Von abstrakten „Armutsgefährdungsquoten“, bekannten Mustern der ungleichen Armutsverteilung und bedenklichen Entwicklungen

Bereits am 16. September meldete sich Florian Diekmann auf Spiegel Online zu Wort mit dieser Meldung: Armutsrisiko steigt auf höchsten Stand seit Wiedervereinigung. 15,7 Prozent der Menschen in Deutschland waren 2015 von monetärer Armut bedroht, 0,3 Prozentpunkte mehr als 2014 und so viel wie nie seit der Wiedervereinigung. Die zu diesem Zeitpunkt dem Verfasser des Artikels offensichtlich bereits vorliegenden Zahlen sind nun vom Statistischen Bundesamt offiziell veröffentlicht worden: Armutsgefährdung in Westdeutschland im 10-Jahres-Vergleich gestiegen, so haben die Bundesstatistiker ihre Pressemitteilung überschrieben. Die „Armutsgefährdungsquote“ ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und wird – entsprechend dem EU-Standard – definiert als der Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung (in Privathaushalten) beträgt. Der Median ist das mittlere Einkommen, die eine Hälfte der Menschen hat weniger, die andere Hälfte hat ein höheres Einkommen. Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens berechnetes bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied. Geht das auch konkreter, wird der eine oder andere fragen. Wann ist denn nun ein konkreter Mensch von Einkommensarmut „gefährdet“?

Dazu muss man die sogenannte „Armutsgefährdungschwelle“ in Euro pro Monat kennen. Und die lag im vergangenen Jahr für den „einfachsten“ Fall einer alleinstehenden Person, also einem Einpersonenhaushalt, bei 942 Euro, von denen sich dann die zitierten 15,7 Prozent Armutsgefährdete ableiten. Wenn also jemand weniger als diesen Betrag zur Verfügung hat, dann taucht er oder sie in der Quote mit auf.

Die 942 Euro als Schwellenwert gelten nun für ganz Deutschland – also für diejenigen, die in Mecklenburg-Vorpommern leben genau so wie für die, denen die Aufgabe gestellt ist, in München über die Runden zu kommen. Nur sind die Lebenshaltungskosten in den beiden Beispielsfällen, die stellvertretend für die regionalen Disparitäten in unserem Land stehen, sicher recht unterschiedlich, wenn man an die jeweiligen Preisniveaus denkt. Das spiegelt sich ja auch in unterschiedlichen Einkommensniveaus  zwischen den Regionen, die Menschen verdienen im Süden des Landes im Schnitt mehr als im Nordosten. Die Abbildung zu den Armutsgefährdungsschwellen verdeutlicht denn auch die praktische Umsetzung des folgenden Gedankengangs:

Man könnte durchaus plausibel auf die Idee kommen, dass es vielleicht sinnvoller wäre, regionale Armutsschwellen auszuweisen, die in München höher liegen müssen als in Mecklenburg-Vorpommern, denn dort ist das Einkommensniveau insgesamt deutlich niedriger als in Bayern. Und die ausgewiesenen Werte – 799 Euro im Nordosten und 1.025 Euro in Bayern für einen Einpersonenhaushalt – zeigen das dann auch. Die Armutsgefährdungsschwelle in Bayern liegt um 30 Prozent höher als in Mecklenburg-Vorpommern.

Es ergeben sich handfeste Unterschiede bei den als „Armutsquoten“ gehandelten Anteilwerten auf der Ebene der Bundesländer je nachdem, ob man den einen Bundes-Median oder aber die jeweiligen mittleren Einkommen in den einzelnen Bundesländern als Schwellenwerte heranzieht.
Nimmt man die 15,7 Prozent Armutsgefährdete in Deutschland, die mit dem Schwellenwert von 942 Euro pro Monat (und relativ gesehen weniger für Mehrpersonenhaushalte, 2015 für eine vierköpfige Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lagt dieser Wert bei 1.978 Euro im Monat) über alle Menschen in Deutschland ermittelt wurde, dann zeigt sich mit Blick auf die Bundesländer ein erwartetes Muster: Hohe Betroffenheit von Armutsgefährdung in Ostdeutschland und ein geringeres Niveau in den alten Bundesländern.
Das Armutsrisiko wäre demnach in den ostdeutschen Bundesländern um mehr als ein Drittel höher als in Westdeutschland.
Allerdings zeigt die ebenfalls in der Abbildung ausgewiesene Anwendung der jeweiligen Bundesländer-Mediane ein abweichendes Bild. Jetzt liegen die so berechneten Einkommensarmutsquoten im Westen anteilig über denen im Osten des Landes.

Das und mehr wurde bereits im März dieses Jahres von Florian Diekmann in seinem Artikel Das Armutszeugnis. Trügerische Statistik zum Einkommen diskutiert. Auch er weist auf die Unterschiede der jeweiligen Armutsquoten je nach zugrundeliegenden mittleren Einkommen hin: »In vielerlei Hinsicht erscheint die Darstellung nach Bundesland-Maßstab also als realistischer. So bilden die regionalen Einkommenshöhen die Lebenshaltungskosten am Wohnort besser ab als im gesamtdeutschen Maßstab.«

»Und dennoch: Auch die Armutsquote nach Bundesland-Maßstab ist eben nicht wahrer als die herkömmliche. Sie ermöglicht lediglich einen weiteren, anderen Blick auf das Phänomen Armut.
Denn in mancher Hinsicht passt der Bundesland-Maßstab nicht zur deutschen Lebenswirklichkeit. So kostet die Milch bei Aldi das Gleiche, ob sie nun in Schwedt oder Stuttgart im Regal steht – gerade ärmere Haushalte geben einen großen Teil ihres Geldes für Lebensmittel aus. Und Eltern im mecklenburgischen Gallin nutzt es wenig, dass die Preise zu Hause niedrig sind, wenn sie ihre Kinder finanzieren müssen, die im 60 Kilometer entfernten Hamburg eine Berufsausbildung machen oder studieren.«

Man kann das mit den regionalen Durchschnittswerten natürlich noch kleinteiliger machen als auf der Ebene der Bundesländer, aber dann hat man irgendwann den Effekt: In einem Armenhaus gibt es keine Armut, weil der Schwellenwert immer weiter absinkt.

Was kann man denn ansonsten noch mitnehmen aus den Daten? In dem Artikel von Florian Diekmann wurde der Verfasser zitiert:

»Der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell macht seit Langem auf derlei Tücken der Statistik aufmerksam – hält aber zwei Erkenntnisse ganz unabhängig vom gewählten Maßstab für nicht wegdiskutierbar: „Alleinerziehende, Kinder und Langzeitarbeitslose – diese Gruppen sind überdurchschnittlich stark von Armut betroffen.“ Und das habe in den vergangenen Jahren noch zugenommen. Zudem beobachtet er „auch eine regionale Konzentration und Zunahme der Armutsproblematik. Dabei gelten alte Gewissheiten wie ‚armer Osten‘ versus ‚reicher Westen‘ nicht mehr.“ Ein Befund, den eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich untermauert hat

Das kann man auch an den aktuellen Daten illustrieren: Die allgemeine Armutsgefährdungsquote lag 2015 bei 15,7 Prozent: Bei den Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren waren es 19,7 Prozent, bei den Alleinerziehenden 43,8 Prozent und bei den Erwerbslosen werden sogar 59 Prozent ausgewiesen.

Interessant sind zwei weitere Aspekte. Die Medien berichteten zwar über den Anstieg der Armutsgefährdungsquote, haben diesen aber sogleich relativiert mit Blick auf die einheimische Bevölkerung. Dazu als ein Beispiel dieser Artikel: Flüchtlinge machen Deutsche nicht ärmer: »Die Armutsquote ist in Deutschland im vergangenen Jahr durch die Migration leicht gestiegen. Einheimische sind allerdings nicht stärker betroffen als in den Jahren zuvor.« Und weiter erfahren wir: »Die Folgen der Flüchtlingskrise erreichen jetzt die Statistiken. Ein genauerer Blick auf die Daten zeigt …, dass der Anstieg ausschließlich auf eine gestiegene Armutsquote unter Migranten zurückzuführen ist. In diese Gruppe werden auch die Flüchtlinge gezählt. Bei der einheimischen Bevölkerung stagniert der Anteil dagegen seit 2011 bei 12,5 Prozent.«

Die Abbildung verdeutlicht zum einen den erheblichen Niveauunterschied zwischen den Menschen ohne und mit Migrationshintergrund sowie die Tatsache, dass tatsächlich der für 2015 gegenüber 2014 ausgewiesene Anstieg der Quote auf die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund zurückzuführen ist, deren Lage sich (weiter) verschlechtert hat. Das WSI hat sich ausführlicher mit der Frage „Wie wirkt sich Zuwanderung auf Armut aus?“ beschäftigt.

Allerdings sollte auch dieser Hinweis in dem bereits zitierten Artikel Flüchtlinge machen Deutsche nicht ärmer nicht untergehen: Bei der einheimischen Bevölkerung stagniert der Anteil der Einkommensarmen seit 2011 bei 12,5 Prozent. Man kann also nicht sagen, dass die Einwanderung (derzeit) auf das Armutsrisiko durchschlägt, aber der Finger wird angesichts des wirtschaftlichen Umfelds der vergangenen Jahre auf eine andere Wunde gelegt:

»Auf der anderen Seite zeigen sie, dass die aktuell sehr gute wirtschaftliche Lage und die geringe Arbeitslosigkeit sich offenbar nicht auf das Armutsrisiko auswirken. Ein Grund dafür könnte sein, dass viele Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und deswegen unterhalb der Schwellenwerte bleiben.«

Die Abbildung soll aber auch noch für einen weiteren, vor allem mit Blick auf die Zukunft höchst relevanten Aspekt der Armutsrisikoentwicklung sensibilisieren. In den vergangenen Jahren wurde und wird zu Recht darauf hingewiesen, dass vor allem Kinder und Jugendliche überdurchschnittlich von Einkommensarmut (ihrer Eltern) betroffen sind, während es „den“ älteren Menschen doch sehr gut gehen würde, auf alle Fälle wären sie von Einkommensarmut nur unterdurchschnittlich betroffen. Aber der Blick auf die Entwicklung der Armutsgefährdungsquote für die Menschen ab 65 Jahre verdeutlicht auch, dass wir hier mit einem erheblichen Anstieg der Anteilwerte konfrontiert sind, während die Werte bei den unter 18-Jährigen stagnieren.

Und ein etwas genauerer Blick lohnt:
Die allgemeine Quote liegt bei 15,7 Prozent, die der älteren Menschen ab 65 Jahre bei unterdurchschnittlichen 14,6 Prozent. Aber das wird nur dadurch erreicht, dass der Anteilswert bei den Männern ab 65 Jahren bei 12,6 Prozent liegt, hingegen erreicht der Armutsrisikowert bei den Frauen bereits 2015 überdurchschnittliche 16,3 Prozent. Die von den Statistikern gemessene Armutsgefährdungsquote der älteren Frauen hat sich von 2006 bis 2015 um 36 Prozent erhöht, während sich der Anstieg bei den unter 18-Jährigen auf nur 6 Prozent begrenzt. Man kann also in diesen trockenen Zahlen die bereits an Fahrt aufnehmende Ausweitung der Altersarmut erkennen – und die ist eine, die vor allem die Frauen betrifft. Zu berücksichtigen ist, dass erst in den kommenden Jahren aufgrund der immer brüchiger gewordenen Erwerbsbiografien, der Niedriglohnentwicklung seit den 1990er Jahren und den Folgen des Leistungsabbaus in der gesetzlichen Rentenversicherung viele Menschen in die Altersgruppe ab 65 Jahren aufsteigen, die dann in der Gruppe der relativ Einkommensarmen zu finden sein werden.

Zugegeben – das war eine Menge trocken daherkommender Zahlen-Stoff, aus dem man allerdings so einiges an sozialpolitischen Baustellen ableiten kann. Wer sich an dieser Stelle nach einer gewissen „Erdung“ des behandelten Themas Armut sehnt, dem sei an dieser Stelle der Artikel Wenn Flüchtlinge auf die Armut Deutschlands treffen von Julian Staib empfohlen: »Überschuldete Haushalte, soziale Verwerfungen: Viele Kommunen kämpfen ohnehin darum, für ihre Bewohner gute Lebensbedingungen zu schaffen. Jetzt kommen noch Flüchtlinge hinzu. Das Beispiel Essen.« Der Beitrag versucht, kein Ausspielen der Menschen unten gegeneinander zu befördern, zugleich legt er aber den Finger auf die Wunde, dass Armutslagen nicht nur mit Durchschnittswerten betrachtet werden dürfen, die zuweilen mehr zuschütten, als sie uns an weiterführenden Informationen ermöglichen. Und es wird der Hinweis gegeben, auf eine fatale Konzentration der Probleme auf der Ebene vor Ort, denn zu den vielen bereits vorhandenen sozialen Problemen in der Stadt Essen ist in den zurückliegenden Jahren und vor allem Monaten eine überdurchschnittliche Zuwanderung von Flüchtlingen gekommen – mit allen Verstärkungsproblemen in der Stadtgesellschaft. Und die Konzentration von Armutslagen löst Handlungsbedarfe aus, deren Bedienung zugleich restringiert wird durch die katastrophale Haushaltslage einer Kommune wie der im Ruhrgebiet. Wir sind konfrontiert mit höchst engagierten Akteuren vor Ort, die sehen und wissen, wie derzeit die Mega-Probleme von morgen produziert werden, die eine Vorstellung davon haben, was man machen müsste, wenn man denn könnte, was aber in der Praxis vor Ort eben oftmals nicht der Fall ist aufgrund der fehlenden Mittel.

In dem Artikel wird am Ende Martin Schlauch zitiert, Mitglied des Stadtrats von Essen, der mit Blick auf sein Viertel Altenessen-Süd ausführt:

»Aus der Sicht Schlauchs hat Essen kein Flüchtlings- und auch kein Ausländerproblem, sondern ein soziales Problem. „Wir haben einen ganz großen Block an Leuten, die resigniert haben.“ Schuld daran sei die Politik: Fehlender sozialer Wohnungsbau, fehlende Durchmischung. Kommen nun viele Flüchtlinge hinzu, sorgt er sich, dass sein Viertel wegkippt. „Nichts ist fataler, als dass die Menschen herumsitzen und nichts zu tun haben.“ Schlauch fordert, massiv in die betroffenen Viertel zu investieren, in Schulen und Sozialwohnungen, in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. „Aber nicht nur für Flüchtlinge.“ Dann, sagt er, gebe es sogar die Chance, durch das „Vehikel Flüchtlinge“ alte Fehler zu korrigieren.«

Es wäre zu hoffen, dass das „Vehikel Flüchtlinge“ nicht nur dazu führt, dass rechtspopulistische Parteien und Stimmungsmacher immer mehr Oberwasser gewinnen und ihren Profit eintreiben aus den unvermeidlichen Spannungen, die sich in der Gesellschaft aufgebaut haben bzw. die von der Berichterstattung zuweilen erst geschaffen werden, sondern dass tatsächlich die von vielen Praktikern seit langem angemahnten „sozialen Investitionen“ endlich ermöglicht werden, damit uns das nicht um die Ohren fliegt.

Ein nicht nur statistisches Lehrstück: Wie man eben mal so 300.000 schwarzarbeitende Flüchtlinge produziert, die es bis in die Tagesschau schaffen

Ende August zirkulierte eine Meldung durch die Medienlandschaft, die es in sich hatte – konnte man sich doch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven bestätigt fühlen in seiner Sicht auf die Welt: Flüchtlinge werden ausgebeutet und sind Opfer der Verhältnisse am einen Ende, die Flüchtlinge bedrohen unsere Sozialsysteme und benachteiligen die „ehrlichen“ Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit ihrem Verhalten.

Was war passiert? Der NDR ging mit dieser Nachricht an die Öffentlichkeit: Flüchtlinge arbeiten schwarz für Dumpinglöhne. Mit einer klaren Ansage: »Viele Flüchtlinge in Deutschland arbeiten nach Recherchen von NDR Info schwarz zu Dumpinglöhnen und unter schlechten Arbeitsbedingungen. Immer wieder vermitteln dabei Mitarbeiter oder Besucher von Flüchtlingsunterkünften Schwarzarbeiterjobs gegen Provision.« Man habe bei Sozialarbeitern, Flüchtlingshelfern, Wissenschaftlern und schwarz arbeitenden Flüchtlingen recherchiert. Dann kommt zwar ein dezenter Hinweis: »Verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht«, aber die sich an dieser Stelle möglicherweise ausbreitende Unsicherheit über die wirkliche Bedeutung der Schlagzeile wird sogleich und wie so oft mit Bezug auf „die Wissenschaft“ entkräftet, denn die muss es ja nun wissen: »So schreiben Wissenschaftler der Universitäten Tübingen und Linz in einer Studie, der Anteil der Schwarzarbeiter liege bei bis zu 30 Prozent der 1,1 Millionen Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr in Deutschland angekommenen sind.« Punkt.

Nun wird der eine oder andere Eingeweihte bei dem Hinweis auf Wissenschaftler und Universität Linz sofort an eine konkrete Person denken: Friedrich Schneider. Über ihn kann man beispielsweise erfahren, dass er »ein deutscher und österreichischer Ökonom (ist). Er gilt als Fachmann für die Forschungsdisziplinen Schattenwirtschaft, Steuerhinterziehung und organisierte Kriminalität sowie in der Umweltökonomie.« Das passt doch, so jemand muss es doch nun wissen, wenn es jemand weiß.

Aber weiß man das tatsächlich? Oder glaubt man etwas, was als scheinbare Tatsache in den Raum gestellt wird? Von diesen Fragezeichen getrieben hat Kerstin Bund genauer hingeschaut und als Ergebnis ihrer Recherchen diesen Artikel veröffentlicht, dessen Überschrift nur aus einer nackten Zahl besteht: 300.000. »Wie eine Meldung Hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland unbewiesen zu Schwarzarbeitern erklärte«, so erläutert sie den Hintergrund der so prominent gesetzten Zahl.

Sie und ihre Kollegen der ZEIT haben versucht, die Aussage von den möglicherweise Hunderttausenden Flüchtlingen in Schwarzarbeit zu überprüfen: »Wir haben mit Flüchtlingshelfern, Heimbetreibern, Gewerkschaftern und Arbeitgebervertretern gesprochen. Nirgendwo fanden sich konkrete Hinweise darauf, dass Schwarzarbeit unter Asylsuchenden massenhaft verbreitet ist.«

Da wäre beispielsweise der Zoll, der von Amts wegen mit der Bekämpfung der Schwarzarbeit betraut sind: »Nach eigenen Angaben trifft der Zoll bei seinen Kontrollen lediglich sechs bis elf Flüchtlinge an, die nicht angemeldet sind. Pro Monat. Das sind ungefähr 100 im Jahr. „Wenn es diese hohen Fallzahlen gäbe, über die berichtet wird, dann würden wir die irgendwo sehen. Wir sehen sie aber nicht“, sagt Klaus Salzsieder von der Generalzolldirektion.«

Nun könnte man natürlich einwenden, dass die Kontrolldichte insgesamt bescheiden ist und vor allem in einigen wenigen Branchen kontrolliert wird.

Also weiter auf der Spurensuche. Da wäre doch das Hotel- und Gaststättenwesen als ein grundsätzlich überaus anfälliger Bereich für Schwarzarbeit. Da müssten dann so einige der vielen schwarzarbeitenden Flüchtlinge untergekommen sein. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten sagt zum Aufregerthema: „Wir haben keinerlei Erkenntnisse dazu.“

Wie wäre es dann mit dem Bau-Bereich, auch so ein Kandidat für illegale Beschäftigungsformen? Fragt man bei der Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt nach, heißt es: „Das Problem sind eher Wanderarbeiter aus Bulgarien und Rumänien, die unangemeldet auf dem Bau arbeiten. Von Schwarzarbeitern aus Syrien oder Afghanistan, die die Baustellen überschwemmen, haben wir noch nichts gehört.“

Nun wird man unsicher: »Ist der Flüchtling ohne Arbeitsvertrag also nur ein Phantom?«
Selbst aus den gegen Arbeitsausbeutung vehement kämpfenden Organisationen werden die Zweifel verstärkt, dass wir es mit einem Massenphänomen zu tun haben:

»Emilija Mitrovic von der Beratungsstelle Migration und Arbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Hamburg fügt hinzu: „Die Schätzungen, die in den Medien kursieren, sind haltlos. Es gibt keine seriösen Zahlen.“«

Nun ist es sicherlich verständlich, dass Schwarzarbeit gerade nicht so transparent sein kann wie der Verkauf von Spekulatius-Gebäck ab August eines jeden Jahres. Das deutet ja schon der Begriff an. Schwarzarbeit findet statt im Schatten der offiziellen Wirtschaftskreisläufe.
»Seltsam aber, dass niemand aus der Szene etwas von einer Flüchtlings-Schattenwirtschaft mitbekommen hat. Hunderttausende Asylsuchende ohne Arbeitspapiere bleiben unentdeckt? Schwer zu glauben«, so auch Kerstin Bund in ihrem Artikel.

In der Ausgangsmeldung vom NDR werden nur zwei konkrete Fälle benannt: Zum einen den ehemaligen, weil zwischenzeitlich entlassenen Mitarbeiter einer Flüchtlingsunterkunft im niedersächsischen Neu Wulmstorf, der versucht haben soll, den Bewohnern gegen Provision Schwarzarbeit zu vermitteln. Und zum anderen ein Mann aus Burkina Faso, den die Reporter am Hamburger Busbahnhof antreffen und der nach eigenen Angaben immer wieder schwarzarbeitet. Und dann wird noch eine Sozialarbeiterin zitiert, die einfach so mal schätzt, dass bis zu 50 Prozent der Asylbewerber irgendwann einmal schwarzarbeiteten.

Also bleibt nur „die“ Wissenschaft in Gestalt der Ökonomen Friedrich Schneider von der Universität Linz und Bernhard Boockmann vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung in Tübingen. Die angeblich 300.000 Flüchtlinge in Schwarzarbeit sollen doch aus einer Studie der beiden stammen.

Schaut man genauer hin, was es mit dieser Studie auf sich hat (vgl. zur Langfassung Friedrich Schneider und Bernhard Boockmann: Die Größe der Schattenwirtschaft – Methodik und Berechnungen für das Jahr 2016, Linz und Tübingen, 2. Februar 2016), stößt man auf ein mittlerweile jährlich praktiziertes Ritual, der Verkündigung der Zahl der Schwarzarbeiter und des Umsatzes, der in diesem Teil der Schattenwirtschaft generiert werden soll. In diesem Jahr wurde am 2. Februar 2016 unter der Überschrift Gute Arbeitsmarktlage reduziert erneut die Schattenwirtschaft zum Thema Flüchtlinge und Schwarzarbeit berichtet – allerdings irritiert die Überschrift angesichts der Kronzeugenrolle, die den Zahlen von Schneider und Boockmann zugeschrieben wird: »Flüchtlinge und Schattenwirtschaft: verlässliche Prognose nicht möglich« (S. 2). Und dann erfahren wir:

»Der Zustrom an arbeitsfähigen Personen erhöht das potenzielle Angebot an Arbeitskräften. Allerdings ist eine Modellabschätzung noch nicht möglich, zumal die Zusammensetzung des Flüchtlingsstroms noch nicht bekannt ist.
Um eine Vorstellung über mögliche Größenordnungen zu gewinnen, wurde eine Projektion der Schattenwirtschaft von Asylbewerbern und Flüchtlingen vorgenommen. Nach Angaben des IAB ist 2016 infolge der Zuwanderung mit einer Erhöhung des (legalen) Erwerbspersonenpotenzials um 380.000 Personen zu rechnen. Hinzu kommen diejenigen, deren Asylantrag noch bearbeitet wird oder die in Deutschland bleiben, obwohl ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Nach einer Abschätzung ist insgesamt mit ca. 800.000 Personen im erwerbsfähigen Alter zu rechnen.
Nimmt man an, dass 25 % dieser Personen in der Schattenwirtschaft tätig werden, so ergibt sich unter weiteren Annahmen über Arbeitsumfang und Entlohnung eine zusätzliche Wertschöpfung von knapp 1,5 Mrd. Euro … Dieses zusätzliche Volumen der Schattenwirtschaft ist aber geringer als die für 2016 prognostizierte Abnahme der gesamten Schattenwirtschaft. Dies gilt auch für alternativ aufgestellt Szenarien.«

Szenarien, das ist das Schlüsselwort. Kerstin Bund formuliert – völlig zu Recht – etwas despektierlich, dass vor dem Hintergrund des Nicht-Wissens, wie viele Flüchtlinge wo wie aufschlagen, die Forscher auf einen Kniff zurückgreifen: Sie setzen „Szenarien an die Stelle von Wissen“.
Sie berichtet dann von drei Szenarien, in denen die Wissenschaftler davon ausgehen, dass einmal 100.000, einmal 200.000 und einmal 300.000 Flüchtlinge schwarzarbeiten. Offensichtlich hat sie als gute Journalistin beim Urheber der Szenarien nachgefragt und zitiert seine Antwort so:

„Das Szenario mit 300 000 Flüchtlingen ist das plausibelste“, sagt Schneider, einer der beiden Autoren, am Telefon. Wie er zu dieser Annahme komme? Da bleibt der Forscher vage. Er stütze sich auf „Stichproben“ aus Flüchtlingsunterkünften in Konstanz, Passau und Marburg, wo Betreuer, die er persönlich kenne, Flüchtlinge befragt hätten, ob sie schwarzarbeiteten oder sich das vorstellen könnten.

In aller Bescheidenheit soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die notwendigerweise erheblichen Zweifel an der Aussagekraft der von Schneider und Boockmann in die Welt gesetzten Zahlen bereits am Tag der Veröffentlichung der Berechnungen der Schwarzarbeitswissenschaftler hier in einem Blog-Beitrag massiv vorgetragen wurden: An sich gute Nachrichten aus der Schattenwirtschaft. Wenn da nicht die Flüchtlinge wären, von denen Gefahr droht. Aber ist das wirklich so?, so ist mein Beitrag vom 2. Februar 2016 überschrieben worden.

Und abschließend – es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass mit den auf überaus wackeligen Beinen stehenden Schwarzarbeitszahlen (vgl. zur Kritik an den jährlich aktualisierten Berechnungen nur als ein Beispiel den Beitrag von  U. Thießens: Schattenwirtschaft: Vorsicht vor hohen Makroschätzungen, in: Wirtschaftsdienst, H. 3/2011, S. 194-201) politisches Schindluder getrieben wird. Nur als eine Erinnerung sei hier auf den Beitrag Beim Mindestlohn-Bashing darf die Schattenwirtschaft nicht fehlen. Und wenn sie passend gemacht werden muss vom 3. Februar 2015 hingewiesen. Anfang 2015 wurde mit Hilfe der Zahlen von Schneider und Boockmann ein deutlicher Anstieg der Schwarzarbeit durch den gesetzlichen Mindestlohn in Aussicht und mithin ein weiterer „Beleg“ für die Schädlichkeit einer solchen Lohnuntergrenze in den Raum gestellt. Das wurde schon in meinem Blog-Beitrag aus dem Jahr 2015 als überaus fragwürdig kritisiert.

Zu dem, was interessierte Medien am Anfang des Jahres 2015 mit den Zahlen zu Beginn des Wirksamwerdens des gesetzlichen Mindestlohns gemacht haben, ist es nicht gekommen. Aber in dem Moment hat die Botschaft bei dem einen oder anderen sicher gewirkt.
Wer fragt denn auch heute noch nach, was aus scheinbar sicheren Schätzungen geworden ist. Wie man sieht: Es lohnt sich, das zu tun.

Flüchtlingshelfer im Niemandsland zwischen euphorischer Willkommenskultur und verunsicherungsbedingter Ablehnung. Und die Flüchtlinge selbst?

Es ist sicherlich keine Übertreibung, wenn man schreibt, dass die Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung über die Folgen der starken Zuwanderung vor allem von Flüchtlingen erheblich zugenommen hat. Umfrageergebnisse belegen die Bedeutung, die mittlerweile das Thema Zuwanderung und Integration bekommen hat – völlig gegenläufig zu den Sorgen über andere Themen wie Arbeitslosigkeit oder wirtschaftliche Stabilität. Vor allem die Angst vor Arbeitslosigkeit hat in den vergangenen Jahren dramatisch abgenommen (vgl. die Abbildung mit dem Verlauf der Werte von 2006 bis heute). Seit 2015 explodieren hingegen die Werte, die eine Sorge um Zuwanderung und Integration anzeigen. Und es ist sicherlich ebenfalls keine Übertreibung, dass das Merkel’sche „Wir schaffen das“-Postulat mittlerweile nicht nur seine Strahlkraft, sondern auch die Mehrheit verloren hat. Es ist naheliegend, dass die Frage nach den Flüchtlingshelfern auch in dem angedeuteten Kontext einer deutlichen Stimmungsverschiebung in der Bevölkerung gestellt und behandelt werden muss. Wir erinnern uns alle an den Spätsommer einer hoch emotionalisierten „Willkommenskultur“ im vergangenen Jahr, in der an Bahnhöfen ankommenden Flüchtlinge klatschend in Empfang genommen worden sind. Das nun hat sich geändert und damit auch das Umfeld, in dem sich die vielen, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren bzw. engagiert haben.

Vor diesem Hintergrund scheint eine solche Meldung der Bertelsmann-Stiftung eine gewisse Entspannung zu signalisieren: Trotz Anschlagsserie: freiwillige Flüchtlingshelfer lassen nicht nach, so hat die Stiftung den Bericht über eine neue Studie überschrieben. Die Bedeutung der Rolle der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer ist offensichtlich, so die Bertelsmann-Stiftung:

»Die engagierten Helfer in Deutschland übernehmen in der Flüchtlingsarbeit unter anderem Aufgaben, die normalerweise der Staat leisten müsste, wie zum Beispiel die Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und Wohnraum. Weiterhin besonders wichtig bleibt ihr Einsatz als Brücke zwischen den Geflüchteten und den Behörden. So übernehmen sie wichtige Lotsen-Funktionen: begleiten Geflüchtete bei Behördengängen, bei ersten Schritten in Schulen und Praktika oder führen frühzeitige Sprachförderung unabhängig vom Status der Flüchtlinge durch. Die Helfer sorgen dafür, dass geflüchtete Menschen Angebote zur Integration überhaupt wahrnehmen können.«

Die von Ulrike Hamann, Serhat Karakayali, Leif Jannis Höfler, Mira Wallis erstellte Studie Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen wurde vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt. Dabei sind in 17 Kommunen deutschlandweit 25 qualitative Interviews geführt, sowie ein Workshop mit ehrenamtlichen und hauptamtlichen Koordinatoren umgesetzt worden. Die Erhebung fand zwischen Januar und März 2016 statt. Es handelt sich also um eine qualitative Studie, die keinesfalls repräsentative Aussagen über „die“ Flüchtlingshelfer erlaubt.

Die Bertelsmann-Stiftung bilanziert wichtige Ergebnisse der Studie:
Die Forscher haben in der Studie drei Formen der Zusammenarbeit zwischen den Städten und den Initiativen vor Ort identifiziert:

1. Nach dem ersten Modell übernehmen vor allem einzelne Menschen ehrenamtlich die Koordination in den Städten oder Stadtteilen. Ihre Aufgaben reichen von der Einführung neuer Engagierter in die Initiativen über die Vermittlung konkreter Hilfsangebote bis zur Beantragung von Fördermitteln. Diese Koordination zwischen Behörden und Geflüchteten ist oft ein Vollzeitjob. Der Vorteil: Der Koordinator weiß genau, was Geflüchtete und Engagierte brauchen. Der Nachteil: Schnell kann es hierbei zu einer Überlastung einzelner Personen kommen.

2. Beim zweiten Modell handelt es sich um eine Netzwerk-Koordination. Hierbei gibt es keinen einzelnen, zentralen Akteur, sondern die Aktiven treffen ihre Entscheidungen an runden Tischen. Der Vorteil: Die Netzwerk-Koordination ermöglicht Austausch auf Augenhöhe. Der Nachteil: Es gibt keinen zentralen Ansprechpartner. Entscheidungen brauchen viel Zeit und Geduld. Hinzu kommt, dass die Augenhöhe zwischen Freiwilligen und Behörden-Mitarbeitern selten erreicht wird. Vor allem Engagierte, aber auch Geflüchtete erleben ihre Teilnahme deswegen nicht selten als Alibi, da die entgültige Entscheidung meist doch in den Behörden getroffen wird.
3. Das dritte Modell bildet die zentrale Koordinationsstelle in der Kommunalverwaltung. Hier gibt es einen hauptamtlichen Ansprechpartner, dem entsprechende Kompetenzen und Mittel zur Verfügung stehen. Seine Hauptaufgaben: Bedarfe und Angebote zusammenbringen, Informationen bündeln, Fördermittel, Austausch und Fortbildungen organisieren. Damit die Arbeit der zentralen Koordinierungsstelle wirkt, muss sie unabhängig arbeiten können und von den Initiativen akzeptiert sein. Außerdem sollte sie auf die Unterstützung der Initiativen ausgerichtet sein.Die Forscher weisen in ihren Empfehlungen zur Koordination der Flüchtlingshilfe  (S. 54 ff. der Studie) darauf hin, dass man diese drei Formen nicht separat voneinander betrachten sollte, da sie – idealerweise – alle miteinander verwoben sind bzw. sein sollten, decken sie doch unterschiedliche Bedarfe ab:

»Wir haben in den Kommunen drei Typen der Koordination ehrenamtlichen Engagements festgestellt: die zentrale Koordination, die Netzwerk-Koordination und die Initiativen-Koordination. Die drei Typen sind auf verschiedenen Ebenen anzutreffen und sind ergänzend zu verstehen. Das bedeutet, dass eine Kommune, in der alle drei Typen vorhanden sind, eine besonders gute Zusammenarbeit auf den unterschiedlichen Ebenen des Engagements erreichen kann. Während die Initiativen-Koordination den engen Kontakt zu Engagierten und Geflüchteten hat, kann die zentrale Koordination Spendenangebote koordinieren und Qualifikation für Freiwillige organisieren. Damit die Arbeit rund um das Ankommen der Flüchtlinge gut funktioniert, ist eine netzwerkartige Koordination vonnöten, die alle Akteure in regelmäßigen Abständen zum Austausch zusammenbringt.«

Mit Blick auf eine Stabilisierung der Flüchtlingshelfer-Arbeit wird auf die Koordinationsaufgabe abgestellt: »Die Koordinationsarbeit für die Initiativen-Koordination überschreitet den zeitlichen Umfang des typischen Ehrenamts. Durch einen Zeitaufwand von bis zu 40 Stunden kann diese Aufgabe auf lange Sicht nicht ehrenamtlich durchgeführt werden. Um Kontinuität zu gewährleisten, sollten Finanzierungsmöglichkeiten für diese zeitaufwändigen Arbeiten gefunden werden … Für eine nachhaltige Zusammenarbeit von Kommunen und freiwilligen Initiativen ist es sinnvoll, eine ausreichende Stellenanzahl zu schaffen und die Koordinatorinnen und Koordinatoren tarifgerecht zu bezahlen.«

Man kann erkennen, dass wir uns offensichtlich in einer aus anderen Handlungsfeldern gut bekannten und nicht unproblematischen Übergangsphase befinden, die man als einerseits notwendige, aber andererseits durchaus auch kritisch bewertbare „Professionalisierung“ der Flüchtlingshilfe bezeichnen kann.

Damit verbunden ist ein höchst ambivalenter Sachverhalt. Diese Ambivalenz kann man daran festmachen, dass wir es am Anfang mit einem rein ehrenamtlichen Hilfeimpuls zu tun hatten (und weiter haben), der aber im Laufe der Zeit durch das Hilfe- und Helferwachstum wie auch durch Erfahrungseffekte immer stärker in Richtung Strukturierung, Ausdifferenzierung und Hierarchiebildung getrieben wird. In deren Logik macht dann eine Stabilisierung der ehrenamtlichen Arbeit durch die von den Forschern vorgeschlagenen Maßnahmen einer durch Hauptberufliche zu leistenden Unterstützung sowie „natürlich“ auch – ob explizit benannt oder implizit mitlaufend – einer Lenkung und Steuerung der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer durchaus Sinn. Auf der anderen Seite löst das bei einem Teil der ehrenamtlich Engagierten Abwehr- und Rückzugsreaktionen aus, da eine solche Einbindung ihrem Selbstverständnis zuwiderläuft.

Auch wenn die Bertelsmann-Stiftung aus der von ihr in Auftrag gegebenen Studie die beruhigend daherkommende Schlussfolgerung zieht, dass die freiwilligen Flüchtlingshelfer nicht nachlassen, sollte man den offensichtlich ablaufenden Stimmungsumschwung in weiten Teilen der Bevölkerung (und die sich verändernde Berichterstattung in den Medien) nicht unterschätzen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das ehrenamtliche Engagement, das eben nicht mehr unbedingt von einer breiten Zustimmungs- und Sympathiewelle getragen wird. Insofern – so meine These – bleibt die Frage offen, ob die im Ergebnis tatsächlich so wichtige Hilfe auch auf längere Sicht stabilisiert werden kann. Dazu würde man sich mehr Forschungsbefunde wünschen über die Motivationslagen der Flüchtlingshelfer, um mögliche Reaktionen auf das sich verändernde Umfeld einschätzen zu können.

Ergänzend zu den Ergebnissen der BIM-Studie kann man auf eine weitere – ebenfalls qualitativ angelegte – Studie verweisen, die vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) veröffentlicht wurde: Geflüchtete Menschen in Deutschland: Eine qualitative Befragung, so ist die Arbeit von Herbert Brücker et al. überschrieben.

Die Studie stellt hoch relevante Fragen: »Warum mussten die in den letzten drei Jahren nach Deutschland gekommenen Geflüchteten ihre Heimat verlassen, welche Erfahrungen haben sie auf der Flucht gemacht und warum haben sie Deutschland als Zielland ausgewählt? Was bringen sie im Hinblick auf Bildung, Ausbildung und andere Fähigkeiten mit? Welche Einstellungen, Werte und Vorstellungen von einem Leben in Deutschland haben sie? Welche Voraussetzungen haben sie für eine Integration in Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Gesellschaft und auf welche Hürden treffen sie?«

Auch bei dieser Studie haben wir es mit einem qualitativen Design zu tun: Im Rahmen dieser Studie wurden 123 Flüchtlinge und 26 Experten aus der Flüchtlingsarbeit in eineinhalb- bis zweistündigen Interviews befragt.

Die Bedeutung dieser Untersuchung ist eine doppelte: Erstmals geht es tatsächlich um die Geflüchteten, die mit der Einwanderungswelle seit September in Deutschland ankamen. Und zum anderen bereiten das BAMF, das IAB und das DIW damit eine größere Erhebung vor, die noch kommen soll.

Anna Steiner hat ihren Artikel über die Studie überschrieben mit Warum Flüchtlinge nach Deutschland kommen – und was sie können:

»Die Fluchtursachen sind je nach Herkunftsland sehr verschieden. Während die Befragten aus Syrien, Irak, Pakistan und Afghanistan mehrheitlich angaben, vor den Repressalien verschiedener radikalislamischer Gruppierungen – wie beispielsweise dem sogenannten Islamischen Staat – geflohen zu sein, nannten Flüchtlinge aus den Balkanstaaten vor allem die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und Diskriminierung von Minderheiten als Fluchtgrund … Etwa die Hälfte der befragten Flüchtlinge hatte sich Deutschland bereits vor Beginn der Flucht als Zielland ausgesucht … Auch die hier vermutete Chance auf eine Zukunft lockte einen großen Teil der Flüchtlinge hierher … Für die Bildung und Arbeitserfahrung der Asylbewerber ist vor allem die Situation in ihren Herkunftsländern entscheidend … Wo bis vor Kurzem der Schulbesuch, ein Studium oder ein regelmäßiger, gesicherter Erwerb möglich waren, fallen die Bildungsbiografien besser aus. Menschen aus Ländern, die aus langjährigen Krisenregionen geflohen sind, stehen im Vergleich wesentlich schlechter da … Bei genauerer Betrachtung wird … deutlich, dass das Bildungsniveau von ethnischen und religiösen Minderheiten in den jeweiligen Ländern – wie den Jesiden aus Syrien oder den Roma vom Balkan – deutlich geringer ausfällt. Ihnen wurde in ihrer Heimat der Zugang zur Bildung verwehrt oder zumindest nur eingeschränkt ermöglicht. Flüchtlinge aus Afghanistan, Pakistan oder auch Eritrea befinden sich hingegen oft schon in zweiter Generation auf der Flucht. Sie haben sich daher schwer getan, eine Bildungsbiografie ohne große Lücken aufzubauen. Die Folgen sind – besonders auch für die Integration in Deutschland – drastisch: Analphabetismus und das Fehlen jeglicher Allgemeinbildung sind weit verbreitet.«

Insgesamt deuten auch diese Befunde darauf hin, dass wir von einer Polarisierung dergestalt ausgehen können und müssen, dass einer großen Gruppe mit (formal) höheren Bildungsabschlüssen eine noch größere Gruppe mit niedrigem oder gar keinem Schulabschluss gegenübersteht.

Viele derjenigen, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind, werden hier bleiben (dürfen) und wachsen jetzt von wenigen Ausnahmen abgesehen in das Hartz IV-System hinein. Man sollte sich keinen Illusionen hingeben und das auch nicht verschweigen: die meisten Flüchtlinge werden über eine längere Zeit, wenn nicht auf absehbare Dauer, von Transferleistungen des Staates abhängig sein. Insofern gilt hier natürlich auch und gerade für die Jobcenter, die dann für die Regelbetreuung der Menschen zuständig sind, dass es notwendig sein wird, für nachhaltige Integrationsversuche in den Arbeitsmarkt einen weitaus intensiveren Blick auf die Vielgestaltigkeit der Motive, ethnischen und kulturellen Hintergründe zu werfen bzw. einen solchen ermöglicht zu bekommen. Logischerweise „ticken“ viele derjenigen, die aus anderen kulturellen und auch religiösen Zusammenhängen gekommen sind, anders als beispielsweise die „normale“ Hartz IV-Klientel, mit deren Heterogenität viele Jobcenter oftmals bereits überfordert erscheinen.

Die Forschung steckt hier offensichtlich auch noch in den Kinderschuhen, wie die hier vorgestellten Beispiele zeigen. Ein nicht auflösbares Dilemma besteht natürlich darin, dass Forschung schlichtweg Zeit benötigt, die Menschen aber schon im Land sind und die Akteure vor Ort nicht warten können (bzw. das nicht tun sollten), bis wir mehr wissen als heute. Insofern wird das Steuern im Nebel des Nicht-Wissens und das Ausprobieren an der Tagesordnung bleiben müssen. Bleibt die Hoffnung, dass man von Tag zu Tag besser wird.

Statista-Infografik: Sorge um Zuwanderung und Integration auf Höchstwert, 26.07.2016

Flüchtlinge und ihre zunehmende Sichtbarkeit auf dem Arbeitsmarkt und im Grundsicherungssystem. Und Flüchtlinge, die nicht mehr kommen werden können

Die mediale Berichterstattung über das Thema Flüchtlinge hat sich merklich verschoben. Der sich teilweise überschlagende Ton einer täglichen Frontberichterstattung über die Zahl der Neuankömmlinge und der verzweifelten Unterbringungsversuche der vielen Menschen, die es auf deutschen Boden geschafft hatten, die im vergangenen Jahr bis in die ersten Wochen des laufenden Jahres alles überlagert hat, ist verschwunden. Zugespitzt formuliert könnte man den Eindruck bekommen, dass alles vorbei ist, dass keine Flüchtlinge mehr kommen (können). Während im vergangenen Jahr im EASY-System 1.092.000 Menschen registriert worden sind (wobei die tatsächliche Zahl geflüchteter Menschen aufgrund von Doppelzählungen, Rück- und Weiterreisen kleiner ist), wird für die Monate Januar bis Mai 2016 eine (Brutto-)Zahl von immerhin noch 206.000 ausgewiesen, die es trotz aller innereuropäischen Abschottungen beispielsweise mit Blick auf die mehr oder weniger geschlossene Balkan-Route oder das Zurückhalte-Abkommen mit der Türkei bis nach Deutschland geschafft haben.

Und wir können sicher sein, dass es weitaus mehr gewesen wären, wenn nicht das faktische Abblocken in anderen Länder und Regionen und auf das Mittelmeer, dessen Überquerung wieder zur wichtigsten Fluchtroute geworden ist, verlagert hätte. Das alles hat seinen „Preis“, der sich dann in solchen Überschriften kristallisiert: Mehr als 3600 tote Flüchtlinge im ersten Halbjahr: »Die weltweit gefährlichste Fluchtroute bleibt das Mittelmeer in Richtung Europa: Allein dort wurden bis Ende Juni mindestens 2.905 Flüchtlinge getötet oder für vermisst erklärt. Die große Mehrheit – mehr als 2.500 – ertrank … auf dem Weg von Afrika nach Italien.« Die Internationale Organisation für Migration (IOM) vermutet, »dass die Opferzahl in den Sommermonaten nochmals deutlich in die Höhe gehen wird.« Oder solche Meldungen von den Außengrenzen der EU: Ungarn will Flüchtlinge stärker abschrecken: »Mehr Polizei, bessere Ausrüstung und schärfere Regeln – die ungarische Regierung will Migranten mit Nachdruck fernhalten. Doch tatsächlich werden Elendslager an der Grenze anschwellen.« Dass das richtig ist, zeigen auch solche Zahlen: Seit dem Jahresbeginn wurden in Serbien an die 103.000 Flüchtlinge registriert. Nur knapp 5.000 entschlossen sich, einen Asylantrag einzureichen. Die anderen wollen EU-Boden erreichen.

Und die Ungarn belassen es offensichtlich nicht mit Ankündigungen, sondern setzen das um, mit solchen Ergebnissen: Ungarn beginnt mit Abschiebungen ohne Asylverfahren oder Ungarn misshandelt offenbar Flüchtlinge – und schiebt sie ab: »Budapest geht rigoros gegen illegale Einwanderer vor. Flüchtlinge berichten, aufgefangen, verprügelt und nach Serbien zurückgeschickt zu werden.«

Auch mit Blick auf die afrikanischen Ländern vor dem Mittelmeer ist Europa nicht untätig, sondern versucht, die Versuche des Übersetzens nach Europa im Vorfeld zu begrenzen bzw. perspektivisch zu verhindern: De Maizière will Flüchtlingszentren in Afrika, so ist beispielsweise einer der Artikel dazu überschrieben. Unter expliziter Bezugnahme auf das „Modell Türkei“ sollen Aufnahmezentren für Flüchtlinge in Nordafrika eingerichtet werden. Und wenn man sich schon die Hände schmutzig macht: EU will auch Militär mit Entwicklungshilfe unterstützen. Die EU nutze zunehmend zivile Programme, um paramilitärische Gendarmerieverbände auszubilden oder Grenzsicherung zur Flüchtlingsabwehr zu fördern, so die Kritiker dieses Vorstoßes. Und das ist nur ein Teil des Ganzen: Länder, die illegale Einwanderer aus Afrika zurücknehmen, sollen laut einem Vorschlag der EU-Kommision belohnt werden – „Migrationspartnerschaften“ nennen das die Planer.

Nun könnte man aus einer deutschen Perspektive auch so argumentieren: Das wird uns helfen, denn die Zuwanderungen werden deutlich zurückgehen. Deutlich weniger Menschen werden es bis zu uns schaffen. Und das eröffnet nicht nur den Raum, sich zu sortieren, den Krisenmodus der Notfallhilfe zu verlassen, sondern auch die anstehende Frage zu beantworten: Wie geht es denn weiter mit denen, die nun da sind und von denen viele lange, vielleicht für immer bleiben werden. Was passiert mit denen (nicht)? Dabei spielt die Frage, ob, wie und wann die geflüchteten Menschen auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können, eine ganz zentrale Rolle.

In diesem Zusammenhang von Bedeutung ist die Tatsache, dass wir zunehmend genauer die Umrisse der vielen Menschen in den Daten abgebildet bekommen. So veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit seit Juni 2016 differenzierte Daten über de Menschen mit einem Fluchthintergrund, vgl. dazu die Themenseite Migration und Arbeitsmarkt: »Mit dem Berichtsmonat Juni 2016 beginnt die Berichterstattung über Personen im Kontext von Fluchtmigration, die bei Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldet sind«, schreiben die Statistiker der BA (vgl. dazu auch die Hintergrundinformation „Geflüchtete Menschen in den Arbeitsmarktstatistiken – Erste Ergebnisse“).

Und dass wir mit Blick auf die so wichtige Integration in den Arbeitsmarkt eine lange Wegstrecke vor uns haben, verdeutlichen dann auch solche Meldungen: Erst 30.000 Flüchtlinge haben einen Job, so ist ein Interview mit dem Leiter des BAMF, Frank-Jürgen Weise, überschrieben:

»Aus den acht wichtigsten nicht-europäischen Asyl-Herkunftsländern arbeiteten im April 2016 rund 96.000 Menschen in sozialversicherungspflichtigen Jobs. Das sind 22.000 mehr als ein Jahr zuvor, also ein Anstieg um 29 Prozent. Wenn man auch andere Arbeitsgelegenheiten wie Mini-Jobs hinzunimmt, ist die Zahl um 30.000 gestiegen. Auf der anderen Seite haben wir aus dem Kreis der Asylbewerber heute schon 130.000 Menschen die arbeitslos in der Grundsicherung leben.«

Und auch erste Informationen, wo die landen, die einen Job gefunden haben, liefert uns der BAMF-Chef: »Zwischen April 2015 und März 2016 ging von 21.400 neuen Beschäftigten etwa jeder Vierte in die Leiharbeit, gefolgt von Dienstleistungen wie Gebäudereinigung oder Wachdienste. Danach kommen Gastgewerbe, Handel und Kfz-Werkstätten sowie das Gesundheits- und Sozialwesen.«

Eine differenzierte Aufarbeitung der nun vorliegenden statistischen Informationen hat O-Ton Arbeitsmarkt in diesem Artikel zusammengefasst: Flüchtlinge kommen im Hartz-IV-System an – und auf dem Arbeitsmarkt.

Diesem Beitrag ist auch die überaus instruktive Abbildung am Anfang des Blog-Beitrags entnommen. Die Darstellung der bereits erkennbaren Entwicklung der sozalversicherungspflichtig Beschäftigten, der (registrierten) Arbeitslosen und der Zahl der Hartz IV-Empfänger aus den zuzugstärksten Asylherkunftsländern außerhalb Europas, also Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien, verdeutlicht, was auf uns in den kommenden Monaten zukommen wird. Nach der starken Fluchtmigration im Jahr 2015 und der Beschleunigung der Asylverfahren werden die Menschen inzwischen auch in der Arbeitsmarkt- und Grundsicherungsstatistik sichtbar.

Die Zahl der Arbeitslosen steht oft im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit – aber man sollte an dieser Stelle gleich berücksichtigen, dass die Zahl nur eingeschränkt aussagefähig ist, denn wenn beispielsweise die anerkannten Asylbewerber in einem Sprach- und Integrationskurs stecken, dann sind sie nicht „arbeitslos“ im Sinne der Statistik, sehr wohl aber angewiesen auf Leistung aus dem Grundsicherungssystem. Von daher ist die Zahl der Hartz IV-Empfänger (Regelleistungsberechtigte) relevanter, zeigt sich hier doch die Hilfebedürftigkeit der betroffenen Menschen und die damit verbundenen Ausgaben. Und mehr noch: Zuständig sind die Jobcenter, die bereits in der Vergangenheit vorsichtig formuliert am oder über dem Rand der Funktionsunfähigkeit gearbeitet haben und nun einen erheblichen Zustrom an neuen „Kunden“, wie das in der Hartz IV-Welt mehr als euphemistisch genannt wird, bewältigen sollen/müssen. Das wird zu erheblichen Belastungszunahmen in diesen letzten Außenposten des Sozialstaats führen.

Bereits innerhalb des letzten Jahres (bis März 2016) gab es einen Anstieg der Hartz IV-Empfängerzahlen aus den genannten Ländern in der Größenordnung von +70 Prozent auf 380.000. Man erkennt in der Abbildung, dass die Dynamik vor allem in den vergangenen Monaten erheblich zugenommen hat und die große Welle aufgrund der dann erfolgten Anerkennungen der Flüchtlinge wird für den Sommer und Herbst erwartet, steht also noch vor der Tür. Das wird die Jobcenter und das Grundsicherungssystem stark in Anspruch nehmen.

»Gemessen an allen Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland ist der Anteil der Menschen aus den außereuropäischen Zuzugsländern aber gering. Im März 2016 stellten Personen aus Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien 6,4 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger, 5,7 Prozent aller Arbeitslosen und 0,3 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Ein Jahr vorher lagen die Anteile allerdings noch deutlich niedriger mit 3,7 Prozent der Hartz-IV-Empfänger, 2,7 Prozent der Arbeitslosen und 0,2 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.«

Das erkennbare und sich erwartbar verschärfende Problem liegt im Auseinanderlaufen zentraler Parameter:

»Innerhalb der Bevölkerungsgruppe aus den acht stärksten Asylzuzugsstaaten sind die Anteile der Hartz-IV-Empfänger und Arbeitslosen allerdings sehr hoch, während sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bisher eher selten ist.«

Vor uns liegen die Mühen der Ebene. Denn eine rasche Arbeitsmarktintegration wird sich als ein anzustrebendes, aber kaum erreichbares Ziel erweisen. Immer wieder wird man nicht nur mit der aus Sicht des deutschen Arbeitsmarkes „schwierigen Qualifikationsstruktur“ der Mehrheit der Flüchtlinge konfrontiert, sondern auch gut meinende Integrationsversuche scheitern und müssen scheitern am Nadelöhr der Sprachkenntnisse. Hier werden sich auch bitter die Versäumnisse der Vergangenheit und der Gegenwart im Bereich der Sprach- und Integrationskurse rächen, denn auch bei höchster Motivation der geflüchteten Menschen und einer grundsätzlichen Aufnahmebereitschaft vor allem in den kleinen und mittleren Unternehmen erweisen sich mangelnde Sprachkenntnisse in aller Regel als Ausschlusskriterium für eine Arbeitsmarktintegration.

Insofern werden wir davon ausgehen müssen, dass viele geflüchtete Menschen über auch lange Zeit im Hartz IV-System hängen bleiben werden. Und das ist nicht nur, aber auch problematisch vor dem Hintergrund einer deutlich skeptischeren bis ablehnenden Stimmungslage in Teilen der Bevölkerung. Bei denen dann die vielen neuen Hartz IV-Empfänger wie ein Beschleuniger der Vorurteile, Ängste und Bedenken wirken werden.

Arbeitsmarktpolitisch müsste es derzeit um zwei große Linien gehen: Ein massiver Ausbau der Sprachförderung möglichst früh und möglichst für alle Flüchtlinge (auch unabhängig von der statistischen Bleibewahrscheinlichkeit), diese inhaltlich erweitert im Sinne einer Verbindung von Arbeiten und Sprachförderung. Und angesichts der vielen jungen Flüchtlinge ist die unbürokratische, aber umfassende Erschließung von Beschäftigungsangeboten von enormer Bedeutung, gerade angesichts der immer mehr erkennbaren Probleme, die geflüchteten Menschen in den „normalen“ Arbeitsmärkten platzieren zu können. Jeder Praktiker weiß, was es bedeutet, wenn wir (was jeden Tag passiert) junge Menschen über viele Monate zum Nichtstun verdammen. Da braucht man keine Beobachtungsstudien. Das wird uns richtig auf die Füße fallen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Spannungsfeld von Bürokratie, Weises betriebswirtschaftlicher Weltsicht und menschlichen Schicksalen

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) liegt im Süden von Nürnberg in einem mächtigen Gebäudekomplex, der früher als SS-Kaserne diente (Südkaserne).  Vom „Einfallstor des Reichsparteitagsgeländes“ zu einem Ort, an dem Flüchtlingen Schutz vor Verfolgung gewährt und Migranten bei der Integration in unserer Gesellschaft unterstützt werden sollen – was für eine Entwicklungsgeschichte. Und das BAMF steht seit dem vergangenen Jahr im Blickpunkt einer teilweise hysterischen Öffentlichkeit, nach Jahren, die man verglichen mit den aktuellen Ereignissen als Dornröschenschlaf bezeichnen könnte. Jahre, in denen sich das übliche Prozedere und die damit verbundene Kultur einer bürokratischen Institution entwickelt und verfestigt hat, die ihren eigenen Lauf der Dinge gleichsam in ein Betonbett gegossen hat und darin auch irgendwie funktionierte. Bis so viele kamen. Und man nicht nur in die Außergewöhnlichkeit der von keinem vorher auch nur vorstellbaren Zahl an Menschen, die im vergangenen Jahr tagtäglich nach Deutschland kamen, geworfen wurde, sondern in dem die gewachsene Institution von einem Moment auf den anderen zu einer höchst politischen Einrichtung wurde, die zu funktionieren hat in dem Koordinatensystem derer in Berlin, die teilweise an bzw. jenseits der Grenze zur Panik agieren angesichts der massiven Verunsicherung der Gesellschaft.

Das hatte Folgen, substanzielle Folgen. Was die Führung der Behörde angeht, was die Art und Weise der Arbeit angeht (und die Inhalte des Tuns). Mithin die Kultur der Institution. Und die wird gerade einem vollständigen Transformationsversuch unterworfen, für den nach außen ein Name steht: Frank-Jürgen Weise, der das BAMF in Personalunion zu seiner Leitungstätigkeit bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) übertragen bekommen hat. Aber über ihn als sichtbaren Protagonisten hinaus steht dahinter eine für manche dringend notwendige und segensreiche „Modernisierung“ eines verstaubten Bürokratenladens, für andere hingegen wird die betriebswirtschaftliche Zurichtung einer Behörde und eine damit einhergehende Deformation ihrer eigentlichen Inhalte erkennbar, bei denen es um nichts weniger als die Gewährleistung der Umsetzung eines Grundrechts geht.

Wir sprechen von einer Behörde, die umständehalber in einen überdimensionierten Wachstumsprozess gezwungen wurde: Bis in das vergangene Jahr beschäftigte die Behörde knapp 2.600 Mitarbeiter, am Ende des Ausbaus sollen es 7.300 sein. Im Mai 2016 wurde von 6.700 Mitarbeitern berichtet. Wobei man aufpassen muss: Ursprünglich war geplant, die neuen Mitarbeiter fest einzustellen, stattdessen gibt es jetzt aber viel Personal, das aus anderen Behörden, zum Beispiel von der Post oder der Bahn, abgeordnet wurde.

Das allein wäre schon für jedes normale Unternehmen ein gewaltiger Kraftakt, der nicht ohne massive Probleme ablaufen würde. Und es geht hier um eine Behörde mit ihren Besonderheiten, die nicht nur, aber eben auch damit zu tun haben, dass es gerade nicht um die Optimierung oder Effizienzsteigerung bei der Verteilung von Paketen oder der Beschleunigung von Tötungsprozessen in Schlachthöfen geht, sondern um die Frage, ob einem Menschen Asyl gewährt wird oder nicht, ob jemand geduldet werden muss, weil die eigentlich anstehende „Rückführung“ möglicherweise den Tod für den Betroffenen bedeuten könnte. Oder weil das Herkunftsland ihn nicht (mehr) haben will.

Und das BAMF ist eingeklemmt in einen letztendlich nicht auflösbaren Widerspruch zwischen Masse und Einzelfall. Die notwendigerweise (eigentlich) gegebene Orientierung auf das Individuum mit seiner Geschichte und den im Regelfall nur in formalen Bruchstücken (wenn überhaupt) vorliegenden Identitäten bedingen etwas, was der Todfeind aller industriellen, auf einen Standard normierten Hochleistungsprozesse per se ist: einen erheblichen Zeitbedarf bei der Abklärung der fragmentierten Existenz und ihrer (Nicht-)Ansprüche, die Möglichkeit einer fundierten Prüfung der Umstände, die ausführliche Begründung der Entscheidung, die Gewährleistung eines rechtsstaatlich garantierten Überprüfungsanspruchs des für die Betroffenen existenziellen Urteils.

Dabei steht die Entscheidung über einen Asylantrag am Ende einer längeren Kette. Und erst einmal mussten die Menschen, die gekommen sind, registriert und verteilt werden. Nach einer mehr oder weniger langen Zeit haben sie dann die Möglichkeit, einen Antrag zu stellen, dessen Bearbeitung mal schnell vonstatten geht, teilweise aber immer noch Monate andauert. Und angesichts des enormen Staus, der sich im vergangenen Jahr gebildet hat, sind dann solche Meldungen nicht überraschend: »Deutlich weniger Flüchtlinge kommen nach Deutschland, aber die Schlüsselbehörde Bamf steht weiter unter Druck. Der Berg der Asylanträge wächst«, so Anna Reimann in ihrem Artikel Das BAMF bleibt im Stress aus dem Mai 2016. Auf der einen Seite steigt die Zahl der entschiedenen Asylanträge erheblich an, was man der Abbildung entnehmen kann. Allein in den ersten fünf Monaten sind fast so viele Asylanträge entschieden worden wie im ganzen Jahr 2015. Aber auch der Berg der noch nicht entschiedenen Verfahren wächst weiter. Laut BAMF liegt das daran, dass derzeit viele Flüchtlinge, die schon länger im Land sind, erstmals die Möglichkeit haben, ihren Antrag zu stellen. Anfang 2015 waren es 300.000 bis 400.000 Menschen, die noch keinen Asylantrag stellen konnten. Die müssen jetzt alle abgearbeitet werden.

Auf der anderen Seite geht der BAMF-Chef Weise hausieren mit einer frohen Botschaft, dass es gelungen sei, neu ankommende Flüchtlinge innerhalb von 48 Stunden, spätestens nach einer Woche zu bescheiden. Aber wie immer muss man genau hinschauen: Wer in einem der speziellen Ankunftszentren seinen Asylantrag stelle, müsse nur 48 Stunden bis sieben Tage bis zu einer Entscheidung warten, wird Weise zitiert. Das gelte für Menschen, bei denen aufgrund ihrer Herkunft entweder eine Ablehnung zu erwarten ist (West-Balkanländer) oder für solche Nationalitäten, die fast immer einen positiven Bescheid bekommen, zum Beispiel Syrer. Kompliziertere Fälle dauerten aber länger.

Aber dass die Politik Frank-Jürgen Weise beauftragt hat, ein echtes Problem zu lösen, koste es was es wolle, das kann man auch an solchen Zitaten ablesen, die in Berlin sicher mit großer Erleichterung aufgenommen worden sind:

„Ich bin mir ganz sicher, dass wir die Aufträge, die wir politisch bekommen haben, bis Ende des Jahres erledigen … Jetzt beginnt die Abarbeitung. Wenn ich rechne, dass jeder Entscheider zwei Entscheidungen pro Tag macht, ist das Ende des Jahres alles bearbeitet.“ Dies sei die erklärte Aufgabenstellung der Politik an ihn gewesen: Dass „der Rückstand nicht ins Wahljahr getragen wird“. (Quelle: Stau bei Asylanträgen soll bis Ende 2016 bewältigt sein).

Und offensichtlich verfügt Frank-Jürgen Weise über eine ganz hervorragende PR-Abteilung, deren Auftrag darin besteht, den Nimbus des unerschütterlichen Modernisierers der öffentlichen Verwaltung zu festigen und an einer ganz besonderen Legendenbildung zu arbeiten. Die Story ist simpel und damit in der Medienlandschaft eingängig: Weise habe die alte, verkrustete Bundesanstalt für Arbeit (BA) zu einem modernen, effizient arbeitenden Dienstleistungsunternehmen umgebaut. Eine Heldentat. Und deshalb habe man ihm auch das BAMF in die Hände gelegt, damit er das zweite Wunder von Nürnberg bewirken kann.

Um dieses Bild zu konservieren und vor allem im Bewusstsein publizistischer Multiplikatoren fest zu verankern wurden in den vergangenen Wochen zahlreiche, teilweise an Hofberichterstattung erinnernde Reportagen über den Verwaltungsmodernisierungsfrontkämpfer Weise erfolgreich platziert.

Als ein den Anhänger professioneller Distanz im Journalismus irritierendes Beispiel sei hier auf das Porträt des Frank-Jürgen Weise verwiesen, das Tilman Gerwien unter der bezeichnenden Überschrift Von einem, der auszog, das Bürokratiemonster zu besiegen gestellt hat. Und damit klar ist, wohin die Reise geht, wird gleich nachgeschoben: »Er hat keine Zeit für Palaver, seine Mitarbeiter müssen auf Konferenzen stehen: Frank-Jürgen Weise will aus dem schwerfälligen Bundesamt für Migration eine moderne Behörde machen.« Man führe sich nur den folgenden Passus gleich am Anfang des Artikels zu Gemüte:

„Tempo, Tempo, Tempo! „Sie können jetzt noch ein paar wichtige Punkte aus Ihrer Arbeit vorstellen, wir haben dafür noch drei Minuten“, sagt Frank-Jürgen Weise und lächelt aufmunternd dem Referatsleiter zu, der in seinem Stuhl kauert. Drei Minuten für die Themen „Resettlement, Humanitäre Aufnahme, Relocation“, drei Minuten für Themen, die ein ganzes Beamtenleben ausfüllen können. Auf der Stirn des Zuständigen bilden sich kleine Schweißperlen. Er hebt an zu ein paar allgemeinen Ausführungen. Weise unterbricht: „Okay, ich hab’s schon verstanden.“ Wegtreten, der Nächste, bitte!

So beginnt eine Lobhudelei, die sich durch den ganzen Artikel zieht und zugleich tiefe Einblicke in die Begeisterungsfähigkeit des Journalisten offenbart. Natürlich darf auch hier die unhinterfragte Behauptung, die BA sei jetzt modern und funktioniere gut (was auf eine totale Ignoranz der vielen auch sehr kritischen Wortmeldungen zum Zustand der Arbeitsagenturen und vor allem der Jobcenter schließen lässt), nicht fehlen: »Weise ist Fallschirmjäger, Oberst der Reserve, er weiß sich durchzusetzen. Und er hat Managementerfahrung, in den 90er Jahren führte er einen Logistikbetrieb für die Autoindustrie. Mit dieser Doppelqualifikation hat er die einstmals träge Arbeitsverwaltung in den vergangenen Jahren erfolgreich zum modernen Jobvermittler umorganisiert.«

Ex-Soldat und Manager aus der Welt der Privatwirtschaft ist offensichtlich eine doppelte, per se für sich sprechende Qualifikation für die Leitung einer Behörde, die eine ganz zentrale Einrichtung des Sozialstaats ist und mithin nicht als frei schwebendes Versicherungsunternehmen fungieren kann und darf, sondern Sozialgesetze umzusetzen hat.

Aber Tilman Gerwien berauscht sich zunehmend an seiner eigenen Beschreibung: »Weise ist eine Zumutung für das BAMF. Einer, der seine ersten Mails an Mitarbeiter gern um 5.20 Uhr verschickt und die letzten um 22.30 Uhr. Einer, der Sätze sagt wie: „Was ich nicht leiden kann, sind Low-Performer, die hier rumsitzen im öffentlichen Dienst und nicht ihren Job machen.“« Der Weise zeigt es den Low-Performern, den Sesselpupsern im Amt.

Weises betriebswirtschaftliche Sicht auf die Welt wird in dem folgenden Passus aus dem Artikel besonders deutlich erkennbar:

»Weise (bleibt) bei seiner Vorgabe: 20 Anhörungen von Asylbewerbern muss jeder Beamte pro Woche erledigen. Was jetzt liegen bleibt, muss später aufgeholt werden. „Wir sind in der Produktivität der Anhörungen noch nicht gut genug“, stellt ein Abteilungsleiter fest. „Wir müssen die Außenstellen trimmen, die Schlagzahl erhöhen.“ Weise spricht von „integriertem Flüchtlingsmanagement“ , von „Buchungssystemen“ , von „Track and Trace“, was eigentlich ein Begriff aus der Logistik ist und so viel heißt wie „Sendungsverfolgung“; die systematische Erfassung, wo sich bestimmte Waren zu welchem Zeitpunkt in der Lieferkette befinden.«

Flüchtlinge und Asylverfahren als logistisches Problem einer fragmentierten und zu optimierenden Lieferkette? So kann man das sehen. Muss man aber nicht.

Wie extrem einseitig der Hofberichterstatter Gerwien ist, kann man dem folgenden Zitat entnehmen:

»Weise und das BAMF, das ist ein permanenter „clash of cultures“ , ein Zusammenprall der Kulturen. Hier der auf gnadenlose Effizienz und Disziplin getrimmte Manager-Offizier. Dort die behäbige Großbehörde, die in ihrer Ruhe nicht gestört werden will.«

Bei solchen in Stein gemeißelten Feststellungen kann man doch gar nicht anders, als sich auf die Seite des Helden zu schlagen, der die behäbigen Beamten – kennen wir sie nicht alle? – in Rage versetzt. Der muss irgendwie Recht haben.

Aber um was geht es genau? Weise will laut Gerwien »schnell weitere Einstellungen, aber der Personalrat fordert langwierige interne Ausschreibungen für jede Stelle. „So was habe ich noch nicht erlebt, wie Leute bei einem Verfahren bleiben, das absolut nicht lebenstauglich ist“, sagt Weise. Seine Ansage: Zügig neue Leute holen, auch gegen den Widerstand der Arbeitnehmervertreter. „Wir entscheiden das jetzt. Notfalls haben wir dann eben die nächste Klage.“«

Da kommt es wieder durch, das fortlaufende Motiv eines bewundernswerten Kampfes gegen die verstaubten Strukturen einer tradierten Verwaltungskultur, die sich scheut, den neuen und modernen Anforderungen gerecht zu werden. Oder gibt es vielleicht eine andere Erzählung, die sich weniger pathetisch anhört?

Die gibt es. Bleiben wir bei den Einstellungen. Die andere Seite der Geschichte finden wir beispielsweise in dem Artikel So läuft das eben beim BAMF von Kersten Augustin. Die Kurzfassung: »Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellte Hunderte neue Mitarbeiter ein. Viele wurden nach drei Wochen Schulung wieder entlassen.«

Es geht dabei um Leute, die sich beim BAMF beworben haben auf Stellen als „Anhörer“ (Sachbearbeiter im Asylverfahren, die den Flüchtling zu seinen Asylgründen befragen) und die – per Mail – eine Zusage bekommen haben. Ohne ein Bewerbungsgespräch.

Die Arbeit der neu eingestellten Mitarbeiter beginnt mit einer dreiwöchigen Schulung. »Früher habe man neues Personal ein halbes Jahr lang geschult, erzählt ihnen einer der Ausbilder. Grund für die kurze Ausbildungszeit sei der aktuelle „Ausnahmezustand“ wegen der vielen unbearbeiteten Asylanträge. „So läuft das eben beim Bamf“, erklärt er.«
Am Ende der Schulung dann die Überraschung. Jedem zweiten im Kurs wird gekündigt. Einige klagen nun gegen das BAMF.

»Auch der Personalrat kritisiert die neue Einstellungspraxis ohne Bewerbungsgespräch, er wurde bei den Einstellungen seit Anfang des Jahres nicht mehr beteiligt. Schon Anfang März war von 750 Fällen die Rede … Gegen diese Praxis hatte der Personalrat geklagt. Am Dienstag dieser Woche haben Vertreter des Bamf vor Gericht nun Fehler eingeräumt. In Hunderten Fällen seien die Mitbestimmungsrechte des Personalrats missachtet worden. In Zukunft soll der Personalrat wieder beteiligt werden.«

Man muss wissen: Jahrelang hat man Einstellungen beim BAMF kein zusätzliches Personal eingestellt, selbst im vergangenen Jahr noch, als längst klar war, wie sich die Arbeitsbelastung entwickeln wird. Und dann musste alles ganz schnell gehen. »Im vergangenen Herbst wurde die Bundesbehörde von der Unternehmensberatung McKinsey beraten, jetzt werden offenbar neue Wege ausprobiert.« Und hier ist sie wieder, die enge, sehr enge Verbindung zwischen Frank-Jürgen Weise und den Unternehmensberatern. Die schon bei der BA für einige Verirrungen gesorgt haben, um das mal höflich auszudrücken.

Nun könnte man das abtun als Berichte über einzelne Mitarbeiter, die nicht zum Zuge gekommen sind, die ihren Frust loswerden wollen durch eine schlechte Publicity für das BAMF. Aber da liegt wohl deutlich mehr im Argen, wenn man beispielsweise diesen Bericht zur Kenntnis nimmt: Mitarbeiter kritisieren „gruselige“ Zustände im Asylamt, so die „Nürnberger Nachrichten“.
Der örtliche Personalratsvorsitzende, Gernot Hüter, hat „fabrikmäßige Fließbandanhörungen“ und „Schmalspurausbildungen“ neuer Entscheider kritisiert. Es komme nicht nur darauf an, Entscheidungen schnellstmöglich zu treffen, sondern auch inhaltlich richtig, so Hüter.

„Bald sind wir ein Heer von Dilettanten“, heißt es in einer Mail, in einer anderen wird kritisiert, dass an vielen verantwortlichen Positionen Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit (BA) eingesetzt würden, die „keine Ahnung vom Asylverfahren und seinen Erfordernissen“ hätten.
Und Gernot Hüter vom Personalrat wird noch deutlicher und das sollte man sich merken:

»Er habe sich nie vorstellen können, dass eine deutsche Behörde „wissentlich und willentlich“ gegen Gesetze verstoße, „nur weil es die Leitung scheinbar für betriebswirtschaftlich sinnvoll erachtet. Das ist wahrhaft gruselig“.«

Bereits im Januar 2016 gab es im Deutschlandfunk eine Hintergrund-Sendung unter der Überschrift Im Crashkurs zum Asylentscheider. In diesem Beitrag ging es nicht nur um den Aspekt der Schnellausbildung, sondern immer auch um die, die auf der anderen Seite der Schreibtische sitzen müssen, also die betroffenen Asylantragsteller. Das ist ein Aspekt, der in den inszeniert wirkenden Berichten über die oberste Heeresleitung so gut wie nie auftaucht.

Es geht dabei nicht nur um den formal erscheinenden Aspekt, dass wir bei Asylfragen über eine verfassungsrechtlich normiertes Grundrecht reden, mit dem man sorgsam umgehen muss, was immer auch bedeutet, dass die auf der anderen Seite des Schreibtisches ein faires Verfahren bekommen und berücksichtigt werden muss, dass viele von diesen Menschen in einer Ausnahmesituation leben.

Ein faires Verfahren bekommen – das klingt abstrakt und kann doch durchaus sehr konkret werden. Dazu ein Beispiel: Bamf soll Asylverfahren in Berlin bewusst erschweren, berichtet der Tagesspiegel:

»Der Flüchtlingsrat Berlin hat dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) vorgeworfen, Einladungen zu Asylanhörungen systematisch zu spät zu verschicken. Der gemeinnützige Verein schreibt auf Facebook, das Bamf würde die Briefe so absenden, dass Asylbewerber keine Chance hätten, zum angegebenen Termin zu erscheinen … Manche Briefe seien zwar auf vier bis sieben Tage vor der Anhörung datiert – die Zustellung erfolgte aber erst am Tag der Anhörung oder sogar danach. „Inzwischen könnte der Eindruck entstehen, dass die Asylbewerber bewusst um ihren Anhörungstermin gebracht werden“, heißt es weiter … Das Bamf hat die Vorwürfe des Flüchtlingsrates bisher nicht zurückgewiesen: Sprecherin Andrea Brinkmann kündigte eine Überprüfung an.«

Berlin halt wieder, wird der eine oder andere einwerfen, da geht ja nun wirklich fast alles schief. Wie wäre es dann damit: Bamf-Experten entsetzt über mangelhafte Qualitätskontrolle:

»Fachleute des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) kritisieren … in einem internen Papier die mangelhafte Qualitätssicherung der Asylverfahren. Im vergangenen Jahr habe das hierfür zuständige Referat bei gerade mal ein Prozent der 282.700 Asylentscheidungen stichprobenartig überprüfen können, ob die jeweilige Entscheidung korrekt war … Die Beschleunigung der Verfahren und die große Zahl neuer, unerfahrener Mitarbeiter in der Behörde könnten nun zu einer „signifikanten Ausweitung“ von Problemen führen. Um nicht zu einer reinen „Alibifunktion“ zu verkommen, müsse die Qualitätssicherung dringend aufgestockt und verbessert werden.«

Aber was sind das schon für Probleme, wenn man mit dem großen Ganzen befasst ist und einen Auftrag der Politik zu erfüllen hat. Insofern folgen auch andere Berichte und Interviews mit Frank-Jürgen Weise der faktischen Dramaturgie, einem sich aufopfernden Manager zu huldigen – ob nun offen fasziniert wie in der Eloge des Tilman Gerwien oder etwas subtiler, aber nicht weniger wirksam. „Ich habe einen Auftrag zu erfüllen“, so hat ZEIT ONLINE ein Interview überschrieben, das sich der Frage widmet: Was bewegt Frank-Jürgen Weise.

Und im SPIEGEL (Heft 23/2016) erschien ein Artikel unter der Überschrift Amt und Würde: »Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge … wird … zur Hochleistungsbehörde umgebaut.«
Hochleistungsbehörde – wer kann etwas dagegen haben? Hört sich doch gut an. Aber am Ende des Beitrags findet man durchaus auch nachdenklich stimmende Untertöne:
Mit Blick auf die Mitarbeiter, die schon da waren, als Weise und seine betriebswirtschaftlich fokussierte Prätorianergarde das Schiff übernommen haben, wird darauf hingewiesen, dass man hier auf den Versuch, im öffentlichen Dienst das Denken nach Zahlen einzuführen, besonders kritisch reagiere. Wer hier arbeitet, der hat einmal genau hier arbeiten wollen. Beim BAMF. Nicht bei einer Baumarktkette und auch nicht bei einem Logistik-Unternehmen.

Es gehe, so die beiden Autoren Alexander Smoltczyk und Wolf Weidmann-Schmidt, um ein

»… Amt, das vom Weltgeschehen auf offene See getrieben wurde, mitsamt dem Gepäck von Zuständigkeiten und Standards, und das jetzt damit hadert, was an Bord bleiben kann und was nicht.
An der Spitze ein Offizier der Reserve, der bei der Kanzlerin im Wort steht, und unter ihm eine altgediente Mannschaft, die Kurs halten will. Überstunden machen sie alle.
Eine Behörde, die in einer alten SS-Kaserne untergebracht wurde und in der Mitarbeiter nach Dienstschluss noch in der Suppenküche aushelfen.«