Es ist sicherlich keine Übertreibung, wenn man schreibt, dass die Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung über die Folgen der starken Zuwanderung vor allem von Flüchtlingen erheblich zugenommen hat. Umfrageergebnisse belegen die Bedeutung, die mittlerweile das Thema Zuwanderung und Integration bekommen hat – völlig gegenläufig zu den Sorgen über andere Themen wie Arbeitslosigkeit oder wirtschaftliche Stabilität. Vor allem die Angst vor Arbeitslosigkeit hat in den vergangenen Jahren dramatisch abgenommen (vgl. die Abbildung mit dem Verlauf der Werte von 2006 bis heute). Seit 2015 explodieren hingegen die Werte, die eine Sorge um Zuwanderung und Integration anzeigen. Und es ist sicherlich ebenfalls keine Übertreibung, dass das Merkel’sche „Wir schaffen das“-Postulat mittlerweile nicht nur seine Strahlkraft, sondern auch die Mehrheit verloren hat. Es ist naheliegend, dass die Frage nach den Flüchtlingshelfern auch in dem angedeuteten Kontext einer deutlichen Stimmungsverschiebung in der Bevölkerung gestellt und behandelt werden muss. Wir erinnern uns alle an den Spätsommer einer hoch emotionalisierten „Willkommenskultur“ im vergangenen Jahr, in der an Bahnhöfen ankommenden Flüchtlinge klatschend in Empfang genommen worden sind. Das nun hat sich geändert und damit auch das Umfeld, in dem sich die vielen, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren bzw. engagiert haben.
Vor diesem Hintergrund scheint eine solche Meldung der Bertelsmann-Stiftung eine gewisse Entspannung zu signalisieren: Trotz Anschlagsserie: freiwillige Flüchtlingshelfer lassen nicht nach, so hat die Stiftung den Bericht über eine neue Studie überschrieben. Die Bedeutung der Rolle der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer ist offensichtlich, so die Bertelsmann-Stiftung:
»Die engagierten Helfer in Deutschland übernehmen in der Flüchtlingsarbeit unter anderem Aufgaben, die normalerweise der Staat leisten müsste, wie zum Beispiel die Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und Wohnraum. Weiterhin besonders wichtig bleibt ihr Einsatz als Brücke zwischen den Geflüchteten und den Behörden. So übernehmen sie wichtige Lotsen-Funktionen: begleiten Geflüchtete bei Behördengängen, bei ersten Schritten in Schulen und Praktika oder führen frühzeitige Sprachförderung unabhängig vom Status der Flüchtlinge durch. Die Helfer sorgen dafür, dass geflüchtete Menschen Angebote zur Integration überhaupt wahrnehmen können.«
Die von Ulrike Hamann, Serhat Karakayali, Leif Jannis Höfler, Mira Wallis erstellte Studie Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen wurde vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt. Dabei sind in 17 Kommunen deutschlandweit 25 qualitative Interviews geführt, sowie ein Workshop mit ehrenamtlichen und hauptamtlichen Koordinatoren umgesetzt worden. Die Erhebung fand zwischen Januar und März 2016 statt. Es handelt sich also um eine qualitative Studie, die keinesfalls repräsentative Aussagen über „die“ Flüchtlingshelfer erlaubt.
Die Bertelsmann-Stiftung bilanziert wichtige Ergebnisse der Studie:
Die Forscher haben in der Studie drei Formen der Zusammenarbeit zwischen den Städten und den Initiativen vor Ort identifiziert:
1. Nach dem ersten Modell übernehmen vor allem einzelne Menschen ehrenamtlich die Koordination in den Städten oder Stadtteilen. Ihre Aufgaben reichen von der Einführung neuer Engagierter in die Initiativen über die Vermittlung konkreter Hilfsangebote bis zur Beantragung von Fördermitteln. Diese Koordination zwischen Behörden und Geflüchteten ist oft ein Vollzeitjob. Der Vorteil: Der Koordinator weiß genau, was Geflüchtete und Engagierte brauchen. Der Nachteil: Schnell kann es hierbei zu einer Überlastung einzelner Personen kommen.
»Wir haben in den Kommunen drei Typen der Koordination ehrenamtlichen Engagements festgestellt: die zentrale Koordination, die Netzwerk-Koordination und die Initiativen-Koordination. Die drei Typen sind auf verschiedenen Ebenen anzutreffen und sind ergänzend zu verstehen. Das bedeutet, dass eine Kommune, in der alle drei Typen vorhanden sind, eine besonders gute Zusammenarbeit auf den unterschiedlichen Ebenen des Engagements erreichen kann. Während die Initiativen-Koordination den engen Kontakt zu Engagierten und Geflüchteten hat, kann die zentrale Koordination Spendenangebote koordinieren und Qualifikation für Freiwillige organisieren. Damit die Arbeit rund um das Ankommen der Flüchtlinge gut funktioniert, ist eine netzwerkartige Koordination vonnöten, die alle Akteure in regelmäßigen Abständen zum Austausch zusammenbringt.«
Mit Blick auf eine Stabilisierung der Flüchtlingshelfer-Arbeit wird auf die Koordinationsaufgabe abgestellt: »Die Koordinationsarbeit für die Initiativen-Koordination überschreitet den zeitlichen Umfang des typischen Ehrenamts. Durch einen Zeitaufwand von bis zu 40 Stunden kann diese Aufgabe auf lange Sicht nicht ehrenamtlich durchgeführt werden. Um Kontinuität zu gewährleisten, sollten Finanzierungsmöglichkeiten für diese zeitaufwändigen Arbeiten gefunden werden … Für eine nachhaltige Zusammenarbeit von Kommunen und freiwilligen Initiativen ist es sinnvoll, eine ausreichende Stellenanzahl zu schaffen und die Koordinatorinnen und Koordinatoren tarifgerecht zu bezahlen.«
Man kann erkennen, dass wir uns offensichtlich in einer aus anderen Handlungsfeldern gut bekannten und nicht unproblematischen Übergangsphase befinden, die man als einerseits notwendige, aber andererseits durchaus auch kritisch bewertbare „Professionalisierung“ der Flüchtlingshilfe bezeichnen kann.
Damit verbunden ist ein höchst ambivalenter Sachverhalt. Diese Ambivalenz kann man daran festmachen, dass wir es am Anfang mit einem rein ehrenamtlichen Hilfeimpuls zu tun hatten (und weiter haben), der aber im Laufe der Zeit durch das Hilfe- und Helferwachstum wie auch durch Erfahrungseffekte immer stärker in Richtung Strukturierung, Ausdifferenzierung und Hierarchiebildung getrieben wird. In deren Logik macht dann eine Stabilisierung der ehrenamtlichen Arbeit durch die von den Forschern vorgeschlagenen Maßnahmen einer durch Hauptberufliche zu leistenden Unterstützung sowie „natürlich“ auch – ob explizit benannt oder implizit mitlaufend – einer Lenkung und Steuerung der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer durchaus Sinn. Auf der anderen Seite löst das bei einem Teil der ehrenamtlich Engagierten Abwehr- und Rückzugsreaktionen aus, da eine solche Einbindung ihrem Selbstverständnis zuwiderläuft.
Auch wenn die Bertelsmann-Stiftung aus der von ihr in Auftrag gegebenen Studie die beruhigend daherkommende Schlussfolgerung zieht, dass die freiwilligen Flüchtlingshelfer nicht nachlassen, sollte man den offensichtlich ablaufenden Stimmungsumschwung in weiten Teilen der Bevölkerung (und die sich verändernde Berichterstattung in den Medien) nicht unterschätzen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das ehrenamtliche Engagement, das eben nicht mehr unbedingt von einer breiten Zustimmungs- und Sympathiewelle getragen wird. Insofern – so meine These – bleibt die Frage offen, ob die im Ergebnis tatsächlich so wichtige Hilfe auch auf längere Sicht stabilisiert werden kann. Dazu würde man sich mehr Forschungsbefunde wünschen über die Motivationslagen der Flüchtlingshelfer, um mögliche Reaktionen auf das sich verändernde Umfeld einschätzen zu können.
Ergänzend zu den Ergebnissen der BIM-Studie kann man auf eine weitere – ebenfalls qualitativ angelegte – Studie verweisen, die vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) veröffentlicht wurde: Geflüchtete Menschen in Deutschland: Eine qualitative Befragung, so ist die Arbeit von Herbert Brücker et al. überschrieben.
Die Studie stellt hoch relevante Fragen: »Warum mussten die in den letzten drei Jahren nach Deutschland gekommenen Geflüchteten ihre Heimat verlassen, welche Erfahrungen haben sie auf der Flucht gemacht und warum haben sie Deutschland als Zielland ausgewählt? Was bringen sie im Hinblick auf Bildung, Ausbildung und andere Fähigkeiten mit? Welche Einstellungen, Werte und Vorstellungen von einem Leben in Deutschland haben sie? Welche Voraussetzungen haben sie für eine Integration in Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Gesellschaft und auf welche Hürden treffen sie?«
Auch bei dieser Studie haben wir es mit einem qualitativen Design zu tun: Im Rahmen dieser Studie wurden 123 Flüchtlinge und 26 Experten aus der Flüchtlingsarbeit in eineinhalb- bis zweistündigen Interviews befragt.
Die Bedeutung dieser Untersuchung ist eine doppelte: Erstmals geht es tatsächlich um die Geflüchteten, die mit der Einwanderungswelle seit September in Deutschland ankamen. Und zum anderen bereiten das BAMF, das IAB und das DIW damit eine größere Erhebung vor, die noch kommen soll.
Anna Steiner hat ihren Artikel über die Studie überschrieben mit Warum Flüchtlinge nach Deutschland kommen – und was sie können:
»Die Fluchtursachen sind je nach Herkunftsland sehr verschieden. Während die Befragten aus Syrien, Irak, Pakistan und Afghanistan mehrheitlich angaben, vor den Repressalien verschiedener radikalislamischer Gruppierungen – wie beispielsweise dem sogenannten Islamischen Staat – geflohen zu sein, nannten Flüchtlinge aus den Balkanstaaten vor allem die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und Diskriminierung von Minderheiten als Fluchtgrund … Etwa die Hälfte der befragten Flüchtlinge hatte sich Deutschland bereits vor Beginn der Flucht als Zielland ausgesucht … Auch die hier vermutete Chance auf eine Zukunft lockte einen großen Teil der Flüchtlinge hierher … Für die Bildung und Arbeitserfahrung der Asylbewerber ist vor allem die Situation in ihren Herkunftsländern entscheidend … Wo bis vor Kurzem der Schulbesuch, ein Studium oder ein regelmäßiger, gesicherter Erwerb möglich waren, fallen die Bildungsbiografien besser aus. Menschen aus Ländern, die aus langjährigen Krisenregionen geflohen sind, stehen im Vergleich wesentlich schlechter da … Bei genauerer Betrachtung wird … deutlich, dass das Bildungsniveau von ethnischen und religiösen Minderheiten in den jeweiligen Ländern – wie den Jesiden aus Syrien oder den Roma vom Balkan – deutlich geringer ausfällt. Ihnen wurde in ihrer Heimat der Zugang zur Bildung verwehrt oder zumindest nur eingeschränkt ermöglicht. Flüchtlinge aus Afghanistan, Pakistan oder auch Eritrea befinden sich hingegen oft schon in zweiter Generation auf der Flucht. Sie haben sich daher schwer getan, eine Bildungsbiografie ohne große Lücken aufzubauen. Die Folgen sind – besonders auch für die Integration in Deutschland – drastisch: Analphabetismus und das Fehlen jeglicher Allgemeinbildung sind weit verbreitet.«
Insgesamt deuten auch diese Befunde darauf hin, dass wir von einer Polarisierung dergestalt ausgehen können und müssen, dass einer großen Gruppe mit (formal) höheren Bildungsabschlüssen eine noch größere Gruppe mit niedrigem oder gar keinem Schulabschluss gegenübersteht.
Viele derjenigen, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind, werden hier bleiben (dürfen) und wachsen jetzt von wenigen Ausnahmen abgesehen in das Hartz IV-System hinein. Man sollte sich keinen Illusionen hingeben und das auch nicht verschweigen: die meisten Flüchtlinge werden über eine längere Zeit, wenn nicht auf absehbare Dauer, von Transferleistungen des Staates abhängig sein. Insofern gilt hier natürlich auch und gerade für die Jobcenter, die dann für die Regelbetreuung der Menschen zuständig sind, dass es notwendig sein wird, für nachhaltige Integrationsversuche in den Arbeitsmarkt einen weitaus intensiveren Blick auf die Vielgestaltigkeit der Motive, ethnischen und kulturellen Hintergründe zu werfen bzw. einen solchen ermöglicht zu bekommen. Logischerweise „ticken“ viele derjenigen, die aus anderen kulturellen und auch religiösen Zusammenhängen gekommen sind, anders als beispielsweise die „normale“ Hartz IV-Klientel, mit deren Heterogenität viele Jobcenter oftmals bereits überfordert erscheinen.
Die Forschung steckt hier offensichtlich auch noch in den Kinderschuhen, wie die hier vorgestellten Beispiele zeigen. Ein nicht auflösbares Dilemma besteht natürlich darin, dass Forschung schlichtweg Zeit benötigt, die Menschen aber schon im Land sind und die Akteure vor Ort nicht warten können (bzw. das nicht tun sollten), bis wir mehr wissen als heute. Insofern wird das Steuern im Nebel des Nicht-Wissens und das Ausprobieren an der Tagesordnung bleiben müssen. Bleibt die Hoffnung, dass man von Tag zu Tag besser wird.
Statista-Infografik: Sorge um Zuwanderung und Integration auf Höchstwert, 26.07.2016