Es gibt ja viele, die den bisherigen Wahlkampf dahingehend kritisiert haben, dass gesellschaftspolitisch wichtige Themen kaum oder nur in Spurenelementen behandelt worden sind. Beispielsweise die Pflege. So auch meine Kritik an der thematischen Verirrung beim sogenannten „TV-Duell“ zwischen Merkel und Schulz, die ich unter die Überschrift Realitätsverweigerung gestellt habe. Darin findet sich mit Blick auf die Pflege dieser Passus: »Und wir müssen uns nicht nur um die größer werdende Zahl an Senioren kümmern, auch die Pflegebedürftigen werden mehr. Und hier wird besonders erkennbar, dass unser System auf Selbst-und Fremdausbeutung basiert und ohne diese zusammenbrechen würde. Wir haben mittlerweile über 3 Million Pflegebedürftige. Mehr als 70 Prozent werden zu Hause betreut, nicht in Heimen, viele ausschließlich von Angehörigen, häufig Frauen, die dann selbst einen hohen Preis zahlen müssen. Und in vielen dieser Haushalte arbeiten geschätzt 200.000 Osteuropäerinnen, vom Wohlstandsgefälle in unser Land gezogen, niemals zu legalen Bedingungen. Und die derzeit schon 800.000 in Pflegeheimen untergebrachten Menschen sind mit oftmals menschenunwürdigen Bedingungen konfrontiert. Derzeit wird überall eklatanter Personalmangel in den Heimen beklagt. Nicht nur in Bremen gibt es Belegungssperren, weil dort weniger als 50 Prozent des Personals Fachkräfte sind.«
An sich ist das Thema Pflege in den Wahlprogrammen der Parteien eher stiefmütterlich behandelt worden, vgl. dazu beispielsweise Pflege: Das wollen die Parteien oder So wollen die Parteien die Pflege reformieren. Eine ausführliche Auseinandersetzung findet man in dem Beitrag Was sagen die Wahlprogramme zu ‚Pflege‘? auf der Website des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK).
Aber auf den letzten Metern des Wahlkampfs hat sie es doch in den Strudel der temporären Aufmerksamkeit geschafft, die Pflege. Und die Medien haben daran einen nicht zu unterschätzenden Anteil.
»Kurz vor Toreschluss ist die Pflege noch ein Wahlkampfhit geworden«, so Matthias Schiermeyer in seinem Artikel Kampf um einen Neustart in der Pflege:
»Zwei Auftritte in der ARD-„Wahlarena“ haben die Pflege in den Fokus gerückt: Am 11. September hatte der Hildesheimer Krankenpflege-Azubi Alexander Jorde (21) der CDU-Kanzlerin auf den Zahn gefühlt … Jorde hatte Angela Merkel ohne Scheu aufgefordert, mehr Geld in die Pflege zu stecken. Die Würde des Menschen werde „tagtäglich tausendfach verletzt“, weil zu wenig Personal da sei. Merkel hätte in zwölf Jahren nicht viel dagegen getan, rügte er … Die Geschäftsführerin eines Lübecker Pflegeservice, Dagmar Heidenreich, bohrte bei Martin Schulz nach: Wie solle sie künftig all die offenen Stellen besetzen? Die Pflegekassen haben einen Milliardenüberschuss – aber die Arbeitgeber sind aus ihrer Sicht die Leidtragenden. Der SPD-Kandidat versprach einen „Neustart in der Pflegestruktur“ in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit. „Dazu gehören drei Dinge: mehr Personal, bessere Bezahlung des Personals und Pflegeplätze.“ Die Gehälter müssten um mindestens 30 Prozent angehoben werden. Vielen Beschäftigten ginge es gar nicht so sehr ums Geld, sondern um mehr Personal und einen einheitlichen Pflegeschlüssel. Schulz: „Wir werden sicher Kräfte aus osteuropäischen Ländern rekrutieren müssen.“«
Zwischenzeitlich hat auch die Bundeskanzlerin nachgelegt, folgt man beispielsweise diesem Artikel: Merkel plädiert für bessere Bezahlung von Pflegekräften: »Die derzeitige Entlohnung sei „im Hinblick auf die Belastungen, die dieser Beruf mit sich bringt, nicht angemessen“, sagte Merkel der Bild am Sonntag. Sie forderte zudem einen neuen Personalschlüssel … Ein Teil des Lohnunterschieds zwischen Männern und Frauen hänge in Deutschland auch mit der unterschiedlichen Bewertung der Berufe zusammen – „also zum Beispiel Pflegeberufe im Vergleich zu Mechatronikern oder Elektrikern“, sagte Merkel. „Wir müssen daran arbeiten, dass die Gehälter schrittweise weiter steigen.“«
Seitdem wird das Thema durch die Medien getrieben – teilweise mit mehr als korrekturbedürftigen Verdichtungen. Hier soll es vor allem um das Thema Vergütung der Pflegekräfte gehen, das aktuell in zahlreichen Medienberichten eine große Rolle spielt. Und der Kanzlerkandidat Martin Schulz (SPD) wurde bereits zitiert mit der Forderung nach einer Anhebung der Gehälter um 30 Prozent.
An diesem Punkt kann man auch die Verirrungen in der aktuellen Debatte aufzeigen. Nehmen wir als Beispiel diese Meldung, die von Spiegel Online veröffentlicht wurde: Lauterbach verlangt 30 Prozent Lohnplus. Da geht schon am Anfang alles durcheinander: »Viele Pflegekräfte arbeiten am Limit – auch weil Kliniken schwer Mitarbeiter finden. SPD-Politiker Karl Lauterbach will den Job mit mehr Lohn attraktiv machen, zulasten der Pflegeversicherung.«
Ja was denn nun, möchte man dem Verfasser des Textes zurufen. Geht es um die Pflege in den Krankenhäusern oder um die Altenpflege? Denn das sind zwei unterschiedliche Bereiche, die man auseinanderhalten sollte. Aber lesen wir erst einmal weiter in der Meldung – munter werden da die Dinge vermischt:
»In deutschen Krankenhäusern herrscht hoher Arbeitsdruck, der sich durch die zu geringe Zahl an Pflegekräften weiter verschärft. Diskutiert werden Pläne, Klinken eine Mindestanzahl an Pflegekräften vorzuschreiben, doch Krankenhausmanager klagen, sie würden keine finden. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach macht nun einen neuen Vorstoß, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Er fordert ein Lohnplus von knapp einem Drittel der bisherigen Vergütungen.«
Nun kann man von Lauterbach halten, was man will – aber er wird den Unterschied zwischen Krankenhaus- und Altenpflege kennen und das tut er auch, wenn man richtig liest:
Lauterbach »gehe davon aus, dass zur Finanzierung einer solchen Steigerung eine Anhebung des Beitrags zur gesetzlichen Pflegeversicherung um 0,5 Prozentpunkte nötig wäre.« Also geht es ihm um die Altenpflege – denn nur für die ist die Pflegeversicherung einer der Kostenträger. Aber wie kommt er auf die 30 Prozent? Hat er die gewürfelt? Nein, da wird durchaus ein strukturelles Gefälle zwischen der Altenpflege und der Gesundheits- und Krankenpflege reflektiert, das sich tatsächlich in einen mehr als begründungspflichtigen Vergütungsunterschied zwischen den beiden großen Pflegebereichen ausformt.
Darüber wurde in diesem Blog bereits am 27. Januar 2015 berichtet: Die einen eher gut, die anderen deutlich schlechter und viele nur zum Teil. Was man in den Pflegeberufen in Deutschland verdient, so ist der Beitrag überschrieben. Damals wurde berichtet: »Der Einkommensunterschied zwischen Krankenpflegern und Altenpflegern ist überraschend hoch. Auch regional betrachtet schwanken die Gehälter sehr stark, so zwei Befunde aus einer neuen Studie zu den Pflegeberufen in Deutschland … Es geht um die IAB-Studie Viel Varianz. Was man in den Pflegeberufen in Deutschland verdient …, die im Auftrag des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflege, Karl-Josef Laumann, erstellt wurde.«
Hinsichtlich der Vergütung der Pflegekräfte kam die Studie zu den folgenden zentralen Ergebnissen: Es gibt deutliche Ost-West-Differenzen in der Entlohnung der Beschäftigten in den Pflegeberufen, die jeweiligen Entgelte in der Krankenpflege liegen deutlich über denen in der Altenpflege und Fachkräfte in der Altenpflege verdienen dabei nur geringfügig mehr als Helfer in der Krankenpflege.
Wenn man sich die Abbildung am Anfang dieses Beitrags mit Daten aus der Studie anschaut, dann erkennt man, dass die durchschnittliche Vergütung der Fachkräfte in den westdeutschen Krankenhäusern leicht über dem Durchschnitt aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten lag (und liegt). Ganz anders die Situation in der Altenpflege. Da verdienen die Fachkräfte schon insgesamt weniger als der Durchschnitt der Beschäftigten.
Bogai et al. (2015: 24) bilanzieren mit Blick auf die Vergütungssituation der Fachkräfte:
»Die Fachkräfte in der Krankenpflege erzielen in Deutschland im Vergleich zu den Verdiensten aller Fachkräfte ein deutlich höheres Bruttoentgelt (+11,4 %). Vor allem in den neuen Ländern liegen die Entgelte rund 30 Prozent über dem dortigen, mittleren Facharbeiterentgelt und in den alten Ländern knapp 10 Prozent darüber.
Die Fachkräfte in der Altenpflege erzielen dagegen bundesweit ein niedrigeres Entgelt als im Vergleich zum Verdienst aller Fachkräfte (-10,6 %). In den Bundesländern im Westen der Republik sind vor allem die negativen Differenzen der Gehälter für Fachkräfte in der Altenpflege im Norden bemerkenswert. Auch in den neuen Ländern ergeben sich erhebliche Differenzen.«
Die regionalen Unterscheide sind erheblich. Dazu aus der Studie von Bogai et al. (2015):
»Bei den Fachkräften in der Krankenpflege ist dabei eine deutliche Varianz zwischen den Ländern zu erkennen. Die Entgelte weisen hier eine Spannbreite von 2.636 Euro in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 3.293 Euro im Saarland (+24,9 %) auf. Eine regionale Spannbreite von fast 1.000 Euro weisen die Entgelte der Fachkräfte in der Altenpflege auf. Sie variieren von 1.743 Euro in Sachsen-Anhalt bis 2.725 Euro in Baden-Württemberg (+56,3 %).« Das sind schon erhebliche Niveau-Unterschiede, die sich auch bei den Helfer-Berufen in der Pflege zeigen: Die Entgelte der Helfer in der Krankenpflege »rangieren zwischen 1.732 Euro in Sachsen und 2.592 Euro in Rheinland-Pfalz (+49,6 %). Sachsen ist auch das Bundesland, in dem die Helfer in der Altenpflege mit 1.396 Euro am wenigsten verdienen und damit nur unwesentlich mehr als den im Bezugsjahr 2013 geltenden Pflegemindestlohn von 8,00 Euro/Stunde … In Nordrhein-Westfalen erzielen sie mit 2.092 Euro (+49,9 %) das höchste Entgelt.« Wie weit abgeschlagen die Fachkräfte in der Altenpflege sein können, verdeutlicht dieser Zahlenhinweis aus der Studie: »In insgesamt vier Bundesländern erzielen die Fachkräfte in der Altenpflege sogar weniger Entgelt als die Helfer in der Krankenpflege: in Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Bremen.«
Es gibt also unstrittig ein ganz erhebliches Vergütungsgefälle zwischen der Altenpflege und der Krankenpflege. Wenn man nun also eine bessere Bezahlung „der“ Pflegekräfte in den Raum stellt, dann wäre zu konkretisieren, dass ungeachtet der Tatsache, dass man den Pflegekräften in den Krankenhäusern ein höheres Salär wünschen würde, in einem ersten Schritt eine Angleichung der niedrigeren Gehälter in der Altenpflege an die der Krankenpflege ins Visier zu nehmen wäre. Allein dieser erste Schritt würde erhebliche Konsequenzen für die damit verbundenen Ausgaben haben.
Das kostet. Aber über welche Größenordnung reden wir hier? Man kann versuchen, sich dem rechnerisch anzunähern, wie das Greß und Jacobs (2016) kalkuliert haben:
»Allein eine Angleichung der Vergütung in der Altenpflege an die der Krankenpflege – bei konstantem Qualifikationsniveau und konstanter Beschäftigtenzahl – hätte vergleichsweise dramatische finanzielle Auswirkungen. Nach unseren Berechnungen liegt – unter Berücksichtigung der Bevölkerungsanteile in West- und Ostdeutschland und der Arbeitgeberkosten für Sozialausgaben – der jährliche Vergütungsunterschied zwischen Kranken- und Altenpflege für eine Fachkraft bei etwa 8.862 Euro und für einen Helfer bzw. eine Helferin bei etwa 7.773 Euro. Eine entsprechende Angleichung würde einen dauerhaften Finanzierungsbedarf von rund 5,9 Mrd. Euro nach sich ziehen.« (Quelle: Stefan Greß und Klaus Jacobs (2016): Kosten und Finanzierung von Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel in der Pflege, in: Klaus Jacobs et al. (Hrsg.): Pflege-Report 2016. Schwerpunkt: Die Pflegenden im Fokus, Stuttgart 2016, S. 266).
Wir halten fest: Die Angleichung der Vergütung der Altenpflegekräfte an die in der Krankenhauspflege würde überschlägig einen Mehrbedarf von knapp 6 Mrd. Euro pro Jahr generieren.
Greß und Jacobs sind noch einen weiteren Schritt gegangen: »Sämtliche Konzepte zur qualifikatorischen Aufwertung von Pflegeberufen sind zudem zum Scheitern verurteilt, wenn sich diese zusätzlichen Qualifikationen nicht auch durch eine erhöhte Vergütung bemerkbar machen.« Sie machen hierzu die folgende Rechnung auf:
»Bei einer vom Wissenschaftsrat empfohlenen Akademisierungsquote von 10 bis 20 Prozent … – hier bezogen ausschließlich auf die Fachkräfte in der ambulanten und der stationären Pflege – und einem Vergütungszuschlag von 15 Prozent für den akademisierten Personenkreis würde sich ausgehend vom derzeitigen Vergütungsniveau sowie vom derzeitigen Personalbestand ein dauerhafter Finanzierungsbedarf von rund 200 bis 400 Mio. Euro pro Jahr ergeben.« (Greß/Jacobs 2016: 266)
Und nicht nur am „oberen“ Ende des Qualifikationsspektrums müssten höhere Ausgaben einkalkuliert werden – auch im „unteren“ Bereich, bei den Pflegehelfern, von denen viele nach dem Branchen-Mindestlohn vergütet werden, müsste das Niveau angehoben werden. Derzeit liegt der Pflege-Mindestlohn im Westen bei 10,20 Euro und im Osten bei 9,50 Euro. Die mehr als überschaubaren Steigerungen bis einschließlich 2020 sind bereits verabschiedet und in der nebenstehenden Tabelle ablesbar. Eigentlich müsste der Mindestlohn für die in der Pflege tätigen Menschen deutlich höher angesetzt werden. An sich wäre eine Anhebung auf 13 oder 14 Euro bei dieser Arbeit durchaus gerechtfertigt.
Nun könnte man darüber hinaus argumentieren, dass auch die Pflegekräfte in den Krankenhäusern eine höhere Vergütung verdient hätten. Und das nicht irgendwie in den Raum gestellt, weil man die Pflegekräfte sympathisch findet, sondern weil es gewichtige Stimmen gibt, die forschungsbasiert darlegen, dass es eine strukturelle Unterbezahlung der Pflegekräfte im Vergleich mit anderen, vergleichbaren Tätigkeiten gibt.
Vgl. hierzu die Studie Sorgeberufe sachgerecht bewerten und fair bezahlen! Der „Comparable Worth-Index“ als Messinstrument für eine geschlechtergerechte Arbeitsbewertung von Sarah Lillemeier (2017). Dort findet man beispielsweise diesen Hinweis:
»Die Analysen mit dem CW-Index zeigen deutlich zu geringe Bewertungen und Bezahlungen der hoch anspruchsvollen Sorgeberufe gegenüber gleichwertigen „Männerberufen“. Z.B. verdient die männlich dominierte Berufsgruppe der Führungskräfte im Bereich IT-Dienstleistungen im Stundendurchschnitt knapp 17 Euro mehr die Stunde als Fachkräfte in Pflege und Gesundheit trotz eines vergleichbaren Ausmaßes an Arbeitsanforderungen und -belastungen.«
Wenn man diese Befunde berücksichtigen würde, dann ergeben sich weitere Anpassungsbedarfe der Pflege-Vergütungen nach oben, die den zusätzlich erforderlichen Milliarden-Betrag nach oben treiben würde.
Und damit nicht genug. Eine korrekte Abschätzung der erforderlichen finanziellen Mehrausgaben müsste natürlich auch noch berücksichtigen, dass sowohl in der Altenpflege wie auch in den Krankenhäusern von allen Seiten unmissverständlich darauf hingewiesen wird, dass es zu wenig Pflegepersonal gibt. Die Forderung nicht nach mehr Geld, sondern nach mehr Personal steht aktuell im Mittelpunkt des erneuten Streiks der Pflegekräfte an der Berliner Universitätsklinik Charité. Vgl. dazu beispielsweise Charité-Mitarbeiter fordern mehr Personal: »Den 2016 abgeschlossenen, befristeten Tarifvertrag für Gesundheitsschutz (TV-GS), in dem Vereinbarungen zur Entlastung der 4.200 Pflegekräfte fixiert worden waren, hatte die Gewerkschaft im Juni auslaufen lassen. Dieser hatte einen Personalzuwachs sowie Mindestbesetzungen der Schichten auf den Stationen vorgesehen – Regelungen, die unzureichend umgesetzt worden seien. Die Verhandlungen über die Verbesserung und Weiterführung des Tarifvertrags waren festgefahren.«
Die Situation in den Krankenhäusern wird zum einen dadurch erschwert, dass bereits unter den gegebenen Rahmenbedingungen von allen Seiten gemeldet wird, dass selbst verfügbare Stellen nicht oder nur mit vielen Klimmzügen zu besetzen sind. Vgl. als eines von vielen Beispielen dazu den Artikel Fehlende Fachkräfte: Pflege ist längst Mangelware: »Auf der Singener Intensivstation bleiben Betten frei, weil Fachkräfte zur Betreuung der Patienten fehlen.«
Und wie reagiert das Krankenhausmanagement auf diese Situation? Man sucht und weitet den Suchradius im weiter aus:
»Der Gesundheitsverbund im Landkreis Konstanz reagiert auf seine Weise und hat eine große Anwerbeaktion gestartet. „Es werden verstärkt im Ausland Pflegekräfte akquiriert“, erklärt Verbundsprecherin, Andrea Jagode. „Es gibt Länder mit einem Überhang an Pflegepersonal. Dort ist der Pflegeberuf oft mit einer universitären, vierjährigen Ausbildung verbunden.“
Ein Team aus Pflegedirektion und Personalleitung habe in Neapel (Italien) über 50 Bewerbungsgespräche geführt. „22 Bewerber wurden ausgewählt und absolvieren seit dem 3. Juli Deutsch-Intensivkurse“, berichtet Andrea Jagode. Ab Mitte Oktober starte im Gesundheitsverbund ein Traineeprogramm für die ausländischen Pflegekräfte in Singen mit fachspezifischem Deutsch, Übungen zum Klinikalltag, Geräteeinweisungen und anderem. Am 31. Mai 2018 müssen sie eine Prüfung absolvieren, bevor sie vom Regierungspräsidium als Gesundheits- und Krankenpfleger anerkannt und auf den Stationen eingesetzt werden können.«
Wohlgemerkt – das ist die Lage in vielen Kliniken unter den derzeit herrschenden Rahmenbedingungen. Wenn man nun die berechtigte Forderung nach mehr Personal aufgreifen würde, in dem die Personalschlüssel entsprechend ausgestaltet werden, dann kann man sich vorstellen, was das an zusätzlichem Personalbedarf auslösen würde, der auch zu decken wäre.
Zugespitzt formuliert: Wie gut, dass es solche Personalschlüssel derzeit nicht gibt, sowohl in der Alten- wie gerade auch in der Krankenhauspflege. Aber genau die werden gefordert, was offensichtlich selbst in der Politik angekommen ist: Merkel »forderte zudem einen neuen Personalschlüssel«, so diese Meldung, damit die Pflegekräfte „mehr Zeit“ haben und auch Schulz hat sich entsprechend positioniert: »Er plädierte für einen bundesweit einheitlichen Pflegeschlüssel«, kann man dem Artikel Schulz verspricht Neustart in der Pflege entnehmen. Für was – für die Altenpflege, für die Krankenhäuser? Es ist leider wesentlich komplizierter als man denken möchte.
Die Diskussion über a) (verbindliche) Personalschlüssel überhaupt und dann b) ordentliche, also den Fachstandards entsprechende Personalschlüssel, wird seit Jahren geführt und von unterschiedlichen Seiten blockiert. Darüber wurde in diesem Blog mehrfach berichtet, vgl. dazu nur die Beiträge Eigentlich könnt ihr zufrieden sein. Oder doch nicht? Eine Studie zur Intensivpflege. Ein Lehrstück zu unterschiedlichen Wahrnehmungen der Pflegewelt vom 28. Juli 2017 sowie Immer diese Studien. Und die so wichtige Kritik daran. Die Intensivpflege in deutschen Krankenhäusern als Beispiel vom 31. August 2017.
Die Krankenhausträger haben hier ein großes Problem – und zugleich bislang erfolgreich Sand ins Getriebe kippen können.
Beispiel: Nach den Plänen der Regierung sollen sich Krankenhäuser und Krankenkassen auf feste Personaluntergrenzen für besonders sensible Klinikbereiche verständigen – beispielsweise in Intensivstationen oder im Nachtdienst. Die Vereinbarung soll bis zum 30. Juni 2018 getroffen und zum 1. Januar 2019 wirksam werden. Allerdings: Lediglich für Intensivstationen für Neugeborene hat der Gemeinsame Bundesausschuss von Klinikträgern und Krankenkassen einen Personalschlüssel festgelegt, der eigentlich ab Anfang 2017 gelten sollte. Die Allgemeinverbindlichkeit sei durch weitgehende Übergangsregelungen kurz vor Inkrafttreten faktisch wieder aufgehoben worden. Erneut gibt es eine mehrjährige „Übergangszeit“ für die Kliniken.
Hier nun dreht sich die Diskussion im Kreis bzw. man erkennt das nicht auflösbare Dilemma zwischen der für sich verständlichen einzelbetrieblichen Sichtweise der Krankenhäuser, die damit argumentieren, dass sie schon heute immer öfter mit Personalbeschaffungsproblemen konfrontiert sind und deshalb noch bessere Personalschlüssel gar nicht erfüllen können, während die gleichsam volkswirtschaftliche Perspektive dahingehend argumentiert, dass es ohne eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen immer weniger notwendige Fachkräfte geben wird.
Und zu den für die Pflegekräfte höchst relevanten Rahmenbedingungen gehört neben der Vergütung auch die Personalausstattung an sich – und genau das spricht wiederum für klare Personalschlüssel, vor allem auch, wenn man – für die stationären Einrichtungen besonders bedeutsam – die strukturellen Veränderungen in der Grundgesamtheit der zu versorgenden Patienten bzw. Bewohner berücksichtigt. So sehen wir in den Pflegeheimen eine Konzentration der Bewohner mit höheren und höchsten Pflegegraden, die dann oftmals auch nur eine sehr begrenzte Zeit in den Heimen verbleiben und in den Krankenhäusern hat sich durch die gewollten Effekte des Fallpauschalensytems bedingt die Pflegeintensität wie auch die Umschlagsgeschwindigkeit der Patienten enorm erhöht, was eine ganz andere Arbeitsbelastung des Pflegepersonals mit sich bringt als noch in den 80er oder 90er Jahren.
Insofern spricht alles für eine notwendige Doppelstrategie einer besseren Vergütung und auch eindeutiger Personalschlüssel in den beiden großen Pflegebereichen.
Dass das was kosten wird, wurde bereits herausgearbeitet. Zur Einordnung der Zahlen: Karl Lauterbach spricht ja bei seiner Forderung nach einer 30prozentigen Anhebung der Vergütung des Pflegepersonals davon, dass das mit einer Anhebung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung in der Größenordnung von 0,5 Prozentpunkten finanzierbar sein. Quantitativ mag das angesichts von kalkuliert mindestens 6 Mrd. Euro Zusatzkosten auch so sein, denn bei Gesamtausgaben der Sozialen Pflegeversicherung in Höhe von 31 Mrd. Euro (2016) bei Einnahmen in Höhe von 32,03 Mrd. Euro würde eine halber Beitragssatz-Prozentpunkt in der Pflegeversicherung zusätzliche 7,2 Mrd. Euro generieren können.
Aber dann stellen sich neue Herausforderungen, denn die Pflege wird ja nicht ausschließlich von der Pflegeversicherung finanziert, die bekanntlich als Teilkaskoversicherung ausgestaltet wurde. Zu den Leistungen der Pflegeversicherung gesellen sich die Eigenbeteiligung des Betroffenen (und ggfs. seiner Angehörigen über die Heranziehung der Kinder) sowie der Sozialämter mit der Hilfe zu Pflege nach dem SGB XII. Wenn man nun den Pflegeheimen statt den bisherigen, auf Länderebene festgelegten und sich unterscheidenden „Richtwerten“ klare Personalbemessungsvorgaben machen würde, dann müsste man auch dafür sorgen, dass die dafür erforderlichen Mittel zweckgebunden für die Personalfinanzierung über die Pflegeversicherung bei den Betroffenen letztlich ankommen.
Und in den Krankenhäusern stellt sich die Situation noch einmal ganz anders dar, denn die werden bei den Betriebskosten über Fallpauschalen finanziert auf Basis der DRGs, ohne eine Zweckbindung einzelner Bestandteile der Pauschale beispielsweise für Pflegekräfte. Wenn man das nicht im System ändert oder ändern kann, dann muss man zwingend klare Personalschlüssel vorgeben und deren Einhaltung auch überprüfen, da ansonsten mehr Geld (das übrigens hier aus der Gesetzlichen Krankenversicherung kommen müsste) möglicherweise für andere Ausgaben verwendet werden, nicht aber für das Pflegepersonal.
Nur eine Anmerkung an dieser Stelle – grundsätzlich, aber auch, weil in vielen aktuellen Medienberichten das alles verengt wird auf eine „Kostensteigerung“: Das ist angesichts der Tatsache, dass wir realistisch zu den heutigen Ausgaben einen Milliardenbetrag im zweistelligen Bereich finanzieren müssten, auch naheliegend, aber volkswirtschaftlich gesehen natürlich nur die halbe Wahrheit, denn die Mittel für die Pflegekräfte sind ja überwiegend deren Lohn und der wird dann wieder umgesetzt in Form kaufkräftiger Nachfrage und es gibt Rückflüsse an den Staat in Form von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen, die man Gegenrechnen müsste.
Man mag an den vorangegangenen Ausführungen erkennen, wie schwierig und anspruchsvoll die Umsetzung eines Neustarts in der Pflegepolitik werden würde, wenn man denn diesen wirklich versuchen wollte. Um nicht missverstanden zu werden – sowohl eine bessere Vergütung wie auch verbindliche und angemessene Personalschlüssel sind von unverzichtbarer Bedeutung, um den Pflegenotstand einzudämmen und langfristig in sein Gegenteil verkehren zu können.
Aber dafür müsste man jetzt richtig loslegen und darf nicht noch weiter Zeit verlieren. Das aber ist leider eher eine Wunschvorstellung, die Realität sieht anders aus.
Beispiel Personalschlüssel für die Altenpflege: Der Gesetzgeber hat im zweiten Pflegestärkungsgesetz einen neuen § 113c SGB XI zur Personalbemessung in Pflegeeinrichtungen eingeführt; danach wird bis zum 30. Juni 2020 die Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben vorgeschrieben.
Man könnte, wenn man schlecht drauf ist, an dieser Stelle auch zu dem Ergebnis kommen, dass das ein weiters Beispiel für das in der Politik durchaus beliebte „auf die lange Bank schieben“-Verhaltens ist. Bis 2020 läuft der Prozess und dann liegt erst einmal nur der Vorschlag für ein Verfahren zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen vor, über dass dann mit allen Akteuren verhandelt werden muss, was natürlich auch noch mal dauern wird. Aber ehrlich gesagt – die Zeit haben wir gar nicht mehr, es muss schnell und energisch gehandelt werden, denn hier geht es um Weichenstellungen, die erst über Jahre hinweg richtig zu wirken beginnen werden (können).