zur Verfügung gestellten Lebensmittel von der Menge (und der Zusammensetzung) abnehmen werden. Auf die hier ablaufenden Prozesse wurde bereits am 19. April 2015 in diesem Blog-Beitrag hingewiesen: Wird die „Vertafelung“ unserer Gesellschaft durch eine unaufhaltsame Effizienzsteigerung auf Seiten der Lieferanten erledigt?

Wie dem auch sei, eines ist sicher: Die Tafeln können – wenn überhaupt – nur ein zusätzliches Angebot sein für Menschen, die in äußerst knappen Verhältnissen leben müssen. Sie können die – von vielen als per se zu niedrig kritisierte – sozialstaatliche Existenzsicherung auf gar keinen Fall auch noch substituieren. Das sollen sie aber, wenn beispielsweise Jobcenter ihr „Kunden“ explizit auf die Inanspruchnahme der Tafel-Infrastruktur verweisen, damit könne man ja eine akute Notlage „überbrücken“. Das ist eine Instrumentalisierung einer sicher gut gemeinten Idee und einer Institution, die zwar in der Vergangenheit Wachstumsraten hatte, die sich mit denen von Apple messen lassen, die aber, dass sollte man nie vergessen, ein auf Ehrenamt aufbauendes und damit notwendigerweise immer auch fragiles Unterfangen darstellt. Der Bundesverband versucht auch immer wieder, in seinen Stellungnahmen auf diese Punkte aufmerksam zu machen und sich der „freundlichen Umklammerung“ seitens der Politik und des Systems zu entziehen. Eine sicher schwierige und nicht wirklich lösbare Aufgabe. Das ist es sicher einfacher, entweder gar nicht hinzuschauen und zu hoffen, dass die da unten schon weiter funktionieren werden bei der Armenspeisung oder aber die gegenteilige Position einzunehmen und wohlfeil für eine Abschaffung des „Tafel-Systems“ zu plädieren und für die Betroffenen dann höhere Leistungen in Aussicht zu stellen, mit denen sie keine Tafeln mehr brauchen.

Von abstrakten „Armutsgefährdungsquoten“, bekannten Mustern der ungleichen Armutsverteilung und bedenklichen Entwicklungen

Bereits am 16. September meldete sich Florian Diekmann auf Spiegel Online zu Wort mit dieser Meldung: Armutsrisiko steigt auf höchsten Stand seit Wiedervereinigung. 15,7 Prozent der Menschen in Deutschland waren 2015 von monetärer Armut bedroht, 0,3 Prozentpunkte mehr als 2014 und so viel wie nie seit der Wiedervereinigung. Die zu diesem Zeitpunkt dem Verfasser des Artikels offensichtlich bereits vorliegenden Zahlen sind nun vom Statistischen Bundesamt offiziell veröffentlicht worden: Armutsgefährdung in Westdeutschland im 10-Jahres-Vergleich gestiegen, so haben die Bundesstatistiker ihre Pressemitteilung überschrieben. Die „Armutsgefährdungsquote“ ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und wird – entsprechend dem EU-Standard – definiert als der Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung (in Privathaushalten) beträgt. Der Median ist das mittlere Einkommen, die eine Hälfte der Menschen hat weniger, die andere Hälfte hat ein höheres Einkommen. Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens berechnetes bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied. Geht das auch konkreter, wird der eine oder andere fragen. Wann ist denn nun ein konkreter Mensch von Einkommensarmut „gefährdet“?

Dazu muss man die sogenannte „Armutsgefährdungschwelle“ in Euro pro Monat kennen. Und die lag im vergangenen Jahr für den „einfachsten“ Fall einer alleinstehenden Person, also einem Einpersonenhaushalt, bei 942 Euro, von denen sich dann die zitierten 15,7 Prozent Armutsgefährdete ableiten. Wenn also jemand weniger als diesen Betrag zur Verfügung hat, dann taucht er oder sie in der Quote mit auf.

Die 942 Euro als Schwellenwert gelten nun für ganz Deutschland – also für diejenigen, die in Mecklenburg-Vorpommern leben genau so wie für die, denen die Aufgabe gestellt ist, in München über die Runden zu kommen. Nur sind die Lebenshaltungskosten in den beiden Beispielsfällen, die stellvertretend für die regionalen Disparitäten in unserem Land stehen, sicher recht unterschiedlich, wenn man an die jeweiligen Preisniveaus denkt. Das spiegelt sich ja auch in unterschiedlichen Einkommensniveaus  zwischen den Regionen, die Menschen verdienen im Süden des Landes im Schnitt mehr als im Nordosten. Die Abbildung zu den Armutsgefährdungsschwellen verdeutlicht denn auch die praktische Umsetzung des folgenden Gedankengangs:

Man könnte durchaus plausibel auf die Idee kommen, dass es vielleicht sinnvoller wäre, regionale Armutsschwellen auszuweisen, die in München höher liegen müssen als in Mecklenburg-Vorpommern, denn dort ist das Einkommensniveau insgesamt deutlich niedriger als in Bayern. Und die ausgewiesenen Werte – 799 Euro im Nordosten und 1.025 Euro in Bayern für einen Einpersonenhaushalt – zeigen das dann auch. Die Armutsgefährdungsschwelle in Bayern liegt um 30 Prozent höher als in Mecklenburg-Vorpommern.

Es ergeben sich handfeste Unterschiede bei den als „Armutsquoten“ gehandelten Anteilwerten auf der Ebene der Bundesländer je nachdem, ob man den einen Bundes-Median oder aber die jeweiligen mittleren Einkommen in den einzelnen Bundesländern als Schwellenwerte heranzieht.
Nimmt man die 15,7 Prozent Armutsgefährdete in Deutschland, die mit dem Schwellenwert von 942 Euro pro Monat (und relativ gesehen weniger für Mehrpersonenhaushalte, 2015 für eine vierköpfige Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lagt dieser Wert bei 1.978 Euro im Monat) über alle Menschen in Deutschland ermittelt wurde, dann zeigt sich mit Blick auf die Bundesländer ein erwartetes Muster: Hohe Betroffenheit von Armutsgefährdung in Ostdeutschland und ein geringeres Niveau in den alten Bundesländern.
Das Armutsrisiko wäre demnach in den ostdeutschen Bundesländern um mehr als ein Drittel höher als in Westdeutschland.
Allerdings zeigt die ebenfalls in der Abbildung ausgewiesene Anwendung der jeweiligen Bundesländer-Mediane ein abweichendes Bild. Jetzt liegen die so berechneten Einkommensarmutsquoten im Westen anteilig über denen im Osten des Landes.

Das und mehr wurde bereits im März dieses Jahres von Florian Diekmann in seinem Artikel Das Armutszeugnis. Trügerische Statistik zum Einkommen diskutiert. Auch er weist auf die Unterschiede der jeweiligen Armutsquoten je nach zugrundeliegenden mittleren Einkommen hin: »In vielerlei Hinsicht erscheint die Darstellung nach Bundesland-Maßstab also als realistischer. So bilden die regionalen Einkommenshöhen die Lebenshaltungskosten am Wohnort besser ab als im gesamtdeutschen Maßstab.«

»Und dennoch: Auch die Armutsquote nach Bundesland-Maßstab ist eben nicht wahrer als die herkömmliche. Sie ermöglicht lediglich einen weiteren, anderen Blick auf das Phänomen Armut.
Denn in mancher Hinsicht passt der Bundesland-Maßstab nicht zur deutschen Lebenswirklichkeit. So kostet die Milch bei Aldi das Gleiche, ob sie nun in Schwedt oder Stuttgart im Regal steht – gerade ärmere Haushalte geben einen großen Teil ihres Geldes für Lebensmittel aus. Und Eltern im mecklenburgischen Gallin nutzt es wenig, dass die Preise zu Hause niedrig sind, wenn sie ihre Kinder finanzieren müssen, die im 60 Kilometer entfernten Hamburg eine Berufsausbildung machen oder studieren.«

Man kann das mit den regionalen Durchschnittswerten natürlich noch kleinteiliger machen als auf der Ebene der Bundesländer, aber dann hat man irgendwann den Effekt: In einem Armenhaus gibt es keine Armut, weil der Schwellenwert immer weiter absinkt.

Was kann man denn ansonsten noch mitnehmen aus den Daten? In dem Artikel von Florian Diekmann wurde der Verfasser zitiert:

»Der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell macht seit Langem auf derlei Tücken der Statistik aufmerksam – hält aber zwei Erkenntnisse ganz unabhängig vom gewählten Maßstab für nicht wegdiskutierbar: „Alleinerziehende, Kinder und Langzeitarbeitslose – diese Gruppen sind überdurchschnittlich stark von Armut betroffen.“ Und das habe in den vergangenen Jahren noch zugenommen. Zudem beobachtet er „auch eine regionale Konzentration und Zunahme der Armutsproblematik. Dabei gelten alte Gewissheiten wie ‚armer Osten‘ versus ‚reicher Westen‘ nicht mehr.“ Ein Befund, den eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich untermauert hat

Das kann man auch an den aktuellen Daten illustrieren: Die allgemeine Armutsgefährdungsquote lag 2015 bei 15,7 Prozent: Bei den Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren waren es 19,7 Prozent, bei den Alleinerziehenden 43,8 Prozent und bei den Erwerbslosen werden sogar 59 Prozent ausgewiesen.

Interessant sind zwei weitere Aspekte. Die Medien berichteten zwar über den Anstieg der Armutsgefährdungsquote, haben diesen aber sogleich relativiert mit Blick auf die einheimische Bevölkerung. Dazu als ein Beispiel dieser Artikel: Flüchtlinge machen Deutsche nicht ärmer: »Die Armutsquote ist in Deutschland im vergangenen Jahr durch die Migration leicht gestiegen. Einheimische sind allerdings nicht stärker betroffen als in den Jahren zuvor.« Und weiter erfahren wir: »Die Folgen der Flüchtlingskrise erreichen jetzt die Statistiken. Ein genauerer Blick auf die Daten zeigt …, dass der Anstieg ausschließlich auf eine gestiegene Armutsquote unter Migranten zurückzuführen ist. In diese Gruppe werden auch die Flüchtlinge gezählt. Bei der einheimischen Bevölkerung stagniert der Anteil dagegen seit 2011 bei 12,5 Prozent.«

Die Abbildung verdeutlicht zum einen den erheblichen Niveauunterschied zwischen den Menschen ohne und mit Migrationshintergrund sowie die Tatsache, dass tatsächlich der für 2015 gegenüber 2014 ausgewiesene Anstieg der Quote auf die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund zurückzuführen ist, deren Lage sich (weiter) verschlechtert hat. Das WSI hat sich ausführlicher mit der Frage „Wie wirkt sich Zuwanderung auf Armut aus?“ beschäftigt.

Allerdings sollte auch dieser Hinweis in dem bereits zitierten Artikel Flüchtlinge machen Deutsche nicht ärmer nicht untergehen: Bei der einheimischen Bevölkerung stagniert der Anteil der Einkommensarmen seit 2011 bei 12,5 Prozent. Man kann also nicht sagen, dass die Einwanderung (derzeit) auf das Armutsrisiko durchschlägt, aber der Finger wird angesichts des wirtschaftlichen Umfelds der vergangenen Jahre auf eine andere Wunde gelegt:

»Auf der anderen Seite zeigen sie, dass die aktuell sehr gute wirtschaftliche Lage und die geringe Arbeitslosigkeit sich offenbar nicht auf das Armutsrisiko auswirken. Ein Grund dafür könnte sein, dass viele Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und deswegen unterhalb der Schwellenwerte bleiben.«

Die Abbildung soll aber auch noch für einen weiteren, vor allem mit Blick auf die Zukunft höchst relevanten Aspekt der Armutsrisikoentwicklung sensibilisieren. In den vergangenen Jahren wurde und wird zu Recht darauf hingewiesen, dass vor allem Kinder und Jugendliche überdurchschnittlich von Einkommensarmut (ihrer Eltern) betroffen sind, während es „den“ älteren Menschen doch sehr gut gehen würde, auf alle Fälle wären sie von Einkommensarmut nur unterdurchschnittlich betroffen. Aber der Blick auf die Entwicklung der Armutsgefährdungsquote für die Menschen ab 65 Jahre verdeutlicht auch, dass wir hier mit einem erheblichen Anstieg der Anteilwerte konfrontiert sind, während die Werte bei den unter 18-Jährigen stagnieren.

Und ein etwas genauerer Blick lohnt:
Die allgemeine Quote liegt bei 15,7 Prozent, die der älteren Menschen ab 65 Jahre bei unterdurchschnittlichen 14,6 Prozent. Aber das wird nur dadurch erreicht, dass der Anteilswert bei den Männern ab 65 Jahren bei 12,6 Prozent liegt, hingegen erreicht der Armutsrisikowert bei den Frauen bereits 2015 überdurchschnittliche 16,3 Prozent. Die von den Statistikern gemessene Armutsgefährdungsquote der älteren Frauen hat sich von 2006 bis 2015 um 36 Prozent erhöht, während sich der Anstieg bei den unter 18-Jährigen auf nur 6 Prozent begrenzt. Man kann also in diesen trockenen Zahlen die bereits an Fahrt aufnehmende Ausweitung der Altersarmut erkennen – und die ist eine, die vor allem die Frauen betrifft. Zu berücksichtigen ist, dass erst in den kommenden Jahren aufgrund der immer brüchiger gewordenen Erwerbsbiografien, der Niedriglohnentwicklung seit den 1990er Jahren und den Folgen des Leistungsabbaus in der gesetzlichen Rentenversicherung viele Menschen in die Altersgruppe ab 65 Jahren aufsteigen, die dann in der Gruppe der relativ Einkommensarmen zu finden sein werden.

Zugegeben – das war eine Menge trocken daherkommender Zahlen-Stoff, aus dem man allerdings so einiges an sozialpolitischen Baustellen ableiten kann. Wer sich an dieser Stelle nach einer gewissen „Erdung“ des behandelten Themas Armut sehnt, dem sei an dieser Stelle der Artikel Wenn Flüchtlinge auf die Armut Deutschlands treffen von Julian Staib empfohlen: »Überschuldete Haushalte, soziale Verwerfungen: Viele Kommunen kämpfen ohnehin darum, für ihre Bewohner gute Lebensbedingungen zu schaffen. Jetzt kommen noch Flüchtlinge hinzu. Das Beispiel Essen.« Der Beitrag versucht, kein Ausspielen der Menschen unten gegeneinander zu befördern, zugleich legt er aber den Finger auf die Wunde, dass Armutslagen nicht nur mit Durchschnittswerten betrachtet werden dürfen, die zuweilen mehr zuschütten, als sie uns an weiterführenden Informationen ermöglichen. Und es wird der Hinweis gegeben, auf eine fatale Konzentration der Probleme auf der Ebene vor Ort, denn zu den vielen bereits vorhandenen sozialen Problemen in der Stadt Essen ist in den zurückliegenden Jahren und vor allem Monaten eine überdurchschnittliche Zuwanderung von Flüchtlingen gekommen – mit allen Verstärkungsproblemen in der Stadtgesellschaft. Und die Konzentration von Armutslagen löst Handlungsbedarfe aus, deren Bedienung zugleich restringiert wird durch die katastrophale Haushaltslage einer Kommune wie der im Ruhrgebiet. Wir sind konfrontiert mit höchst engagierten Akteuren vor Ort, die sehen und wissen, wie derzeit die Mega-Probleme von morgen produziert werden, die eine Vorstellung davon haben, was man machen müsste, wenn man denn könnte, was aber in der Praxis vor Ort eben oftmals nicht der Fall ist aufgrund der fehlenden Mittel.

In dem Artikel wird am Ende Martin Schlauch zitiert, Mitglied des Stadtrats von Essen, der mit Blick auf sein Viertel Altenessen-Süd ausführt:

»Aus der Sicht Schlauchs hat Essen kein Flüchtlings- und auch kein Ausländerproblem, sondern ein soziales Problem. „Wir haben einen ganz großen Block an Leuten, die resigniert haben.“ Schuld daran sei die Politik: Fehlender sozialer Wohnungsbau, fehlende Durchmischung. Kommen nun viele Flüchtlinge hinzu, sorgt er sich, dass sein Viertel wegkippt. „Nichts ist fataler, als dass die Menschen herumsitzen und nichts zu tun haben.“ Schlauch fordert, massiv in die betroffenen Viertel zu investieren, in Schulen und Sozialwohnungen, in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. „Aber nicht nur für Flüchtlinge.“ Dann, sagt er, gebe es sogar die Chance, durch das „Vehikel Flüchtlinge“ alte Fehler zu korrigieren.«

Es wäre zu hoffen, dass das „Vehikel Flüchtlinge“ nicht nur dazu führt, dass rechtspopulistische Parteien und Stimmungsmacher immer mehr Oberwasser gewinnen und ihren Profit eintreiben aus den unvermeidlichen Spannungen, die sich in der Gesellschaft aufgebaut haben bzw. die von der Berichterstattung zuweilen erst geschaffen werden, sondern dass tatsächlich die von vielen Praktikern seit langem angemahnten „sozialen Investitionen“ endlich ermöglicht werden, damit uns das nicht um die Ohren fliegt.

Ein nicht nur statistisches Lehrstück: Wie man eben mal so 300.000 schwarzarbeitende Flüchtlinge produziert, die es bis in die Tagesschau schaffen

Ende August zirkulierte eine Meldung durch die Medienlandschaft, die es in sich hatte – konnte man sich doch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven bestätigt fühlen in seiner Sicht auf die Welt: Flüchtlinge werden ausgebeutet und sind Opfer der Verhältnisse am einen Ende, die Flüchtlinge bedrohen unsere Sozialsysteme und benachteiligen die „ehrlichen“ Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit ihrem Verhalten.

Was war passiert? Der NDR ging mit dieser Nachricht an die Öffentlichkeit: Flüchtlinge arbeiten schwarz für Dumpinglöhne. Mit einer klaren Ansage: »Viele Flüchtlinge in Deutschland arbeiten nach Recherchen von NDR Info schwarz zu Dumpinglöhnen und unter schlechten Arbeitsbedingungen. Immer wieder vermitteln dabei Mitarbeiter oder Besucher von Flüchtlingsunterkünften Schwarzarbeiterjobs gegen Provision.« Man habe bei Sozialarbeitern, Flüchtlingshelfern, Wissenschaftlern und schwarz arbeitenden Flüchtlingen recherchiert. Dann kommt zwar ein dezenter Hinweis: »Verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht«, aber die sich an dieser Stelle möglicherweise ausbreitende Unsicherheit über die wirkliche Bedeutung der Schlagzeile wird sogleich und wie so oft mit Bezug auf „die Wissenschaft“ entkräftet, denn die muss es ja nun wissen: »So schreiben Wissenschaftler der Universitäten Tübingen und Linz in einer Studie, der Anteil der Schwarzarbeiter liege bei bis zu 30 Prozent der 1,1 Millionen Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr in Deutschland angekommenen sind.« Punkt.

Nun wird der eine oder andere Eingeweihte bei dem Hinweis auf Wissenschaftler und Universität Linz sofort an eine konkrete Person denken: Friedrich Schneider. Über ihn kann man beispielsweise erfahren, dass er »ein deutscher und österreichischer Ökonom (ist). Er gilt als Fachmann für die Forschungsdisziplinen Schattenwirtschaft, Steuerhinterziehung und organisierte Kriminalität sowie in der Umweltökonomie.« Das passt doch, so jemand muss es doch nun wissen, wenn es jemand weiß.

Aber weiß man das tatsächlich? Oder glaubt man etwas, was als scheinbare Tatsache in den Raum gestellt wird? Von diesen Fragezeichen getrieben hat Kerstin Bund genauer hingeschaut und als Ergebnis ihrer Recherchen diesen Artikel veröffentlicht, dessen Überschrift nur aus einer nackten Zahl besteht: 300.000. »Wie eine Meldung Hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland unbewiesen zu Schwarzarbeitern erklärte«, so erläutert sie den Hintergrund der so prominent gesetzten Zahl.

Sie und ihre Kollegen der ZEIT haben versucht, die Aussage von den möglicherweise Hunderttausenden Flüchtlingen in Schwarzarbeit zu überprüfen: »Wir haben mit Flüchtlingshelfern, Heimbetreibern, Gewerkschaftern und Arbeitgebervertretern gesprochen. Nirgendwo fanden sich konkrete Hinweise darauf, dass Schwarzarbeit unter Asylsuchenden massenhaft verbreitet ist.«

Da wäre beispielsweise der Zoll, der von Amts wegen mit der Bekämpfung der Schwarzarbeit betraut sind: »Nach eigenen Angaben trifft der Zoll bei seinen Kontrollen lediglich sechs bis elf Flüchtlinge an, die nicht angemeldet sind. Pro Monat. Das sind ungefähr 100 im Jahr. „Wenn es diese hohen Fallzahlen gäbe, über die berichtet wird, dann würden wir die irgendwo sehen. Wir sehen sie aber nicht“, sagt Klaus Salzsieder von der Generalzolldirektion.«

Nun könnte man natürlich einwenden, dass die Kontrolldichte insgesamt bescheiden ist und vor allem in einigen wenigen Branchen kontrolliert wird.

Also weiter auf der Spurensuche. Da wäre doch das Hotel- und Gaststättenwesen als ein grundsätzlich überaus anfälliger Bereich für Schwarzarbeit. Da müssten dann so einige der vielen schwarzarbeitenden Flüchtlinge untergekommen sein. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten sagt zum Aufregerthema: „Wir haben keinerlei Erkenntnisse dazu.“

Wie wäre es dann mit dem Bau-Bereich, auch so ein Kandidat für illegale Beschäftigungsformen? Fragt man bei der Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt nach, heißt es: „Das Problem sind eher Wanderarbeiter aus Bulgarien und Rumänien, die unangemeldet auf dem Bau arbeiten. Von Schwarzarbeitern aus Syrien oder Afghanistan, die die Baustellen überschwemmen, haben wir noch nichts gehört.“

Nun wird man unsicher: »Ist der Flüchtling ohne Arbeitsvertrag also nur ein Phantom?«
Selbst aus den gegen Arbeitsausbeutung vehement kämpfenden Organisationen werden die Zweifel verstärkt, dass wir es mit einem Massenphänomen zu tun haben:

»Emilija Mitrovic von der Beratungsstelle Migration und Arbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Hamburg fügt hinzu: „Die Schätzungen, die in den Medien kursieren, sind haltlos. Es gibt keine seriösen Zahlen.“«

Nun ist es sicherlich verständlich, dass Schwarzarbeit gerade nicht so transparent sein kann wie der Verkauf von Spekulatius-Gebäck ab August eines jeden Jahres. Das deutet ja schon der Begriff an. Schwarzarbeit findet statt im Schatten der offiziellen Wirtschaftskreisläufe.
»Seltsam aber, dass niemand aus der Szene etwas von einer Flüchtlings-Schattenwirtschaft mitbekommen hat. Hunderttausende Asylsuchende ohne Arbeitspapiere bleiben unentdeckt? Schwer zu glauben«, so auch Kerstin Bund in ihrem Artikel.

In der Ausgangsmeldung vom NDR werden nur zwei konkrete Fälle benannt: Zum einen den ehemaligen, weil zwischenzeitlich entlassenen Mitarbeiter einer Flüchtlingsunterkunft im niedersächsischen Neu Wulmstorf, der versucht haben soll, den Bewohnern gegen Provision Schwarzarbeit zu vermitteln. Und zum anderen ein Mann aus Burkina Faso, den die Reporter am Hamburger Busbahnhof antreffen und der nach eigenen Angaben immer wieder schwarzarbeitet. Und dann wird noch eine Sozialarbeiterin zitiert, die einfach so mal schätzt, dass bis zu 50 Prozent der Asylbewerber irgendwann einmal schwarzarbeiteten.

Also bleibt nur „die“ Wissenschaft in Gestalt der Ökonomen Friedrich Schneider von der Universität Linz und Bernhard Boockmann vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung in Tübingen. Die angeblich 300.000 Flüchtlinge in Schwarzarbeit sollen doch aus einer Studie der beiden stammen.

Schaut man genauer hin, was es mit dieser Studie auf sich hat (vgl. zur Langfassung Friedrich Schneider und Bernhard Boockmann: Die Größe der Schattenwirtschaft – Methodik und Berechnungen für das Jahr 2016, Linz und Tübingen, 2. Februar 2016), stößt man auf ein mittlerweile jährlich praktiziertes Ritual, der Verkündigung der Zahl der Schwarzarbeiter und des Umsatzes, der in diesem Teil der Schattenwirtschaft generiert werden soll. In diesem Jahr wurde am 2. Februar 2016 unter der Überschrift Gute Arbeitsmarktlage reduziert erneut die Schattenwirtschaft zum Thema Flüchtlinge und Schwarzarbeit berichtet – allerdings irritiert die Überschrift angesichts der Kronzeugenrolle, die den Zahlen von Schneider und Boockmann zugeschrieben wird: »Flüchtlinge und Schattenwirtschaft: verlässliche Prognose nicht möglich« (S. 2). Und dann erfahren wir:

»Der Zustrom an arbeitsfähigen Personen erhöht das potenzielle Angebot an Arbeitskräften. Allerdings ist eine Modellabschätzung noch nicht möglich, zumal die Zusammensetzung des Flüchtlingsstroms noch nicht bekannt ist.
Um eine Vorstellung über mögliche Größenordnungen zu gewinnen, wurde eine Projektion der Schattenwirtschaft von Asylbewerbern und Flüchtlingen vorgenommen. Nach Angaben des IAB ist 2016 infolge der Zuwanderung mit einer Erhöhung des (legalen) Erwerbspersonenpotenzials um 380.000 Personen zu rechnen. Hinzu kommen diejenigen, deren Asylantrag noch bearbeitet wird oder die in Deutschland bleiben, obwohl ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Nach einer Abschätzung ist insgesamt mit ca. 800.000 Personen im erwerbsfähigen Alter zu rechnen.
Nimmt man an, dass 25 % dieser Personen in der Schattenwirtschaft tätig werden, so ergibt sich unter weiteren Annahmen über Arbeitsumfang und Entlohnung eine zusätzliche Wertschöpfung von knapp 1,5 Mrd. Euro … Dieses zusätzliche Volumen der Schattenwirtschaft ist aber geringer als die für 2016 prognostizierte Abnahme der gesamten Schattenwirtschaft. Dies gilt auch für alternativ aufgestellt Szenarien.«

Szenarien, das ist das Schlüsselwort. Kerstin Bund formuliert – völlig zu Recht – etwas despektierlich, dass vor dem Hintergrund des Nicht-Wissens, wie viele Flüchtlinge wo wie aufschlagen, die Forscher auf einen Kniff zurückgreifen: Sie setzen „Szenarien an die Stelle von Wissen“.
Sie berichtet dann von drei Szenarien, in denen die Wissenschaftler davon ausgehen, dass einmal 100.000, einmal 200.000 und einmal 300.000 Flüchtlinge schwarzarbeiten. Offensichtlich hat sie als gute Journalistin beim Urheber der Szenarien nachgefragt und zitiert seine Antwort so:

„Das Szenario mit 300 000 Flüchtlingen ist das plausibelste“, sagt Schneider, einer der beiden Autoren, am Telefon. Wie er zu dieser Annahme komme? Da bleibt der Forscher vage. Er stütze sich auf „Stichproben“ aus Flüchtlingsunterkünften in Konstanz, Passau und Marburg, wo Betreuer, die er persönlich kenne, Flüchtlinge befragt hätten, ob sie schwarzarbeiteten oder sich das vorstellen könnten.

In aller Bescheidenheit soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die notwendigerweise erheblichen Zweifel an der Aussagekraft der von Schneider und Boockmann in die Welt gesetzten Zahlen bereits am Tag der Veröffentlichung der Berechnungen der Schwarzarbeitswissenschaftler hier in einem Blog-Beitrag massiv vorgetragen wurden: An sich gute Nachrichten aus der Schattenwirtschaft. Wenn da nicht die Flüchtlinge wären, von denen Gefahr droht. Aber ist das wirklich so?, so ist mein Beitrag vom 2. Februar 2016 überschrieben worden.

Und abschließend – es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass mit den auf überaus wackeligen Beinen stehenden Schwarzarbeitszahlen (vgl. zur Kritik an den jährlich aktualisierten Berechnungen nur als ein Beispiel den Beitrag von  U. Thießens: Schattenwirtschaft: Vorsicht vor hohen Makroschätzungen, in: Wirtschaftsdienst, H. 3/2011, S. 194-201) politisches Schindluder getrieben wird. Nur als eine Erinnerung sei hier auf den Beitrag Beim Mindestlohn-Bashing darf die Schattenwirtschaft nicht fehlen. Und wenn sie passend gemacht werden muss vom 3. Februar 2015 hingewiesen. Anfang 2015 wurde mit Hilfe der Zahlen von Schneider und Boockmann ein deutlicher Anstieg der Schwarzarbeit durch den gesetzlichen Mindestlohn in Aussicht und mithin ein weiterer „Beleg“ für die Schädlichkeit einer solchen Lohnuntergrenze in den Raum gestellt. Das wurde schon in meinem Blog-Beitrag aus dem Jahr 2015 als überaus fragwürdig kritisiert.

Zu dem, was interessierte Medien am Anfang des Jahres 2015 mit den Zahlen zu Beginn des Wirksamwerdens des gesetzlichen Mindestlohns gemacht haben, ist es nicht gekommen. Aber in dem Moment hat die Botschaft bei dem einen oder anderen sicher gewirkt.
Wer fragt denn auch heute noch nach, was aus scheinbar sicheren Schätzungen geworden ist. Wie man sieht: Es lohnt sich, das zu tun.

Flüchtlingshelfer im Niemandsland zwischen euphorischer Willkommenskultur und verunsicherungsbedingter Ablehnung. Und die Flüchtlinge selbst?

Es ist sicherlich keine Übertreibung, wenn man schreibt, dass die Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung über die Folgen der starken Zuwanderung vor allem von Flüchtlingen erheblich zugenommen hat. Umfrageergebnisse belegen die Bedeutung, die mittlerweile das Thema Zuwanderung und Integration bekommen hat – völlig gegenläufig zu den Sorgen über andere Themen wie Arbeitslosigkeit oder wirtschaftliche Stabilität. Vor allem die Angst vor Arbeitslosigkeit hat in den vergangenen Jahren dramatisch abgenommen (vgl. die Abbildung mit dem Verlauf der Werte von 2006 bis heute). Seit 2015 explodieren hingegen die Werte, die eine Sorge um Zuwanderung und Integration anzeigen. Und es ist sicherlich ebenfalls keine Übertreibung, dass das Merkel’sche „Wir schaffen das“-Postulat mittlerweile nicht nur seine Strahlkraft, sondern auch die Mehrheit verloren hat. Es ist naheliegend, dass die Frage nach den Flüchtlingshelfern auch in dem angedeuteten Kontext einer deutlichen Stimmungsverschiebung in der Bevölkerung gestellt und behandelt werden muss. Wir erinnern uns alle an den Spätsommer einer hoch emotionalisierten „Willkommenskultur“ im vergangenen Jahr, in der an Bahnhöfen ankommenden Flüchtlinge klatschend in Empfang genommen worden sind. Das nun hat sich geändert und damit auch das Umfeld, in dem sich die vielen, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren bzw. engagiert haben.

Vor diesem Hintergrund scheint eine solche Meldung der Bertelsmann-Stiftung eine gewisse Entspannung zu signalisieren: Trotz Anschlagsserie: freiwillige Flüchtlingshelfer lassen nicht nach, so hat die Stiftung den Bericht über eine neue Studie überschrieben. Die Bedeutung der Rolle der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer ist offensichtlich, so die Bertelsmann-Stiftung:

»Die engagierten Helfer in Deutschland übernehmen in der Flüchtlingsarbeit unter anderem Aufgaben, die normalerweise der Staat leisten müsste, wie zum Beispiel die Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und Wohnraum. Weiterhin besonders wichtig bleibt ihr Einsatz als Brücke zwischen den Geflüchteten und den Behörden. So übernehmen sie wichtige Lotsen-Funktionen: begleiten Geflüchtete bei Behördengängen, bei ersten Schritten in Schulen und Praktika oder führen frühzeitige Sprachförderung unabhängig vom Status der Flüchtlinge durch. Die Helfer sorgen dafür, dass geflüchtete Menschen Angebote zur Integration überhaupt wahrnehmen können.«

Die von Ulrike Hamann, Serhat Karakayali, Leif Jannis Höfler, Mira Wallis erstellte Studie Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen wurde vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt. Dabei sind in 17 Kommunen deutschlandweit 25 qualitative Interviews geführt, sowie ein Workshop mit ehrenamtlichen und hauptamtlichen Koordinatoren umgesetzt worden. Die Erhebung fand zwischen Januar und März 2016 statt. Es handelt sich also um eine qualitative Studie, die keinesfalls repräsentative Aussagen über „die“ Flüchtlingshelfer erlaubt.

Die Bertelsmann-Stiftung bilanziert wichtige Ergebnisse der Studie:
Die Forscher haben in der Studie drei Formen der Zusammenarbeit zwischen den Städten und den Initiativen vor Ort identifiziert:

1. Nach dem ersten Modell übernehmen vor allem einzelne Menschen ehrenamtlich die Koordination in den Städten oder Stadtteilen. Ihre Aufgaben reichen von der Einführung neuer Engagierter in die Initiativen über die Vermittlung konkreter Hilfsangebote bis zur Beantragung von Fördermitteln. Diese Koordination zwischen Behörden und Geflüchteten ist oft ein Vollzeitjob. Der Vorteil: Der Koordinator weiß genau, was Geflüchtete und Engagierte brauchen. Der Nachteil: Schnell kann es hierbei zu einer Überlastung einzelner Personen kommen.

2. Beim zweiten Modell handelt es sich um eine Netzwerk-Koordination. Hierbei gibt es keinen einzelnen, zentralen Akteur, sondern die Aktiven treffen ihre Entscheidungen an runden Tischen. Der Vorteil: Die Netzwerk-Koordination ermöglicht Austausch auf Augenhöhe. Der Nachteil: Es gibt keinen zentralen Ansprechpartner. Entscheidungen brauchen viel Zeit und Geduld. Hinzu kommt, dass die Augenhöhe zwischen Freiwilligen und Behörden-Mitarbeitern selten erreicht wird. Vor allem Engagierte, aber auch Geflüchtete erleben ihre Teilnahme deswegen nicht selten als Alibi, da die entgültige Entscheidung meist doch in den Behörden getroffen wird.
3. Das dritte Modell bildet die zentrale Koordinationsstelle in der Kommunalverwaltung. Hier gibt es einen hauptamtlichen Ansprechpartner, dem entsprechende Kompetenzen und Mittel zur Verfügung stehen. Seine Hauptaufgaben: Bedarfe und Angebote zusammenbringen, Informationen bündeln, Fördermittel, Austausch und Fortbildungen organisieren. Damit die Arbeit der zentralen Koordinierungsstelle wirkt, muss sie unabhängig arbeiten können und von den Initiativen akzeptiert sein. Außerdem sollte sie auf die Unterstützung der Initiativen ausgerichtet sein.Die Forscher weisen in ihren Empfehlungen zur Koordination der Flüchtlingshilfe  (S. 54 ff. der Studie) darauf hin, dass man diese drei Formen nicht separat voneinander betrachten sollte, da sie – idealerweise – alle miteinander verwoben sind bzw. sein sollten, decken sie doch unterschiedliche Bedarfe ab:

»Wir haben in den Kommunen drei Typen der Koordination ehrenamtlichen Engagements festgestellt: die zentrale Koordination, die Netzwerk-Koordination und die Initiativen-Koordination. Die drei Typen sind auf verschiedenen Ebenen anzutreffen und sind ergänzend zu verstehen. Das bedeutet, dass eine Kommune, in der alle drei Typen vorhanden sind, eine besonders gute Zusammenarbeit auf den unterschiedlichen Ebenen des Engagements erreichen kann. Während die Initiativen-Koordination den engen Kontakt zu Engagierten und Geflüchteten hat, kann die zentrale Koordination Spendenangebote koordinieren und Qualifikation für Freiwillige organisieren. Damit die Arbeit rund um das Ankommen der Flüchtlinge gut funktioniert, ist eine netzwerkartige Koordination vonnöten, die alle Akteure in regelmäßigen Abständen zum Austausch zusammenbringt.«

Mit Blick auf eine Stabilisierung der Flüchtlingshelfer-Arbeit wird auf die Koordinationsaufgabe abgestellt: »Die Koordinationsarbeit für die Initiativen-Koordination überschreitet den zeitlichen Umfang des typischen Ehrenamts. Durch einen Zeitaufwand von bis zu 40 Stunden kann diese Aufgabe auf lange Sicht nicht ehrenamtlich durchgeführt werden. Um Kontinuität zu gewährleisten, sollten Finanzierungsmöglichkeiten für diese zeitaufwändigen Arbeiten gefunden werden … Für eine nachhaltige Zusammenarbeit von Kommunen und freiwilligen Initiativen ist es sinnvoll, eine ausreichende Stellenanzahl zu schaffen und die Koordinatorinnen und Koordinatoren tarifgerecht zu bezahlen.«

Man kann erkennen, dass wir uns offensichtlich in einer aus anderen Handlungsfeldern gut bekannten und nicht unproblematischen Übergangsphase befinden, die man als einerseits notwendige, aber andererseits durchaus auch kritisch bewertbare „Professionalisierung“ der Flüchtlingshilfe bezeichnen kann.

Damit verbunden ist ein höchst ambivalenter Sachverhalt. Diese Ambivalenz kann man daran festmachen, dass wir es am Anfang mit einem rein ehrenamtlichen Hilfeimpuls zu tun hatten (und weiter haben), der aber im Laufe der Zeit durch das Hilfe- und Helferwachstum wie auch durch Erfahrungseffekte immer stärker in Richtung Strukturierung, Ausdifferenzierung und Hierarchiebildung getrieben wird. In deren Logik macht dann eine Stabilisierung der ehrenamtlichen Arbeit durch die von den Forschern vorgeschlagenen Maßnahmen einer durch Hauptberufliche zu leistenden Unterstützung sowie „natürlich“ auch – ob explizit benannt oder implizit mitlaufend – einer Lenkung und Steuerung der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer durchaus Sinn. Auf der anderen Seite löst das bei einem Teil der ehrenamtlich Engagierten Abwehr- und Rückzugsreaktionen aus, da eine solche Einbindung ihrem Selbstverständnis zuwiderläuft.

Auch wenn die Bertelsmann-Stiftung aus der von ihr in Auftrag gegebenen Studie die beruhigend daherkommende Schlussfolgerung zieht, dass die freiwilligen Flüchtlingshelfer nicht nachlassen, sollte man den offensichtlich ablaufenden Stimmungsumschwung in weiten Teilen der Bevölkerung (und die sich verändernde Berichterstattung in den Medien) nicht unterschätzen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das ehrenamtliche Engagement, das eben nicht mehr unbedingt von einer breiten Zustimmungs- und Sympathiewelle getragen wird. Insofern – so meine These – bleibt die Frage offen, ob die im Ergebnis tatsächlich so wichtige Hilfe auch auf längere Sicht stabilisiert werden kann. Dazu würde man sich mehr Forschungsbefunde wünschen über die Motivationslagen der Flüchtlingshelfer, um mögliche Reaktionen auf das sich verändernde Umfeld einschätzen zu können.

Ergänzend zu den Ergebnissen der BIM-Studie kann man auf eine weitere – ebenfalls qualitativ angelegte – Studie verweisen, die vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) veröffentlicht wurde: Geflüchtete Menschen in Deutschland: Eine qualitative Befragung, so ist die Arbeit von Herbert Brücker et al. überschrieben.

Die Studie stellt hoch relevante Fragen: »Warum mussten die in den letzten drei Jahren nach Deutschland gekommenen Geflüchteten ihre Heimat verlassen, welche Erfahrungen haben sie auf der Flucht gemacht und warum haben sie Deutschland als Zielland ausgewählt? Was bringen sie im Hinblick auf Bildung, Ausbildung und andere Fähigkeiten mit? Welche Einstellungen, Werte und Vorstellungen von einem Leben in Deutschland haben sie? Welche Voraussetzungen haben sie für eine Integration in Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Gesellschaft und auf welche Hürden treffen sie?«

Auch bei dieser Studie haben wir es mit einem qualitativen Design zu tun: Im Rahmen dieser Studie wurden 123 Flüchtlinge und 26 Experten aus der Flüchtlingsarbeit in eineinhalb- bis zweistündigen Interviews befragt.

Die Bedeutung dieser Untersuchung ist eine doppelte: Erstmals geht es tatsächlich um die Geflüchteten, die mit der Einwanderungswelle seit September in Deutschland ankamen. Und zum anderen bereiten das BAMF, das IAB und das DIW damit eine größere Erhebung vor, die noch kommen soll.

Anna Steiner hat ihren Artikel über die Studie überschrieben mit Warum Flüchtlinge nach Deutschland kommen – und was sie können:

»Die Fluchtursachen sind je nach Herkunftsland sehr verschieden. Während die Befragten aus Syrien, Irak, Pakistan und Afghanistan mehrheitlich angaben, vor den Repressalien verschiedener radikalislamischer Gruppierungen – wie beispielsweise dem sogenannten Islamischen Staat – geflohen zu sein, nannten Flüchtlinge aus den Balkanstaaten vor allem die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und Diskriminierung von Minderheiten als Fluchtgrund … Etwa die Hälfte der befragten Flüchtlinge hatte sich Deutschland bereits vor Beginn der Flucht als Zielland ausgesucht … Auch die hier vermutete Chance auf eine Zukunft lockte einen großen Teil der Flüchtlinge hierher … Für die Bildung und Arbeitserfahrung der Asylbewerber ist vor allem die Situation in ihren Herkunftsländern entscheidend … Wo bis vor Kurzem der Schulbesuch, ein Studium oder ein regelmäßiger, gesicherter Erwerb möglich waren, fallen die Bildungsbiografien besser aus. Menschen aus Ländern, die aus langjährigen Krisenregionen geflohen sind, stehen im Vergleich wesentlich schlechter da … Bei genauerer Betrachtung wird … deutlich, dass das Bildungsniveau von ethnischen und religiösen Minderheiten in den jeweiligen Ländern – wie den Jesiden aus Syrien oder den Roma vom Balkan – deutlich geringer ausfällt. Ihnen wurde in ihrer Heimat der Zugang zur Bildung verwehrt oder zumindest nur eingeschränkt ermöglicht. Flüchtlinge aus Afghanistan, Pakistan oder auch Eritrea befinden sich hingegen oft schon in zweiter Generation auf der Flucht. Sie haben sich daher schwer getan, eine Bildungsbiografie ohne große Lücken aufzubauen. Die Folgen sind – besonders auch für die Integration in Deutschland – drastisch: Analphabetismus und das Fehlen jeglicher Allgemeinbildung sind weit verbreitet.«

Insgesamt deuten auch diese Befunde darauf hin, dass wir von einer Polarisierung dergestalt ausgehen können und müssen, dass einer großen Gruppe mit (formal) höheren Bildungsabschlüssen eine noch größere Gruppe mit niedrigem oder gar keinem Schulabschluss gegenübersteht.

Viele derjenigen, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind, werden hier bleiben (dürfen) und wachsen jetzt von wenigen Ausnahmen abgesehen in das Hartz IV-System hinein. Man sollte sich keinen Illusionen hingeben und das auch nicht verschweigen: die meisten Flüchtlinge werden über eine längere Zeit, wenn nicht auf absehbare Dauer, von Transferleistungen des Staates abhängig sein. Insofern gilt hier natürlich auch und gerade für die Jobcenter, die dann für die Regelbetreuung der Menschen zuständig sind, dass es notwendig sein wird, für nachhaltige Integrationsversuche in den Arbeitsmarkt einen weitaus intensiveren Blick auf die Vielgestaltigkeit der Motive, ethnischen und kulturellen Hintergründe zu werfen bzw. einen solchen ermöglicht zu bekommen. Logischerweise „ticken“ viele derjenigen, die aus anderen kulturellen und auch religiösen Zusammenhängen gekommen sind, anders als beispielsweise die „normale“ Hartz IV-Klientel, mit deren Heterogenität viele Jobcenter oftmals bereits überfordert erscheinen.

Die Forschung steckt hier offensichtlich auch noch in den Kinderschuhen, wie die hier vorgestellten Beispiele zeigen. Ein nicht auflösbares Dilemma besteht natürlich darin, dass Forschung schlichtweg Zeit benötigt, die Menschen aber schon im Land sind und die Akteure vor Ort nicht warten können (bzw. das nicht tun sollten), bis wir mehr wissen als heute. Insofern wird das Steuern im Nebel des Nicht-Wissens und das Ausprobieren an der Tagesordnung bleiben müssen. Bleibt die Hoffnung, dass man von Tag zu Tag besser wird.

Statista-Infografik: Sorge um Zuwanderung und Integration auf Höchstwert, 26.07.2016