Die Angst der Krankenkassen-Funktionäre vor einer Stärkung der Pflege in den Krankenhäusern

Es besteht Konsens darüber, dass es zu wenig Personal gibt – in der Kranken- und der Altenpflege. Uneinigkeit herrscht aber darüber, wie das Problem behoben werden kann. Insbesondere die Krankenkassen kritisieren die Pläne der großen Koalition (vgl. dazu auch Pressekonferenz Pflege im Krankenhaus des GKV-Spitzenverbandes). Die Argumente der Kassen sind nicht von der Hand zu weisen. Das meint zumindest Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel Kassen kritisieren Koalitionspläne gegen Pflegenotstand. Und schon im Untertitel schiebt er eine den einen oder andren überraschende Botschaft hinterher: »Krankenkassen fürchten, dass der Kampf ums Personal zulasten der Altenheime geht.« Wie das?

Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es hier um zwei große Pakete im Kontext einer Stärkung der Pflege in den Krankenhäusern geht – deren von vielen beklagte gegenwärtige Mangelsituation eine unmittelbare Folge ökonomischer Anreize ist, die nunmehr wenigstens etwas korrigiert werden sollen. Szent-Ivanyi beschreibt das rückblickend schon richtig: »Bisher sind die Kosten für die Pflegekräfte in den Pauschalen enthalten, die die Klinken für die Behandlung eines Patienten von den Kassen erhalten. Das führte dazu, dass die Kliniken jahrelang Pflegepersonal abbauten, um die Gewinne zu maximieren.«

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Mal keine Obergrenzen – oder doch? Die Ambivalenz der Diskussion über Personaluntergrenzen für die Pflegekräfte in Krankenhäusern

Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hatte am 1.10.2015 in Berlin die Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ einberufen. Die Experten aus den Koalitionsfraktionen und den Bundesländern sollten sich mit der Frage einer sachgerechten Berücksichtigung des Pflegebedarfs im Vergütungssystem der Krankenhäuser befassen, so die Ankündigung des Ministeriums im Jahr 2015.

Die Kommission sollte »prüfen, ob im DRG-System oder über ausdifferenzierte Zusatzentgelte ein erhöhter Pflegebedarf von demenzerkrankten, pflegebedürftigen oder behinderten Patientinnen und Patienten und der allgemeine Pflegebedarf in Krankenhäusern sachgerecht abgebildet werden. Abhängig vom Prüfergebnis sollen Vorschläge unterbreitet werden, wie die sachgerechte Abbildung von Pflegebedarf im DRG-System oder über ausdifferenzierte Zusatzentgelte erfolgen kann. Zudem wird sich die Kommission der Frage widmen, auf welche Weise die tatsächliche Verwendung der nach Ablauf des Pflegestellen-Förderprogramms zur Verfügung gestellten Finanzmittel für die Finanzierung von Pflegepersonal sichergestellt werden kann.« So die Mitteilung Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ des Bundesgesundheitsministeriums vom 1. Oktober 2015.
Und am 7. März 2017 wurde dann seitens des Ministeriums darüber informiert: Stärkung der Pflege im Krankenhaus. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, Koalitionsfraktionen und Länder verständigen sich auf die Einführung von Personaluntergrenzen: »In Krankenhausbereichen, in denen dies aus Gründen der Patientensicherheit besonders notwendig ist, sollen künftig Pflegepersonaluntergrenzen festgelegt werden, die nicht unterschritten werden dürfen« – wie beispielsweise auf Intensivstationen oder im Nachtdienst.
Der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle vielleicht etwas irritiert zur Kenntnis nehmen müssen, dass eine Expertenkommission eingesetzt wurde, die sich mit der Finanzierung der Pflege innerhalb des bestehenden Vergütungssystems für die Krankenhäuser auseinandersetzen sollte – und herausgekommen ist u.a. die Forderung nach Pflegepersonaluntergrenzen. Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Die Kommission hat argumentiert, Pflegepersonaluntergrenzen seien notwendig, um den allgemeinen Pflegebedarf überhaupt abbilden zu können.

Die Vorschläge der Expertenkommission (vgl. dazu im Original: Schlussfolgerungen
aus den Beratungen der Expertinnen- und Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ vom 7. März 2017) wurden im April 2017 von der Bundesregierung in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) unter Beteiligung der Privaten Krankenversicherung (PKV) wurden damit beauftragt, Personaluntergrenzen in sogenannten pflegesensitiven Bereichen verbindlich festzulegen. Hierbei werden Intensivstationen sowie die Besetzung des Nachtdienstes mit einbezogen. Die konkreten Regelungen, die auf Empfehlungen einer Expertenkommission zurückgehen, sollen bis zum 30. Juni 2018 vereinbart und zum 1. Januar 2019 umgesetzt werden.

Das war schon auf den Weg gebracht – und dann kam die Bundestagswahl 2017 und der sich hinziehende Findungsprozess der neuen (alten) Koalition. Und im Koalitionsvertrag 2018 zwischen CDU/CSU und SPD tauchen dann hinsichtlich der hier interessierenden Thematik interessante Erweiterungen dessen, was schon im vergangenen Jahren auf den Weg gebracht wurde, auf. Die beiden zentralen Absichtserklärungen lauten:

»Den Auftrag an Kassen und Krankenhäuser, Personaluntergrenzen für pflegeintensive Bereiche festzulegen, werden wir dergestalt erweitern, dass in Krankenhäusern derartige Untergrenzen nicht nur für pflegeintensive Bereiche, sondern für alle bettenführenden Abteilungen eingeführt werden.«

»Künftig sollen Pflegepersonalkosten besser und unabhängig von Fallpauschalen vergütet werden. Die Krankenhausvergütung wird auf eine Kombination von Fallpauschalen und einer Pflegepersonalkostenvergütung umgestellt. Die Pflegepersonalkostenvergütung berücksichtigt die Aufwendungen für den krankenhausindividuellen Pflegepersonalbedarf. Die DRG-Berechnungen werden um die Pflegepersonalkosten bereinigt.«

 Hinsichtlich der ursprünglichen Festlegung auf die Aushandlung von Pflegepersonaluntergrenzen für „pflegesensitive“ Bereiche (und das übrigens hier nur als pikante Fußnote: ausschließlich von den Kostenträgern, also den Krankenversicherungen, gemeinsam mit den Krankenhäusern) ist nun also eine Generalisierung des Ansatzes auf alle „bettanführenden“ Abteilungen vorgesehen.
Das ist eine nur konsequente Erweiterung des ursprünglichen Ansatzes, denn die Kommission hatte ja damit argumentiert, man brauche solche Personaluntergrenzen, um den „allgemeinen Pflegebedarf“ abbilden zu können – nur dann hätte man die Fragwürdigkeit der dann vorgenommenen Begrenzung auf „pflegesensitive“ Bereiche in den Krankenhäusern erkennen und gleich so vorgehen müssen, denn auch die anderen Bereiche sind pflegesensitiv und unabhängig davon hat selbst die Kommission gesehen, auf welches dünnes Eis sie sich begibt, wenn sie verbindliche Personaluntergrenzen nur für einige ausgewählte Bereiche fordert.

Denn in den Schlussfolgerungen der Kommission vom 7. März 2017 findet man diesen Passus:

»Bei der Vereinbarung der Personaluntergrenzen ist dafür Sorge zu tragen, dass Substitutionseffekte vermieden werden; Übergangsvorschriften sowie etwaige zwingend gebotene Ausnahmevorschriften können berücksichtigt werden. Die Krankenhäuser weisen ihre Pflegepersonalausstattung durch Bestätigung eines Wirtschaftsprüfers nach. Die Personaluntergrenzen sind mit angemessenen Sanktionen für den Fall zu verbinden, dass ein Krankenhaus die vorgegebenen Personaluntergrenzen nicht einhält. Dazu gehören hausbezogene finanzielle Abschläge … .«

Was hier mit „Substitutionseffekten“ umschrieben wird, meint nichts anderes, als dass die Kliniken hingehen, und die Einhaltung der Untergrenzen in den „pflegeintensiven“ Bereichen durch eine Reduzierung bei den anderen, nicht entsprechend regulierten Bereichen zu kompensieren versuchen. Eine mehr als naheliegende Managementstrategie.

Vor diesem Hintergrund und unabhängig von anderen durchaus wichtigen Kritikpunkten an dem ganzen Ansatz ist also die Formulierung im Koalitionsvertrag nur folgerichtig.

Und vor diesem Hintergrund muss man dann so eine alarmistische Meldung zur Kenntnis nehmen: Empörung über Scheinlösung. ver.di kritisiert unzureichende Lösung bei Pflegeuntergrenzen. In diesem Artikel wird über eine öffentliche Anhörung der Gewerkschaft berichtet:
»Seit Monaten verhandeln die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) im Auftrag der Bundesregierung über Untergrenzen für sogenannte pflegesensitive Bereiche der Krankenhäuser. »Aber was genau verhandeln DKG und GKV eigentlich? Das wissen nur sehr wenige Menschen«, so die Leiterin des ver.di-Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen«, Sylvia Bühler.

Die in der Überschrift des Artikels erwähnte Empörung wird verständlicher, wenn man sich die Ausführungen von Georg Baum, seines Zeichens Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) anschaut:

»Laut Baum sollen für lediglich sechs Bereiche Personaluntergrenzen festgelegt werden. DKG und GKV seien darin übereingekommen, dass ein Drittel der Mindestbesetzung aus Hilfskräften statt aus examinierten Pflegekräften bestehen könne. Die Krankenhausträger wollen zudem, dass die Mindestbesetzung nicht in jeder Schicht, sondern nur im Durchschnitt eines Quartals eingehalten werden müssen und Kliniken erst dann Sanktionen zu befürchten haben, wenn die Vorgaben drei Jahre in Folge nicht eingehalten werden.«

Das wäre aus Sicht der Arbeitgeber (und der Kostenträger) sicher verständlich – aus fachlicher Sicht hingegen ein übler Witz. Der Präsident der rheinland-pfälzischen Landespflegekammer, Markus Mai, bezeichnete die Ankündigungen zutreffend als „groben Unfug“ und „Bankrotterklärung“.

Und man sollte diese Darstellung der Verständigung zwischen Kostenträgern und Arbeitgebern auch mitnehmen in das neue koalitionsvertragsbedingte Setting einer Ausweitung des Auftrags, Pflegepersonaluntergrenzen für alle bettanführenden Abteilungen zu definieren. Denn diese Zielvorstellung würde sich sicher nicht verändern.

Auch Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerats (DPR), äußerte sich „irritiert“ über die Ausführungen der Krankenhausseite, wies aber mit Blick auf den Koalitionsvertrag darauf hin, dass die Diskussion im Grunde bereits von der Politik überholt worden ist. Zwischenzeitlich hat der Spitzenverband der GKV mit Nachruck zurückgewiesen, dass es eine Einigung mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft geben würde, kann man diesem Artikel entnehmen: Personaluntergrenzen in der Pflege: Viel Aufregung um unabgestimmtes Konzept. Aber offensichtlich zeichnet sich etwas ab, was Kritiker schon vorhergesagt haben. Experten für mehr Pflegepersonal, so ist eine Meldung des Parlaments über eine Anhörung im Gesundheitsausschuss am 17.05.2017 überschrieben. Und dort findet man diesen Hinweis: »Der Einzelsachverständige Michael Simon von der Hochschule in Hannover monierte in seiner schriftlichen Stellungnahme, einige Vorschriften seien ungenau formuliert, was zu Fehlsteuerungen führen könnte. So müsse der Begriff Pflegepersonaluntergrenzen eindeutiger definiert werden. Es sei zudem wichtig, die Personalvorgaben pro Schicht zu benennen. Ferner müsse verhindert werden, dass in hohem Maß oder sogar überwiegend Pflegehilfskräfte herangezogen werden, also solche mit niedrigerer Qualifikation.«

Man wird also weiter abwarten müssen, was der Gang der Dinge bringen wird. Unabhängig von der Folgerichtigkeit, den Auftrag der Festlegung von Personaluntergrenzen auf alle Pflegebereiche auszuweiten, bleibt ein „schlechtes Gefühl“, ein „schaler Beigeschmack“ bei dem an sich und auf den ersten Blick vernünftig daherkommenden Anliegen, eine Untergrenze für Pflegepersonal festzuzurren. Denn das kann einer diese gut gemeinten Schüsse sein, die nach hinten losgehen. Gleichsam eine Art „friendly fire“, unter dass die Pflege gesetzt wird. Dazu bereits mein Beitrag vom 18. Mai 2017: Pflegekräfte ziemlich allein gelassen. In der Krankenhaus-Realität und im internationalen Vergleich:

»Um bei allen Argumenten für Personaluntergrenzen gleich Wasser in den Wein zu gießen:  Es besteht die Gefahr, dass viele Krankenhäuser die Kennzahlen nicht als Unter-, sondern als Obergrenze verstehen.«

Man denke hier nur an die empirisch beobachtbaren Effekte einer Orientierung auf die Untergrenze beim Thema gesetzlicher Mindestlohn.

Wenn, dann bräuchte man nicht Mindestpersonalschlüssel, sondern Personalschlüssel einer guten pflegerischen Praxis und die müssten ermöglicht werden.

Und abschließend der Schwenk zu der zweiten Komponente im Koalitionsvertrag, die bei Krankenhausmanagern noch mehr Unruhe ausgelöst hat als die Ausweitung der Personaluntergrenzen für die Pflege – die Infragestellung des gesamten bisherigen Vergütungssystems in der Krankenhauslandschaft auf der Basis von Fallpauschalen, die auf Diagnosen und Prozeduren basieren, nicht aber auf der Frage, mit welchem Personal und vor allem in welchem Mischungsverhältnis man die Arbeit erledigt: Pflegepersonalkosten sollen besser und unabhängig von Fallpauschalen vergütet werden. Die Krankenhausvergütung wird auf eine Kombination von Fallpauschalen und einer Pflegepersonalkostenvergütung umgestellt. Das ist bzw. wäre ein echter Hammer. Denn es würde das Geschäft einer durchökonomisierten Krankenhauslandschaft erheblich erschweren.

Um das nachzuvollziehen, sei an dieser Stelle nur auf zwei Beispiele aus dem heutigen Alltag in einem fallpauschalierenden System hingeweisen.

In dem bereits zitierten Artikel über die öffentliche Anhörung der Gewerkschaft ver.di zu den geplanten Personaluntergrenzen findet man diesen Passus:

Selbst jetzt in der Grippezeit, wenn etliche Kolleg/innen krankheitsbedingt ausfallen, würden planbare Operationen nicht verschoben, berichtete Christine Lachner vom Urban-Krankenhaus in Berlin. »Denn im System der Fallpauschalen müssen die Kliniken Geld verdienen und das heißt: möglichst viele OPs.« Das könnten nur verbindliche, schichtbezogene Vorgaben verhindern, ist die Krankenpflegerin überzeugt. Sie verwies darauf, dass nicht nur in der Pflege Personal fehlt. »Früher hatten wir auf der Intensivstation zwei Reinigungskräfte im Frühdienst und eine im Spätdienst – heute kommt eine für sechs Stunden. Wir hatten auch mal einen Physiotherapeuten. Jetzt ist mal einer für zwei Stunden da, wenn man Glück hat.«

Was man in diesem Zitat erkennen kann neben der Anklage die Arbeitsbedingungen betreffend ist der Kern der betriebswirtschaftlichen Zwangsläufigkeit in einem Krankenhaus unter den Bedingungen der Fallpauschalierung: Man muss sich fokussieren auf die Erlösquellen – und das sind beispielsweise Operationen, die eine Menge Geld bringen können, wenn man sie effizient abwickeln kann. Und wenn man bei bestimmten Leistungen in die Menge gehen kann, weil deren Deckungsbeiträge um ein Vielfaches größer sind als bei seltenen oder nur sporadisch auftauchenden Maßnahmen.

Man kann die hier angedeutet Ökonomisierungseffekte eines Vergütungssystems auch wesentlich konkreter illustrieren – vgl. dazu als ein Beispiel von vielen den Beitrag Herzkatheter: Gier am Aortenbogen: »Um ein neues Herzkatheter-Labor rechtfertigen zu können, sollte der Herzkathetertisch möglichst oft belegt sein. In einer Klinik in NRW gefährden Ärzte deshalb Patienten mit kardiologischen Untersuchungen weit abseits der Leitlinien.« Der Artikel basiert auf den Aussagen eines Arztes aus der hier beispielhaft examinierten Klinik in Nordrhein-Westfalen:

„Fielen Schlagwörter wie Thoraxschmerzen oder Angina pectoris, hat es keine 24 Stunden gedauert, bis ein Patient für mich ohne Indikation auf dem Herzkathetertisch lag“ … Linksherzkatheter-Untersuchungen seien auf der Tagesordnung gewesen, selbst bei Patienten zwischen Ende 80 und Anfang 90 mit augenscheinlich leichten Beschwerden …  „Bislang gab es im Haus zwei Herzkatheter-Labore. Das große Ziel vom Chef war ein drittes Labor.“ Ohne entsprechende Zahlen spiele die Verwaltung nicht mit. „Um Quoten zu erfüllen, wurden Indikationen deshalb sehr großzügig gestellt.“ … „Ich habe öfter erlebt, dass Patienten im hohen Alter katheterisiert wurden, sich ein bypasspflichtiger Befund ergab und sie dann zur OP geschickt wurden“, berichtet der Arzt. „Bei Freunden oder Bekannten hätten wir das nie zugelassen.“ Fendt weiter: „Wir haben erfahren, dass es Verträge oder zumindest Absprachen zwischen Kliniken gibt, dass pro Quartal eine gewisse Zahl an Patienten zur Bypass-OP vorbeigeschickt wurden.“ Denn sein Haus habe keine eigene Herzchirurgie.«

Und der Arzt, der hier die Journalisten mit Infos versorgt hat, geht auch explizit auf die innere Logik der Fallpauschalen ein:

„Viele Krankenhäuser haben heute Programme mit einem symbolhaften Ampelsystem.“ Liegt der Patient zu kurz, warnt eine rote Farbe vor frühzeitigen Entlassungen. Möchte er aber noch eine Nacht bleiben, weil seine Angehörigen ihn vielleicht erst nach dem Wochenende abholen, warnt das System ebenfalls, dass die Klinik so ein Minus macht. „In der Kardiologie hat unser Chefarzt jeden Morgen alle Daten durchgeklickt und teilweise Patienten hinausgeworfen. Sie kamen dann nach ein paar Tagen wieder, weil sie alleine nicht zurechtgekommen sind.“

Nun kann man das als eine Einzelmeinung und damit übertrieben und nicht relevant abtun, einer dieser bedauerlichen Einzelfälle eben. Dann sei auf diesen Beitrag verwiesen, der das Gegenteil beweist oder plausibel macht: Öko­nomi­sierung patientenbezogener Entscheidungen im Krankenhaus. Eine qualitative Studie zu den Wahrnehmungen von Ärzten und Geschäftsführern, so ist der Artikel von Karl-Heinz Wehkamp und Heinz Naegler:

»Krankenhäuser müssen zur Sicherung ihrer Existenz Gewinne erwirtschaften. Der Anstieg der Fallzahlen und des Case-Mix-Indexes lassen vermuten, dass Aufnahme, Behandlung und Entlassung von Patienten nicht allein von medizinischen, sondern – um Gewinne erwirtschaften zu können – auch von wirtschaftlichen Gesichtspunkten beeinflusst, das heißt ökonomisiert, werden. Die vorliegende Studie untersucht, ob Ärzte und Geschäftsführer eine solche Entwicklung im beruflichen Alltag auch beobachten.«

Aus den Befunden der Studie kann und muss man mitnehmen: »Geschäftsführer verwiesen auf die erforderliche Gewinnorientierung und betonten, dass sie den gesetzlichen Vorgaben entsprechend keinen direkten Einfluss auf ärztliche Entscheidungen nähmen, jedoch mittelbar das Handeln des Arztes beeinflusst werden könne. Ärzte berichteten von dem wachsenden Druck, betriebswirtschaftliche Interessen bei patientenbezogenen Entscheidungen zu berücksichtigen, was zu Unter-, Über- und Fehlversorgung der Patienten, aber auch zu ethischen Konflikten, Stresssituationen und Frustration führe.«

Wozu das dann wieder vor Ort und im Alltag der Betroffenen führt, kann man beispielsweise diesem, Artikel entnehmen: „Insgesamt ethisch nicht mehr tragbar“: »Ein saarländischer Krankenhaus-Arzt schildert den Alltag auf den Stationen – und klagt über Pflegenotstand und Bürokratie-Wahn.« Daraus dieses Zitat:

Wenn Markus Hardt das deutsche Gesundheitswesen des Jahres 2018 in einem Bild darstellen müsste, dann sähe es so aus: „Am Rand stehen Patienten, Pflegekraft und Arzt, umringt von zahlreichen Kontrolleuren, EDV-Kräften, Codierern, Case-Managern, Qualitätsbeauftragten und so weiter, die alle zunehmend Ansprüche stellen und die Zeit für das Patientenwohl rauben.“

Und das hat seine Ursachen – und die liegen nicht nur, aber eben auch in dem bestehenden Vergütungssystem für die Krankenhäuser:

»Das Gesundheitssystem, so sieht es Hardt, wurde den Gesetzen der freien Wirtschaft unterworfen – mit planwirtschaftlichen Elementen. „Der Patient und seine Krankheiten wurden zur Ware und einem Wirtschaftsfaktor“, so Hardt. „Das Gesundheitssystem sollte aber immer billiger werden, gleiche Leistungen wurden immer geringer bezahlt. Beim Personal, das meist direkt am Menschen arbeitet und bis zu 70 Prozent der Gesamtkosten ausmacht, wurde zuerst gespart. Das war sicher der falsche Weg.“

Ohne dass mehr Personal zur Verfügung stehe, sei ein „zeitraubendes Finanzierungssystem“ samt Kontrollen und Qualitätsdokumentationen aufgebaut worden. Der Mediziner spricht von „teils menschenverachtend wirkenden Anfragen, von sich verselbständigenden Prüfungsroutinen“. Entscheidungen fielen an irgendwelchen Schreibtischen, ohne Rücksicht auf die individuellen Erfordernisse des einzelnen Patienten. „Der Formalismus ist plötzlich entscheidend.“ … Er bekräftigt, dass es einen „Notstand“ in der Pflege gibt. Weil beim System der Fallpauschalen die Schraube jedes Jahr enger gezogen werde, bleibe den Kliniken gar nichts anderes übrig, als immer mehr Patienten zu behandeln. Das sei eine enorme Belastung für das Personal. „Ich habe das gleiche Personal, aber viel höhere Fallzahlen – das kann nicht gutgehen.“«

Aber man sollte sich unvoreingenommen die innere Logik dieses Systems vor Augen führen: Investitionen lohnen sich vor allem in die Bereiche und dann die Personen, in und über die man die besten Erlöse im bestehenden Vergütungssystem realisieren kann. Und dass sind bezogen auf die Personen eben nicht die Pflegekräfte, sondern die Ärzte – deshalb auch die Expansion der Ärztebeschäftigung in den Kliniken, wenn auch das nur ein Grund unter mehreren ist (so spielen beispielsweise auch arbeitszeitgesetzliche Änderungen eine Rolle).

Hier nun sehen wir die unangenehme Ambivalenz des Themas Pflegepersonaluntergrenzen: Auf der einen Seite sind sie notwendig, um die die im System begründete strategische Benachteiligung der Profession Pflege zu verhindern und – im idealen Fall – eine halbwegs erträgliche Mindestbesetzung abzusichern. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass im Alltag dann die Unter- zu Obergrenzen werden und sich die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte dadurch nicht wirklich verbessern lassen.

Unabhängig davon ist die Ankündigung der neuen Großen Koalition, die Pflege aus dem bisherigen Fallpauschalensystem herauszunehmen, von gleichsam revolutionärer Dimension. Und die bereitet vielen Krankenhausmanagern eine Menge Kopfzerbrechen. Aber sie haben durchaus Verbündete. Vor wenigen Tagen fand das 17. Nationale DRG-Forum statt. Dort tauchten auch die beiden wichtigsten CDU-Gesundheitspolitiker auf – der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Erwin Rüddel, der Vorsitzende im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages. Und die brachten den gestressten Managern zumindest ein wenig Hoffnung mit, wie man diesem Artikel entnehmen kann: CDU uneins über Zukunft der Fallpauschalen:

Spahn hatte sich zum System der Fallpauschalen bekannt und gesagt, es sei ein schwieriger „Spagat“, die Pflege gesondert zu finanzieren und zugleich die Krankenhäuser nicht aus ihrer betriebswirtschaftlichen Leistung zu entlassen. Rüddel hatte gesagt: „Das, was im Koalitionsvertrag steht, wird nicht immer eins zu eins umgesetzt.“

Den Hinweis von Rüddel sollte man durchaus als das verstehen, was es ist – eine Beruhigungspille und zugleich die Ankündigung, dass man in dem anstehenden parlamentarischen Prozess eine Menge aufhalten, verzögern und letztendlich auch verändern kann.

Und zum Schluss eine trockene Zahl, die zugleich die Größenordnung verdeutlichen kann, um die es hier geht: Die AOK beziffert die Mittel für die Pflege im DRG-System auf 18 Milliarden Euro. Das nun sind wahrlich keine Peanuts.

Druck im Kessel. Die Pflegekräfte und das Herantasten an den großen Pflegestreik. Oder doch nur ein Sturm im Wasserglas?

Solche Meldungen können einen ersten Eindruck vermitteln, dass der Druck im Kessel „der“ Pflege, hier der Krankenhauspflege, immer weiter ansteigt: Aus Augsburg wird gemeldet: Hundert OPs abgesagt – Streit um Klinikums-Streik spitzt sich zu. Aus Hessen: »Im Streit um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal an hessischen Kliniken haben am Dienstag rund 700 Mitarbeiter in Gießen, Marburg und Frankfurt gestreikt. Am Mittwoch geht es weiter«, berichtet der Hessische Rundfunk: 700 Klinik-Mitarbeiter legen Arbeit nieder. Man könnte jetzt mit einer langen Liste weitermachen. Was steckt dahinter? Streik gegen Personalknappheit in Kliniken, so das Handelsblatt: »In Deutschlands Krankenhäusern fehlen Zehntausende Pflegekräfte. Nun werden mehrere Kliniken bestreikt. Verdi fordert aber auch Abhilfe per Gesetz.« Die Gewerkschaft fordert Haustarifverträge zur Entlastung der Mitarbeiter in den einzelnen Kliniken. Darin sollen unter anderem eine Mindestpersonalausstattung festgelegt und Regelungen zum Ausgleich für Belastungen getroffen werden.

Für Aufsehen hatten zuletzt wieder einmal die Pflegekräfte an Berlins Universitätsklinik Charité mit einem – erneuten – Streik für eine verbesserte Personalsituation gesorgt. Bereits 2015 hatten die Pflegekräfte in einem zehntägigen Streik an Europas größter Universitätsklinik, die mit ihren Tochterfirmen mehr als 16.000 Mitarbeiter beschäftigt und einer der größten Arbeitgeber Berlins ist, für Aufsehen gesorgt und einen Entlastungstarifvertrag erkämpft, dazu der Beitrag Nur ein Stolpern auf dem Weg hin zu einer historischen tariflichen Einigung über mehr Pflegepersonal im Krankenhaus? Die Charité in Berlin und die Pflege vom 6. März 2017.
Zwischenzeitlich ist der neue Arbeitskampf beendet worden: Pflegekräfte beenden Streik an der Charité: »Charité und verdi einigen sich auf Tarifvertrag: Die Regeln zur Mindestbesetzung im Pflegedienst werden nachgeschärft.«

Man sieht, dass das Thema „Pflegestreik“ keineswegs aktuell vom Himmel gefallen ist. Sollten sich nun also die Voraussagen erfüllen? Bereits im Februar 2017 wurde beispielsweise dieser Artikel veröffentlicht: „Es macht einen krank“. Darin schreibt Zacharias Zacharakis: »Noch nie haben sich Pflegekräfte an Deutschlands Krankenhäusern zu einem gemeinsamen Großstreik verabredet. Das dürfte sich bald ändern. Die Forderung: mehr Personal.«

Hervorzuheben sind die Besonderheiten: Man sollte immer wieder gleich zu Beginn klären, über was wir genau sprechen – denn „die“ Pflege gibt es nicht. Geht es um die Altenpflege oder um die Pflege in den Krankenhäusern? Diese Unterscheidung ist von größter Bedeutung, denn es handelt sich um zwei Systeme mit ähnlichen Strukturproblemen, aber großen Unterschieden was beispielsweise die Finanzierung angeht. Vgl. dazu am Beispiel der Diskussion über das Thema Fachkräftemangel in „der“ Pflege wie auch über die Vergütung der Pflegekräfte das Interview Personalmangel in der Altenpflege: „Wir laufen auf eine Katastrophe zu“.

Da geht ständig was durcheinander, auch bei denen, die sich in den Medien damit beschäftigen. Nur als ein Beispiel: In der Frankfurter Rundschau konnte man unter der Überschrift „Billig wird auf Dauer nicht mehr funktionieren“ lesen: »Zu wenig Pflegekräfte, dazu schlecht bezahlt und überarbeitet. Wie ist die Lage bei der Krankenpflege in Deutschland? Peter Pick, Chef des Medizinischen Diensts der Krankenkassen, spricht im Interview mit der FR über Herausforderungen und neue Leistungen in der Pflege.« Nur – das Interview bezieht sich dann auf die desaströse Situation in der Altenpflege, nicht aber in der Krankenpflege.

In diesen Tagen stehen die Krankenhäuser im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Und die ist auch deshalb garantiert, weil es hier wie angesprochen zum einen nicht um eine „klassische“ Gewerkschaftsforderung nach mehr Geld geht, sondern gekämpft wird für mehr Personal. Und skandalisiert werden die Arbeitsbedingungen hinsichtlich der personellen Unterbesetzung. Dazu passen dann die Daten zur Entwicklung der Zahl der Pflegekräfte und der Fallzahlen in den Krankenhäusern vom Statistischen Bundesamt, die von der Deutschen Stiftung Patientenschutz in die öffentliche Debatte geworfen wurden (vgl. auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags). Während die Zahl der Pflegekräfte (gemessen an Vollzeitkräften) von 1991 bis 2016 mit -0,34 Prozent konstant geblieben ist, hat sich die Fallzahl je Pflegekraft um 34 Prozent erhöht.
Das ist auf große Resonanz in den Medien gestoßen: Die Pflege fährt „auf der letzten Rille“, titelt Matthias Schiermeyer in der Stuttgarter Zeitung mit Blick auf die Zahlen für Baden-Württemberg: »Demnach ist im Zeitraum von 1991 bis 2016 die Zahl der im Krankenhaus behandelten Patienten um 27 Prozent auf 2,17 Millionen Fälle gestiegen. Die Zahl der Ärzte ist in Relation dazu sogar noch stärker gewachsen – um 72 Prozent auf heute 19.400. Die Zahl der Pflegekräfte hingegen ging in dieser Zeit um ein Prozent auf 37.800 zurück.« Oder: „Der Pflegenotstand ist zum ernsten Gesundheitsrisiko geworden“, so Anette Dowideit: »Die Patientenzahlen in Krankenhäusern steigen immer weiter, während die Zahl der angestellten Pfleger stagniert. Deren Arbeitsbelastung ist mittlerweile besorgniserregend … Die Veröffentlichung der Zahlen sorgte bundesweit für Aufsehen und fachte die seit Jahren schwelende Debatte neu an, warum für Krankenhausbetreiber keine verbindlichen Vorgaben existieren, wie viele Pfleger auf einer gewöhnlichen Station eingesetzt werden müssen. Mit dem Rückenwind der nun wieder einsetzenden Debatte könnte das Thema Mindestpersonalvorgaben in den Koalitionsverhandlungen über ein mögliches Jamaika-Bündnis wesentlich werden.«
Auch wenn das sehr grobe Daten sind, so werfen sie ein Schlaglicht auf die besondere Problematik der Pflegekräfte in den Krankenhäusern, denn man muss im Hinterkopf behalten, dass die in den vergangenen Jahren nicht nur eine rein quantitative Zunahme der Fallbelastung erlebt haben, sondern die Grundgesamtheit derer, die hier abstrakt als „Fälle“ ausgewiesen werden, hat sich deutlich verändert – nicht nur aufgrund der demografischen Entwicklung eine beständige Zunahme älterer, darunter auch vieler multimorbider Patienten, sondern vor allem durch die seit 2001 laufende Umstellung des Krankenhausfinanzierungssystems von „tagesgleichen Pflegesätzen“ hin zu Fallpauschalen auf der Basis von DRGs wurde etwas in Gang gesetzt und auch erreicht, was mit diesem ökonomischen Systemwechsel beabsichtigt war: eine deutliche Absenkung der Verweildauer der Patienten in den Kliniken. Unauflösbar damit verknüpft ist eine massive Beschleunigung der „Umschlagsgeschwindigkeit“ der Patienten, da es in einem durchgängig fallpauschalierenden System eine betriebswirtschaftliche Logik gibt, die Patienten so schnell wir möglich wieder zu entlassen, was aber für die Pflege dazu führt, dass die Pflegeintensität der Patienten im Vergleich zu früher deutlich angestiegen ist und die Patienten nicht mehr da sind, die es früher gab und die nur noch wenig Pflegebedarf hatten.
Allein diese grobe Sicht von oben, vor allem aber die Berichte von den Betroffenen verdeutlichen, dass es mehr als gute Gründe dafür gibt, die Personalfrage zur zentralen Frage zu machen. Damit wären wir aber schon bei einer nicht zu unterschätzenden ersten Problematik eines Pflegestreiks angekommen: Es geht um den Adressat möglicher Arbeitskampfmaßnahmen. Bei einem „normalen“ Streik wenden sich die Arbeitnehmer mit ihren Gewerkschaften gegen ihren Arbeitgeber, der dann gezwungen werden soll, beispielsweise eine bestimmte Tariflohnerhöhung zu akzeptieren. Wenn er nicht will, kann man durch einen Streik versuchen, über einen unmittelbaren wirtschaftlichen Druck aufgrund der mit einem Streik verbundenen Produktionsausfälle den Arbeitgeber zu zwingen, den Forderungen nachzukommen.
Wer aber ist der Adressat bei einem Pflegestreik, nicht nur bei der Frage nach mehr Personal, sondern auch bei einer an sich „klassischen“ Forderung nach mehr Geld (die besonders relevant wäre für die Altenpflege angesichts des bestehenden erheblichen Vergütungsgefälles zur Krankenpflege, vgl. dazu den Beitrag Jenseits der Schaumschlägereien: Die Entlohnung in „der“ Pflege. Die ist gerade nicht ein Thema für die letzten Wahlkampfmeter vom 20. September 2017)?
Genau hier wird es verzwickt. Man kann sich das an folgendem Gedankengang deutlich machen: Stellen wir uns den Betreiber eines Krankenhauses oder eines Altenheimes vor, der selbst der Auffassung ist, die Pflegekräfte müssten deutlich besser vergütet werden oder man müsste den Personalschlüssel anheben. Selbst wenn der unmittelbare Arbeitgeber das wollte, wären im durchaus die Hände gebunden, denn wir bewegen uns hier nicht auf einem „Markt“, auf dem die Unternehmen dann versuchen werden, die Kostensteigerungen über die Preise auf die Kunden zu überwälzen, sondern die Krankenhäuser und Pflegeheime sind angewiesen auf eine entsprechende Refinanzierung der Kostensteigerungen in einem System, das die Ökonomen „administrierte Preise“ nennen. Also zugespitzt formuliert: Schon bei den „normalen“ Forderungen nach mehr Geld wäre die Ebene der Kranken- und Pflegeversicherung sowie die Politik mindestens genau so Adressat der Forderung, wenn nicht der eigentliche Adressat. Das gilt besonders bei Forderungen nach mehr Personal. Das alles ist eine erste strukturelle Bremse für Streikaktivitäten in diesem Bereich.

Wie kompliziert das Thema Personalstandards in bzw. für die Pflege ist, kann man schon dem Beitrag Rückblick und Blick nach vorne: Die Mühen der Ebene – auf dem tariflichen Weg zu mehr Pflegepersonal im Krankenhaus? vom 28. Dezember 2015 entnehmen. Hinzu kommt eine grundsätzliche und zu diskutierende Frage: Ist es mittel- und langfristig wirklich sinnvoll, für Mindeststandards im Sinne von Untergrenzen der Personalausstattung zu kämpfen oder sollte man nicht auf Personalbesetzungsvorgaben abstellen, die einen guten Pflegebetrieb gewährleisten können?
Hinzu kommen weitere Restriktionen in diesem Bereich, die man berücksichtigen muss. Arbeitskämpfe setzen voraus, dass es Gewerkschaften gibt, in denen genügend Arbeitnehmer organisiert sind, um diese auch zu organisieren und legal durchführen zu können. Die im Pflegebereich relevante Gewerkschaft ist ver.di – und die haben es nicht einfach, denn der Organisationsgrad in der Pflege ist, wie in vielen anderen Dienstleistungsbereichen auch, eher überschaubar. Erschwerend kommt hinzu, dass die Gewerkschaft seit Jahren auch innerhalb der Pflegeprofession mit Teilen über Kreuz liegt, wenn es um die Gründung von Pflegekammern liegt, die von ver.di ablehnt werden. Da wurden bislang viele Energien verbraucht bzw. verschwendet.
Nun kann man gerade der Gewerkschaft ver.di durchaus kritische Fragen stellen zu ihrem Vorgehen im Pflegebereich, das von nicht wenigen Pflegekräften auch kritisch gesehen wird, aber man darf die Pflegekräfte nicht aus der eigenen Verantwortung entlassen, sich zu organisieren, auch wenn man nicht immer einverstanden ist mit dem, was eine Gewerkschaft so treibt. Denn es gibt unter einem Teil der Pflegekräfte durchaus eine Neigung, die bestehenden Bedingungen der eigenen Arbeit scharf zu kritisieren, aber dann in eine Art Erwartungshaltung zu verfallen, „die“ Politik oder wer auch immer solle sich gefälligst darum kümmern, die Situation zu verbessern. Hinzu kommt bei vielen potenziellen Streikenden in der Pflege der Einwand, dass man eben nicht so einfach streiken könne wie IG Metaller bei Daimler oder andere Arbeitnehmer, denn man versorge ja Patienten und Pflegefälle und könne die nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Ohne Zweifel wäre die Organisation eines „großen Pflegestreiks“ eine überaus komplizierte Angelegenheit. 
Kristiana Ludwig hat die hier erkennbaren ambivalenten Haltungsfragen durchaus provozierend für viele in ihrem Artikel Pflegerinnen sind zu nett für die Rebellion zum Ausdruck gebracht – und diese Ebene zugleich verbunden mit einem Blick auf die „überkomplexe Unterrepräsentation“ der Pflege im Politikbetrieb, so kann man ihren Hinweis vielleicht zusammenfassen:

»Viele Betreuerinnen leiden unter zu vielen Patienten und sehr geringer Bezahlung. Trotzdem fehlt ihnen der Wille zum Arbeitskampf – denn sie möchten die Hilfsbedürftigen nicht alleinlassen. Gleichzeitig treten etliche Verbände an die Berliner Politiker heran, die sich als Sprachrohr der Pflegekräfte sehen könnten.«

Was meint sie mit dem letzten Punkt?

»An die Berliner Politiker treten unterdessen eine Vielzahl von Verbänden heran, die sich alle als Sprachrohr der Pflegekräfte vorstellen. Neben der Gewerkschaft Verdi gibt es da etwa den Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe, den Berufsverband für Altenpflege oder den Deutschen Pflegerat. Der Großteil ihrer Mitglieder sind Krankenhausmitarbeiter. Selbst die Ärztegewerkschaft Marburger Bund hat kürzlich überlegt, um Mitglieder aus der Pflege zu werben. So steht eine ohnehin sehr geringe Zahl von engagierten Pflegekräften einer unübersichtlichen Landschaft aus Verbänden und Vertretern gegenüber.«

Ohne Zweifel ist das ein strukturelles Problem für die Interessenvermittlung der Pflegeprofession im Politikbetrieb, in dem die Pflege an sich schon eher untergewichtet wird.

Zu dem Problem einer entwicklungsfähigen Organisierung der Pflegekräfte – hier allerdings auf die Altenpflege bezogen – kann man dem Artikel von Kristiana Ludwig beispielhaft entnehmen:

»Experten schätzen den Anteil der Altenpfleger in einer Gewerkschaft auf fünf bis zwölf Prozent. In kaum einem Heim traten die Beschäftigten je in den Streik.
In privaten Heimen, die in Deutschland rund die Hälfte aller Einrichtungen ausmachen, gibt es nach einer neuen Studie des Politikprofessors Wolfgang Schröder vom Berliner Wissenschaftszentrum nur in jedem zehnten Haus einen Betriebsrat. In kirchlichen Einrichtungen liegt der Anteil mit 40 Prozent zwar höher. Allerdings gibt es dort sogenannte Mitarbeitervertretungen, die sich an das Kirchenrecht halten müssen und deshalb weniger erreichen können als in Privatunternehmen.« (Zu der im Zitat angesprochenen Studie von Wolfgang Schröder vgl. seinen Artikel Altenpflege zwischen Staatsorientierung, Markt und Selbstorganisation, in: WSI-Mitteilungen, Heft 3/2017).

In dem Zitat taucht eine weitere strukturelle Restriktion auf, die man in Rechnung stellen muss – gemeint ist der Hinweis auf die Sonderrolle der kirchlichen Arbeitgeber im Feld der Sozial- und Gesundheitseinrichtungen, denn für die weit mehr als eine Million Beschäftigten in Einrichtungen, die unter konfessionell gebundener Trägerschaft laufen, gelten elementare Bestandteile des Arbeitsrechts, wie sie für alle anderen Arbeitnehmer selbstverständlich sind, nicht. Dazu gehört auch das seit langem umstrittene Streikverbot in kirchlich gebundenen Einrichtungen. Oder auch das eigene Kündigungsrecht der Arbeitgeber, das weit über das hinausreicht, was man normalerweise akzeptieren würde bei Arbeitnehmern. Dieser Bezug der kirchlich gebundenen Arbeitgeber auf den sogenannten „Dritten Weg“ spielt gerade aktuell wieder eine prominente Rolle, denn für den 11. Oktober 2017 wird erstmals ein Streik in einem Krankenhaus geplant, das sich in katholischer Trägerschaft befindet.